"Guten Morgen Julie." grüßt er sie freundlich, als sie den Raum betritt. "Wie hast du geschlafen?"Sie nimmt die Noten vom Flügel, um sie zu überfliegen.
"Ganz gut." entgegnet sie leise, schaut zu Erik und wendet den Blick sofort wieder irritiert von ihm. Wieso geht das nun schon wieder los? Lucas wird in wenigen Stunden ankommen und sie hatte eigentlich gehofft, dass diese Phase vorbei wäre. Aber seit gestern Abend an ihrer Haustür weiß sie gar nichts mehr. "Hast du noch gearbeitet?"
"Nicht mehr lange. Aber ich habe mir Gedanken gemacht, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, deine Angst zu kurieren. Es kann nicht angehen, dass du jede Nacht allein fast stirbst."
"Aber Lucas kommt doch heute schon wieder... Oh und in Quebec wohnen wir in einer ziemlich hell erleuchteten Straße." wirft sie ein.
"Du solltest dich nicht so von anderen Menschen abhängig machen." Er nimmt am Flügel platz.
Julie zuckt mit den Schultern.
"Und was kann ich deiner Meinung nach tun?"
"Du könntest mir für den Anfang sagen, wovor genau du Angst hast. Vor welchem exakten Moment."
"Wenn es dunkel wird. In dem Augenblick, in dem ich ins Dunkle muss, bekomme ich Panik."
"Warum?"
"Weil da jemand sein könnte..." Sie runzelt die Stirn. "Ich weiß selbst, wie dämlich das klingt..."
Erik schüttelt den Kopf.
"Warum ist dieser jemand erschreckend?"
"Ich weiß nicht... Der letzte Mann, der in der Dunkelheit auf mich gelauert hat, war ziemlich gefährlich..." entgegnet sie und presst die Lippen aufeinander.
"Was hat er dir getan?"
"Das weißt du." Sie deutet auf die Narbe an ihrem Haaransatz.
"Ja, das weiß ich, aber ich will, dass du es mir genau beschreibst. Was ist passiert? Woran erinnerst du dich?"
Julie stöhnt und lässt sich auf den Rand der Klavierbank sinken.
"Ich bin in die Küche gegangen, weil ich dort Geräusche gehört habe. Ich weiß nicht mehr, vielleicht dachte ich einfach nur, dass das Fenster offen steht, und wollte es zumachen. Heute würde ich jedenfalls nicht mehr nach unten gehen. Ich weiß nur noch, dass ich in die Küche gegangen bin und das Licht anmachen wollte. Und dann hat mich Lucas gefunden."
"Du kannst dich also nicht einmal erinnern, wie du niedergeschlagen wurdest." stellt er fest und beginnt, ihren Rücken zu streicheln. "Worauf baust du deine Angst? Darauf, dass du über die Situation keine Kontrolle hattest?"
"Ich habe nicht einmal etwas gesehen." flüstert sie hilflos und schließt die Augen. Es dauert eine Weile bis sie die Angst über diese Erinnerung so weit zurückgedrängt hat, dass sie seine Hand auf ihrem Rücken bemerkt. "Woher weiß ich denn, dass nicht wieder jemand in der Dunkelheit darauf wartet, dass ich komme?"
"Du weißt es nicht. Aber du weißt nie, was als nächstes passieren wird. Oder wann du sterben wirst. Allerdings weißt du, dass ich dir gesagt habe, dass dieses Gelände sicher ist. Und du weißt, dass du diesen einen nächtlichen Angriff mit nicht mehr als einer kleinen Blessur überstanden hast."
"Hm." macht sie "Aber das Wissen hilft mir leider nicht. Ich habe trotzdem Angst." Sie schüttelt den Kopf und lehnt sich leicht gegen seine Schulter.
"Wissen ist das einzige, was dir helfen kann. Deine Angst ist ein Zuviel an Gefühl und zu Wenig an Verstand. Du musst es wieder in ein Gleichgewicht bringen. Durch Rationalisierung. Und Erfahrung."
"Das sagst du so leicht." sie zwingt sich zu einem Lächeln "Ich weiß viel, aber ich kann es nicht umsetzen. Fürchtest du dich denn vor nichts?"
Er mustert sie von der Seite.
"Es... gibt einige sehr große Ängste in meinem Leben." antwortet er dann leise "Aber sie behindern mich nicht so sehr, wie dich deine Angst vor der Dunkelheit behindert."
"Wovor hast du Angst?" Sie hält die Augen fest geschlossen.
"Zum Beispiel davor, dass sich Gabrielle umbringt, obwohl ich alles so richtig gemacht habe, wie ich nur konnte." Er zuckt ein paar Mal mit der Schulter, so dass Julie durchgeschüttelt wird. "Willst du heute noch singen?"
"Natürlich." Julie steht auf und blickt ihn kurz an "Sonst wärst du gestern Abend völlig umsonst zu mir gekommen." Sie bläst die Wangen auf und tippt mit dem Zeigefinger auf den Deckel des Flügels. "Achso... Gabrielle... Sie hat gestern eine ziemliche Menge Geld für mich ausgegeben und sich geweigert, etwas von mir anzunehmen. Ich weiß nicht, mir war das ziemlich unangenehm... "
"So ist Gabrielle, wenn sie hypomanisch ist. Die Phasenprophylaxe gleicht nicht alles aus." er klappt die Tastatur auf "Mach dir keine Gedanken, ihre Kreditkarte hat eine Sperre. Und wenn es sie glücklich macht, dir etwas zu schenken... freu dich einfach darüber. Seite eins, halbes Tempo."

Die Wohnung blitzt und blinkt, als es draußen langsam Abend wird. Julie hat den ganzen Weg zum Schlafzimmer mit Teelichtern ausgelegt, doch als die Dämmerung einsetzt, knipst sie das Licht an. Er verspätet sich. Fast eine Stunde lang liegt sie, nur in Korsett und Bluse gehüllt, auf den Bett und liest, bis sich unten endlich der Schüssel im Schloss dreht.
Aufgeregt reißt sie die Bluse von sich und wirft sie in eine Ecke des Zimmers. Ein kurzer Blick zum Fenster... Die Vorhänge sind zu gezogen.
"Julie?"
Sie schluckt schwer und spürt, wie ihr das Herz bis zum Hals schlägt.
„Ich bin hier oben."
Lucas stellt den Koffer ab und stöhnt. Dann sind seine Schritte auf der Treppe zu hören. Oben angekommen lässt er seinen Blick kurz durch das Schlafzimmer streifen, dann verharrt er auf Julie, misst sie von oben bis unten. Seine Augenbraue zuckt.
"Was soll das ganze Theater hier?"
Etwas in ihr schnappt ein. Theater? Sie macht das alles nur für ihn, um ihm zu gefallen, damit es endlich wieder so wird, wie in der Zeit, bevor sie dieses Angebot bekommen hatund er nennt es 'Theater'?
Sie richtet sich auf und blickt ihn mit großen Augen an.
"Gefällt es dir nicht?" fragt sie leise.
Er kommt nicht zu ihr, starrt nur auf die Korsage, die Strapse...
"Ich bin heute morgen um sieben Uhr in ein Flugzeug gestiegen, nur um bei dir zu sein. Ich habe den beschissensten Jetlag, den du dir vorstellen kannst, und du hast nichts besseres zu tun als das Haus und dieses Zimmer hier in... in..." er überlegt aufgebracht "Einen Puff zu verwandeln?"
Julie springt auf und macht ein paar Schritte auf ihn zu.
"Lucas, aber ich wollte doch nur..."
"Was? Hast du dich schon mal angesehen?" Er schüttelt angewidert den Kopf. "Wie kommst du nurauf die Idee, dass mich das irgendwie erregen könnte, wenn meine Freundin aussieht, wie irgendeine Nutte vom Bahnhofstrich?"
Julie schluckt und kämpft mühsam gegen die Tränen an, die in ihren Augen drücken. Seine Worte treffen sie wie Schläge.
"Ich habe doch nur versucht..."
"Mir den Abend zu verderben?" unterbricht er sie wütend. "Großartig... Wirklich großartig! Was machen diese Leute hier aus dir, ich erkenne dich nicht mehr wieder."
Sie versucht, ihn zu berühren, doch er wendet sich ab und geht die Treppe nach unten.
"Lucas bleib hier! Bitte!" schluchzte sie und tapst auf zitternden Beinen hinter ihm her.
"Ich brauche ganz dringend frische Luft!" brummt er, packt seine Jacke, die auf dem Sofa liegt und reißt die Haustür auf.
Julie erstarrt.
"Bitte, Lucas, geh nicht! Lass mich nicht allein!" fleht sie unter Tränen. Doch er dreht sich nur noch einmal um, um ihr einen wütenden Blick zuzuwerfen.
"Werd wieder normal!" Dann verschwindet er.
Sie läuft hinter ihm her und bleibt am Türrahmen stehen. Dunkelheit... schwarze Nacht ohne einen einzigen Stern. Er weiß ganz genau, dass sie ihm nicht folgen kann.
"Lucas, bitte komm zurück! Lass uns doch reden, bitte! Lass mich nicht allein!" ruft sie hinter ihm her. Nichts geschieht. Langsam schließt sie die Tür, verkantet den Küchenstuhl unter dem Griff und wischt sich dann die Tränen aus dem Gesicht. Mit zwei Fingern löscht sie jedes einzelne Teelicht auf ihrem Weg ins Schlafzimmer, wo sie sich hastig aus dem Korsett schält und ihr Lieblings-T-Shirt überstreift.
In der Küche macht sie sich ein Honigbrot und kauert sich dann auf dem Sofa zusammen. Dieser Abend hätte so schön werden können.

Er ist stundelang über das Grundstück geirrt. Am Ende hat er sich einfach auf einem Hügel fallen gelassen und den sternenlosen Himmel angesehen. Sie muss fürchterliche Angst haben, wo sie ihm doch nicht folgen kann. Aber was bringt sie auch dazu, sich so ein Ding anzuziehen und zu glauben, es könnte ihm gefallen? Das ist nicht Julie... jedenfalls nicht die Julie, die er schon aus dem Sandkasten kennt. Es muss an diesen Leuten hier liegen. Sie verderben sie. Gabrielle und dieser nachnamenlose Typ... Aber er kann Julie nicht länger allein lassen in der Dunkelheit. Er ist für sie verantwortlich, es ist seine Aufgabe, sie zu beschützen. Außerdem beginnt es zu regnen.
Langsam macht er sich auf den Weg zurück zum Gästehaus. Im Wohnzimmer brennt Licht. Er seufzt erleichtert, dreht den Schlüssel imSchloss und rüttelt an der Klinke... Nichts passiert. Sie hat wohl wieder einen Stuhl darunter verkantet. Er geht zurück zu dem großen Wohnzimmerfenster und entdeckt Julie auf dem Sofa, wo sie wie ein Embryo zusammengekauert liegt und zu schlafen scheint. Sie trägt ihr T-Shirt mit dem gestörten Eichhörnchen. Dieses Ding hat er schon immer gehasst, aber er sieht sie doch lieber darin als in einer Korsage. Auf dem Tisch und Fußboden liegen vereinzelt Taschentücher. Er seufzt. Wenn er sie jetzt weckt, erschreckt sie sich zu Tode.
Er wendet sich ab und sieht sich um. Der Regen ist stärker geworden. Wenn er nicht die ganze Nacht hier draußen verbringen will, muss er wohl über seinen Schatten springen...
So geht er zum Haupthaus und klingelt.

Erik wendet er sich vom Fenster ab und geht betont langsam ins Foyer hinunter. Er hat zufällig mitangesehen, wie die Tür des Gästehauses aufgerissen wurde und Lucas hinausstapfte. Im Lichtschein, der aus dem Flur fiel, konnte er Julie erkennen, gekleidet in etwas, das nur die Korsage sein konnte, die sie mit Gabrielle gekauft hat. Ganz offensichtlich missfällt es ihrem Freund, dass sie sich selbst ausprobieren will. Und zwar missfällt es ihm so sehr, dass er keine Rücksicht mehr darauf nehmen wollte, dass Julie sich allein im Dunkeln fürchtet. Eriks erster Impuls in diesem Moment war, zum Gästehaus zu gehen und sich zu ihr zu setzen, doch er will nicht den Eindruck erwecken, sie zu kontrollieren, und er will sich auch nicht mitten in diesen Beziehungsstreit stellen, der sich - da ist er sicher - nicht in Julies freizügiger Kleidung erschöpft.
Als er die Tür des Hauptgebäudes aufreißt, kann er seine Wut auf Lucas kaum verbergen.
"Guten Abend." grüßt er kühl.
Lucas zuckt erschrocken zurück. Das ist er also. Der nachnamenlose Kerl, der seine Freundin unterrichtet. Wesentlich größer, dürrer und dunkler, als Julie ihn beschrieben hat.
"Guten Abend... Sie sind Erik?" fragt er angespannt und reibt sich den Nacken.
"Das bin ich. Und Sie müssen Monsieur Oliver sein..." Erik lehnt sich mit der Schulter gegen den noch geschlossenen rechten Türflügel "Welchem Umstand verdanke ich diese späte Störung?"
"Verzeihen Sie, ich... ich weiß nicht, wie ich essagen soll." druckst Lucas herum und schaut betreten zu Boden. "Julie und ich hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit und jetzt schläft sie und ich komme nicht mehr ins Haus..." Zögernd hebt er den Blick wieder "Sie hat Angst im Dunkeln und nun ist ein Stuhl unter der Türklinke verkantet und ich komme nicht mehr rein. Ich möchte sie jetzt nicht wecken, sie würde sich zu Tode ängstigen."
"Wie rücksichtsvoll von Ihnen." Eriks Stimme trieft vor Sarkasmus. "Ich nehme an, Sie möchten um Obdach für die Nacht bitten?"
"Nun, wenn Sie vielleicht ein Sofa hätten?" Für eine Sekunde fragt Lucas sich, ob Erik etwas von ihrem Streit mitbekommen haben könnte. Vielleicht hätte er Julie doch besser wecken sollen, statt hier mit diesem Kerl zu reden.
"Es gibt ein Gästezimmer. Folgen Sie mir."
Als sie den Flur hinter der Rezeption entlanggehen, kommt Gabrielle aus ihrem Zimmer und reibt sich verschlafen über Gesicht und Stoppelhaar.
"Was ist passiert? Ist was mit Julie?" Als sie Lucas hinter Erik entdeckt, zuckt sie erschrocken zusammen und zieht sich in die Dunkelheit hinter ihrer Zimmertür zurück.
"Monsieur Oliver hat sich ausgesperrt, ich gebe ihm das Gästezimmer. Geh wieder ins Bett, es ist alles in Ordnung." erklärt Erik.
Einen Augenblick lang starrt Lucas mit weit aufgerissenen Augen auf die dürre Silhouette im Türspalt. Ein schwarzes Rüschennachthemd... Er kann sich denken, wer Julie die Sache mit dem Korsett eingeredet hat. Und was zur Hölle ist mit Gabrielles Haaren passiert? Er blickt von der Tür zu Erik, dann wieder zu dem dunklen Zimmer.
"Das ist wirklich sehr nett von Ihnen." murmelt er leise "Ich hoffe, ich mache Ihnen nicht allzu große Umstände..."
"Nichtdoch. Julies Freunde sind meine Freunde. Et voilà..." Erik öffnet die Tür zum Gästezimmer und tritt ein "Laken und Bezüge finden Sie im Schrank." erklärt er, während er die zwei großen Fenster zum Lüften kippt. Mit vor den Armen gekreuzter Brust bleibt er dann in der Tür stehen und mustert den durchnässten Jungen unbarmherzig "Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?"
"Ich... ich denke, ich werde zurechtkommen. Es ist ja nur für diese Nacht, morgen früh werde ich mit Julie reden." Wenn der Typ bloß endlich verschwinden würde. Vielleicht sollte er das Zimmer abschließen, bevor er ins Bett geht.
"Schlafen Sie wohl." Damit zieht Erik die Tür hinter sich zu und geht in sein Zimmer hinunter, um auf den Stamm einzuschlagen, bis er sich soweit beruhigt hat, dass an Schlaf zu denken ist.

Er hat sich gerade die Decke über den Kopf gezogen, als es an seiner Tür klopft.
"Erik?"
Er unterdrückt ein genervtes Knurren.
"Was ist, Gabrielle?"
"Ich kann nicht wieder einschlafen."
"Hast du Schafe gezählt?"
"Lass mich rein, bitte! Ich... ich hab auch meine eigene Bettdecke mitgebracht, du brauchst die andere gar nicht rauszuholen..."
"Ist ja schon gut. Komm rein."
"Danke."
Die Tür geht auf und wieder zu, er hört das Tapsen nackter Füße, dann stößt ihm Gabrielles Knie gegen die Rippen. Er stöhnt leise auf.
"Oh, ach da bist du... Tschuldigung."
Gabrielles Decke fegt ihm über das Gesicht, dann geht ein endloses Kramen los, bis seine Schwester alles zu ihrer Zufriedenheit eingerichtet hat.
"Warum ist Julies Freund hier?" fragt sie dann.
"Das sagte ich doch. Er hat sich ausgesperrt. Er ist aus dem Haus gegangen und Julie hat die Tür verrammelt."
"Haben sie sich gezankt?"
"Ja."
"Warum?"
"Weil Lucas ein Idiot ist."
"Ah... Kraulst du mir den Rücken?"
"Hältst du still und hörst auf, mich auszufragen?"
"Mhm." sie nickt und wälzt sich herum. "Nicht da, tiefer... noch ein bisschen... noch ein bisschen... jaaa, genau da..."
Erik lächelt unwillkürlich und legt sich bequemer hin.
"Bist du sicher, dass du nicht in einem früheren Leben eine Katze warst?"
"Ich war bestimmt eine... Oooh, ja, das ist guuut..."
Es dauert eine ganze Weile, bis sich Gabrielle in den Schlaf geschnurrt hat und Erik seine mittlerweile taub gewordene Hand ausschütteln und sich zum Schlafen auf die andere Seite drehen kann.

Lucas verzieht angewidert das Gesicht. Der Typ muss Geld ohne Ende haben, trotzdem ist die verdammte Wand nicht dick genug, um zu verhindern, dass er hört, was drüben gesprochen wird. Er nimmt das Kissen und schlägt es über seine Ohren. Er will sich gar nicht vorstellen, was genau die beiden gerade anstellen. Ein kranker Haufen ist das hier; und Julie wird ihnen langsam ähnlich, obwohl sie noch keine zwei Wochen hier ist.

Am nächsten Morgen schreckt Lucas auf, weil es an der Tür klopft. Es dauert eine ganze Weile bis er sich erinnert, was gestern passiert ist.
"Moment." grunzt er und wühlt sich aus den Laken. Er hat kaum geschlafen und fühlt sich wie gerädert. Langsam dreht er den Schlüssel und öffnet die Tür in der Hoffnung, dass es nicht Erik ist, der klopft.
Tatsächlich ist es Gabrielle - mit langen blonden Haaren. Ihm fällt ein, wie sie in der letzten Nacht aussah, und er runzelt die Stirn.
"Guten Morgen." murmelt er verschlafen.
"Hallo." Gabrielle lächelt ihn mit großen Augen scheu an "Möchtest du frühstücken? Ich hab den Tisch gedeckt."
Lucas kräuselt die Oberlippe. Ist das die gleiche Frau, die die letzte Nacht im Bett ihres Bruder verbracht und ihn förmlich rausgeworfen hat, als er Julie das erste Mal hierher begleitete?
"Frühstücken?" wiederholt er irritiert "Ich weiß nicht... ich habe gestern Abend schon gesagt, dass ich Ihnen nicht weiter zur Last fallen will." Und eigentlich hat er auch überhaupt keine Lust auf ein Frühstück mit diesen beiden Freaks.
"Der Tisch ist schon gedeckt." Gabrielle stützt ihre Hände auf die Hüften und mustert Lucas' nackten Oberkörper mit schief gelegtem Kopf. Dann schaut sie ihm in die Augen. Er kann sie nicht leiden... das konnte er noch nie... es liegt also nicht an ihren Haaren... Dann ist es sein Problem. "Komm oder lass es. Zweite Tür rechts auf der gegenüberliegenden Seite." Sie dreht sich auf den Hacken um und stolziert in die Küche, um sich einen Hagebuttentee zu kochen.
Lucas rümpft die Nase und schließt die Tür. Nachdem er sich angezogen und das Bett ordentlich aufgeschlagen hat, entschließt er sich, aus reiner Neugier, Gabrielles Einladung doch nochanzunehmen.
Er klopft leicht an die Tür.
"Was? Ach..." Gabrielle beugt sich zur Seite und zieht die Küchentür ganz auf, dann lehnt sie sich wieder mit dem Bauch an die Arbeitsplatte und schaufelt mit einem winzigen Löffel Zucker in ihren Tee. "Komm rein. Ich hab auf der Terrasse gedeckt, in der Sonne."
Zögerlich betritt Lucas die Küche und mustert Gabrielle.
"Kann ich Ihnen noch bei irgendetwas helfen?"
"Nein. Doch. Nimm die Obstschale mit raus." Sie nimmt ihren Tee in die eine und ihren Therapieplan in die andere Hand und geht voraus.
Lucas schnappt sich die Schale und folgt Gabrielle. Sie sieht irritierend ungefährlich aus - ganz im Gegensatz zu letzter Nacht.
Julie hat nicht sonderlich viel über Gabrielle erzählt, seit sie mit ihr in Brüssel war. Eigentlich ist diese Fähigkeit, tatsächlich für sich zu behalten, was man ihr anvertraut, etwas, das er schon immer an seiner Freundin geschätzt hat; doch jetzt wünscht er sich, er wüsste mehr über Eriks merkwürdige Schwester. Nachdenklich setzt er sich auf einen der Stühle und sieht sich um.
"Meinen Sie, ich sehe Julie noch vor Ihrer Stunde?"
"Es ist kurz nach sieben, ihre Stunde ist um neun." Gabrielle setzt sich, dann schreibt sie ihren Serumspiegel in den Plan und macht ein entsprechendes Kreuz in das Diagramm. "Wie sauer du sie gestern gemacht hast, weißt du besser als ich. Aber vielleicht redet sie nie wieder mit dir." Zufrieden über diesen Seitenhieb gibt sie ihrer Laune für den heutigen Morgen glatte sieben Punkte.
Lucas schiebt die Unterlippe vor und starrt Gabrielle verärgert an.
"Julie hat sich bis jetzt immer wieder eingekriegt." brummt er und wippt unruhig mit dem Fuß.
"Dein Glück, hah?" macht Gabrielle spöttisch. Nachtschlaf... drei Punkte - Störung, Wiedereinschlafschwierigkeiten.
"Was wissen Sie schon!" schnappt er ärgerlich und betrachtet seine Hände. Der Ring, den er und Julie seit dem fünften Jahrestag ihrer Beziehung tragen, hat einen Kratzer. Er reibt mit dem Daumen darüber.
"Ich habe mich lange mit Julie unterhalten." Gabrielle schaut ihn an. 'Klette!' denkt sie, so laut sie kann. Appetit... vier Punkte. Sie nimmt sich eine Banane aus dem Obstkorb und schält sie genüsslich.
'So ein Unsinn.' Julie würde mit niemandem über ihre Beziehung reden. Mit niemandem! Er reibt den Ring etwas heftiger.
Eine Bewegung am Waldrand lässt Gabrielle den Kopf drehen. Es ist Julie, die sich beeilt, unentdeckt an der Terrasse vorbeizukommen. Gabrielle grinst.
"Was ist mit deinem Ring?" fragt sie Lucas hastig. Dosis... neun Uhr, zweimal Prophylaxe. "Wichtig, dran denken..." murmelt sie dann leise zu sich selber und malt die Zahlen mit dem Stift doppelt nach.
"Was soll damit sein?" faucht Lucas gereizt und schießt den Ring über den Tisch. Mit einem leisen Fluch greift er ihn und steckt ihn sich wieder an den Finger. Julies Ring... alles wird wieder gut.
"Ich weiß nicht." Sie klappt den Therapieplan zu, lehnt sich vor und pustet die Dampfwolken von ihrem Tee. "Du fummelst wie besessen dran rum."
Lucas zuckt gleichgültig mit den Schultern. Das sagt jemand der die ganze Zeit über Daten in einen Plan kritzelt...
"Vielleicht sollte ich gleich zu ihr gehen." überlegt er laut.
"Du hast noch gar nichts gegessen."
"Ich habe keinen Hunger." entgegnet er genervt. Nicht mehr... Er muss mit Julie reden. Irgendwie. Und wenn er die Tür aufbrechen muss.
"Auf wen bist du jetzt sauer? Auf mich oder auf dich?" fragt Gabrielle spitz.
Ohne auf die Fragezu reagieren, steht Lucas auf und geht.
Kopfschüttelnd schaut Gabrielle ihm nach.
"Also, so werden wir bestimmt keine Freunde." murrt sie vor sich hin. Dann stopft sie sich eine Erdbeere in den Mund und läuft Julie nach.

Als Lucas das Haus erreicht, ist die Tür nicht mehr verbarrikadiert und er kommt ohne Schwierigkeiten hinein. Julies T-Shirt und das Korsett liegen auf dem Bett, in dem sie die ganze Nacht nicht geschlafen zu haben scheint. Von ihr selbst aber fehlt jede Spur. Ärgerlich steigt er wieder von der Galerie herunter und lässt sich ein Bad ein.

'Von hier aus hat man tatsächlich einen sehr schönen Blick.' denkt sie, legt den Kopf zurück ins Gras und starrt den Himmel an. Noch über eine Stunde bis zu ihrem Unterricht. Sie weiß nicht, wo Lucas die Nacht verbracht hat, aber im Augenblick ist ihr das auch egal, so lange sie ihm nicht über den Weg läuft.
"Huhu." mit einem breiten Lächeln betritt Gabrielle den Hügel und lässt sich neben Julie ins Gras fallen.
Die wälzt sich auf die Seit und zwingt sich zu einem Lächeln.
"Ist er bei euch?" fragt sie leise.
"Er hat bei uns geschlafen und dann nichts gegessen, obwohl ich extra auf der Terrasse gedeckt habe. Er hätte dich fast gesehen, als du in Wald raus bist, aber ich hab ihn abgelenkt." Gabrielle lässt sich auf den Rücken sinken. "Lucas ist komisch."
"Er hasst das Korsett..." murmelt Julie tonlos und zupft einen Grashalm aus der Wiese. "Er war total entsetzt, weil ich es getragen habe..."
"Oh." schuldbewusst dreht Gabrielle den Kopf zu ihr "Das tut mir leid, ich wollte nicht, dass du dich deswegen mit Lucas streiten musst."
Julie winkt ab und seufzt.
"Das hat nichts mit dir zu tun. Ich wollte das Ding kaufen und zu tragen. Aber ich hätte wissen müssen, dass er so reagiert."
"Hm. Warum hast du es dann angezogen?"
"Weil ich alt genug bin, um selbst meine Entscheidungen treffen zu können. Mein Gott, was stellt der sich auch so an... Wenn er einfach gesagt hätte, dass er es nicht mag..." Sie schnippt den Grashalm weg. "Aber behalten werde ich es trotzdem. Falls ich mich von Lucas trennen sollte... wer weiß, vielleicht steht irgendjemand anderes auf Korsetts." Sie grinst schief. "Er hat euch gestern Nacht geweckt, oder?"
"Ja, und Erik war ziemlich sauer. Er hat gesagt, dass ihr gezankt habt, weil Lucas ein Idiot ist."
Julie verzieht das Gesicht.
"Tut mir leid, dass wir euch da reingezogen haben." Hoffentlich hat Erik deshalb heute nicht auch noch schlechte Laune. Eigentlich hatte sie sich auf die Stunde bei ihm gefreut.
"Ach was." Gabrielle winkt ab "Lucas kann Erik und mich eh nicht leiden, da macht das wirklich keinen Unterschied mehr."
"Hat er das gesagt?" fragt Julie erschrocken und richtet sich auf. Sie wird ihn umbringen, wenn er ihr heute noch einmal begegnet!
"Nein, aber so geguckt als wollte er."
Julie grunzt verärgert.
"Lucas ist in manchen Dingen wirklich unsensibel. Vielleicht meint er es auch nicht so..." Sie zuckt mit den Schultern. "Egal was er denkt, davon lass ich mich nicht beeinflussen... Vielleicht hat er sich bis heute Abend schon wieder einigermaßen beruhigt, aber im Augenblick will ich ihm nicht über den Weg laufen."
"Dann solltest du mit mir zum Haupthaus gehen. Ich kenne einen Umweg durch Eriks Keller." Gabrielle steckt unternehmungslustig ihre Arme in den Himmel. "Wir hüpfen wie die Elfen im stealth mode durch den Wald."
Julie lächelt.
"Das klingt gut. Ich habe nämlich wirklich keine Lust darauf, mir von Lucas die Stunde verderben zu lassen."
"Gut." Gabrielle dreht sich auf den Bauch und beginnt, mit ihren abgewinkelten Beinen zu wippen. "Hat das Korsett wenigstens gut gepasst?"
"Ja, hat es." Julie reckt sich. "Wenn wir das nächste Mal nach Brüssel fahren, könntest du auch mal eins anprobieren. Du musst es ja nicht kaufen."
"Mal gucken." Gabrielle lächelt unsicher mit dem halben Mund. Aber wenn Julie mit ihrer Krankheit so gut umgehen kann, findet sie vielleicht auch die Sachen nicht so schlimm, die sie sehen wird, wenn Gabrielle nur eine Korsage am Oberkörper trägt. "Ich kann auch was für dich nähen." Gabrielle kichert leise "Wir können Verkleiden spielen."
"Mach dir bloß keine Umstände. Oh, wenn du magst, bringe ich dir ein Paar Socken vorbei, wenn sie fertig sind." Wenn Lucas und Erik ihr die Zeit zum Stricken lassen...
Gabrielle runzelt die Stirn.
"Das wäre Spaß. Ein Spiel, verstehst du? Ich würde gerne was für dich nähen. Wir machen zusammen ein Schnittmuster." Sie zupft einen Grashalm aus der Wiese "Socken stricken kann ich nicht. Bringst dus mir bei? Ich hab Schuhgröße siebenunddreißig. Wie sehen die Socken aus?"
"Bunt... nicht besonders schön, aber sie halten warm." Julie schmunzelt "Ich bekomme abends immer kalte Füße und irgendjemand hat mal gesagt, dass nur selbstgestrickte Sachen warm halten." Sie zuckt mit den Schultern. "Klar kann ich dir das beibringen. Die meisten Leute halten es für schwerer als es eigentlich ist."
"Schön. Und mit dem Nähen gucken wir mal, ja?" Gabrielle schaut auf die Sonne, dann auf die Bäume und noch einmal auf die Sonne "Wir sollten jetzt los, sonst kommst du zu spät."