"So, hier runter..."
Gabrielle öffnet unter Aufbietung all ihrer Kräfte eine
Falltüre, die sich ungefähr zehn Meter vom Waldrand
entfernt im Gebüsch befindet.Julie
wartet hinter ihr und wirft immer wieder kurze Blick über die
Schulter. Lucas scheint sich tatsächlich irgendwo zum Schmollenverkrochen zu haben.
"Da rein?"
"Ja, da gehts ins Haus. Komm."
Gabrielle steigt die ersten Stufen der Treppe hinunter. "Der
Gang ist nicht so eng und auch gar nicht so lang."
"Kannst du bitte erst mal das
Licht anmachen?" fragt Julie leise und schaut entsetzt in die
Dunkelheit, in der Gabrielle zu verschwinden droht.
Die dreht sich erstaunt um.
"Du hast Angst im Dunkeln? Ich nur
ganz selten. Moment..." Sie verschwindet in dem Gang; Sekunden
später geht eine schummrige Beleuchtung an. "So. Komm
runter, ich mach die Tür zu, das geht etwas schwer."
Zögerlich
steigt Julie die Treppe nach unten. Ein Keller... und einganz gewöhnlicher Kellergang... Sie schließt
die Augen, bis Gabrielle wieder an ihrer Seite steht.
"Soll ich dich an die Hand
nehmen?"
Julie schüttelt den Kopf.
"Nein, geht schon. Ist ja nicht
völlig dunkel hier." Sie zwingt sich zu einem Lächeln.
"Also dann, spiel das Alphatierchen."
"Gut." Gabrielle legt den
Finger an den Mund "Und jetzt sind wir beide ganz leise und
hoffen, dass Erik nicht da ist."
"Wird er wütend, wenn er uns
hier erwischt?" flüstert Julie und hält die Luft an,
um Gabrielle auf Zehenspitzen zu folgen.
"Oh, er wird mir den Kopf abreißen
und mein Hirn durch Atlas und Axis raussaugen. Aber er ist um diese
Zeit meistens im Instrumentenraum und arbeitet."
Julie runzelt die Stirn und bemüht
sich, kein Geräusch zu machen. Noch mehr Stress kann sie an
diesem Tag wirklich nicht gebrauchen.
Vorsichtig öffnet Gabrielle die
schwarze Tür am Ende des Ganges.
"Erik?" ruft sie laut "Bist
du da?" Sie lauscht kurz "Nein, der Minotaurus ist
ausgeflogen." meint sie schließlich. "Komm."
Julie
zieht den Kopf zwischen die Schultern, als erwarte sie, dass Erik
doch noch irgendwo sitzt. Dann reißt sie die Augen auf. Vor ihr
liegtein hoher Raum, der sichsechseckig unter einem Großteil des Hauptgebäudes
erstrecken muss. An einer der nachtblauen Wände hängt ein
Katana, ein paar Meter davor,zwischen Decke und Boden geklemmt, befindet sich ein
dicker Baumstamm, der anscheinend schon des öfteren unter der
Waffe gelitten hat. An einer anderen Wand steht eine große
Orgel, an einer weiteren ein riesiges Aquarium mit vier armlangen
rot-schwarzen Koi-Karpfen. Sie dreht sich einmal um sich selbst. Ein
schwarzerFuton,
dahinter ein dunklerWandteppich mit einer ägyptischen Opferszene.
Unzählige, vollgestopfte Bücherregale... Jetzt versteht
sie, warum Gabrielle ein Donnerwetter befürchtet hat. Dieses
Zimmer ist anscheinend Eriks Heiligtum.
Julie stößt ruckartig die
Luft aus ihren Lungen.
"Dein Bruder hat Geschmack..."
murmelt sie dann beeindruckt.
"Oh ja. Ich hab schon gesagt, wenn
er vor mir stirbt, krieg ich sein Zimmer. "Mh! Komm..." sie
nimmt Julies Hand und zerrt sie hinter sich her zu einer mit
Holztüren verschlossenen Nische. "Voilà..." sie
öffnet die Türen. "Seine Masken."
Julie
wirft einen Blick über Gabrielles Schulter. Eine Sammlung von
Stückenaus allen möglichen Kulturen in allen erdenkliche
Farben und Formen. Sie runzelt die Stirn.
"Er trägt seine Maske
ständig, oder?"
"Oh, nein, wenn wir alleine sind,
zieht er sie meistens aus."
Julie lacht leise.
"Es gibt also doch jemanden, der
weiß, wie er aussieht?" Was die Maske betrifft hat er wohl
wirklich einen Spleen. Sie räuspert sich. "Ich nehme nicht
an, dass jemand außer seiner Familie jemals die Chance hat, ihn
ohne das Ding zu sehen?"
Gabrielle zieht ihren Mund zu einem
gezwungenen Grinsen in die Breite.
"Nur unter Einsatz körperlicher
Gewalt. Aber glaub mir, du verpasst nichts, wirklich... Die da..."
ihr Finger deutet übereifrig auf eine weiße Maske mit
knallbunten Ornamenten "... hab übrigens ich gemacht."
Dann knallt sie die Türen wieder zu "Jetzt aber raus hier,
du kommst noch zu spät."
Mit
schnellen Schritten folgt Julie Gabrielle, bis sie hinter einer
Treppein einem ihr vertrauten Flur im privaten Teil des Hauses
herauskommen. Sie winkt Gabrielle zu und hastet dann weiter zum
Musikzimmer. Nach einem kurzen Klopfen tritt sie ein.
"Guten Morgen"
"Ah, da bist du ja." Erik
legt seinen Federhalter und die Notenblätter bei Seite und
mustert Julie kurz "Bereit für deinen Unterricht?"
"Natürlich."
"Deine Stütze wird langsam
besser." meint Erik vier Stunden später. "Ich würde
sagen, das reicht für heute."
"Schon?" Julie seufzt. Die
Zeit ist viel schneller vergangen, als sie gehofft hatte, und nun
wird sie bald Lucas treffen müssen. Sie sinkt auf die
Klavierbank. "Wann denkst du, bin ich soweit, dass wir mit dem
Soundtrack anfangen können?"
Erik zögert. Julie hat jetzt neun
Unterrichtseinheiten hinter sich und bereits enorme Fortschritte
gemacht, aber der entscheidende Durchbruch, auf den er gehofft hat,
ist ihr noch nicht gelungen. Langsam beginnt er sich zu fragen, ob er
sich nicht vielleicht einem Hirngespinst aufgesessen ist. Aber er
hört es jedes Mal, wenn sie singt; da ist etwas... etwas
sonderbar vertrautes, altes, und er weiß sicher, dass sich die
wahre Größe ihrer Stimme noch verbirgt... Nun, ihm bleibt
noch eine knappe Woche, sie hervorzukitzeln, wenn er sich einen
breiten Zeitrahmen für die Aufnahmen offen halten will.
"Morgen werden wir das erste Stück
proben." antwortet er dann. Vielleicht wird das gefühlvolle
Singen ihre Technik weiter triggern. Das eine beeinflusst immer das
andere.
"Wie klingt die Musik, die ich
singen muss? Ruhig?" Julie schaut ihn interessiert an und
verschränkt die Arme vor der Brust.
"Einen Teil des Soundtracks hast
du schon gehört. 'Fille noire' ist allerdings das einzige Stück
in diesem Stil. Das zweite, für das deine Stimme gebraucht wird,
'Belong', hat Rock-Elemente." er schnaubt leise "Ich stehe
dem skeptisch gegenüber, aber die Leute vom Film wollen
elektrische Instrumente und ein Schlagzeug, also bekommen sie es. Das
dritte Stück, 'In the Dark', ist eine Art Ballade, getragen,
schmerzlich, ich singe den Background."
"Kannst mir das auf dem Flügel
vorspielen?" Sie heftet die Augen schnell auf die Klaviatur, als
sich ihre Blicke treffen.
Erik seufzt.
"Wenn du mir sagst, warum du mir
noch immer ausweichst. Was habe ich getan? Du sagst, du hast keine
Angst vor mir, aber..." er hebt ein wenig hilflos die Arme "...
welchen Grund hat es dann, dass du so fahrig bist?"
"Ich...
ich weiche dir nicht aus!" stottert sie und beißt sich auf
die Zunge. "Ich bin nurin letzter Zeit ziemlich durcheinander... Bisher hab ich
nie eine solche Chance bekommen und du bist der erste, der wirklich
an mich glaubt. Und ich hätte nicht gedacht, dass ich
deinetwegen plötzlich Stress mit Lucas habe..." Sie seufzt.
"Meinetwegen?"
Julie runzelt die Stirn.
"Naja, nicht direkt. Irgendwie ist
der Wurm drin seit dem Tag, an dem meine Agentin angerufen und mir
von der Audition bei dir erzählt hat. Lucas zickt seitdem fast
täglich wegen irgendwelchen Kleinigkeiten herum..." Sie
zuckt mit den Schultern. "Ich versteh die Welt nicht mehr..."
Erik nickt langsam, dann geht er zu
Julie und schaut sie ernst an.
"Krieg den Kopf klar. Es ist mir
egal wie du das anstellst, aber krieg ihn klar. Ich kann dich
unterrichten wie ich will, aber wenn du dabei mit tausend anderen
Sachen beschäftigt bist, wird das immer ein Hindernis sein."
Er streicht ihr kurz über den Rücken "Geh und sprich
mit Lucas." zwingt er sich dann zu sagen "Klär das
zwischen euch. Wir sehen uns morgen um neun."
Julie beißt sich auf die Lippe.
Wie soll sie etwas klären, wenn nicht einmal sie selbst
versteht, warum sie wirklich so verwirrt ist. Sie hat keine Ahnung,
warum sie in Eriks Gegenwart nervös wird, seinem Blick nicht
standhalten kann. Sie ist schließlich in einer ernsthaften
Beziehung und vor zweieinhalb Wochen war noch alles bestens!
Seufzend nickt sie.
"Tut
mir leid, dass dichmein Gefühlschaos zurückwirft." murmelt sie
leise und verzieht das Gesicht.
"Das wird schon." er berührt
sacht ihr Kinn "Jetzt kümmere dich um deinen Freund."
Mit einem traurigen Lächeln nimmt
sie ihre Tasche.
Erik schaut er nach. Und für einen
kurzen, einen sehr kurzen Moment hat er das Gefühl, dass er
Lucas töten und Julie für immer festhalten will.
Lucas hat sich mit seinem Notebook auf
dem Sofa breit gemacht. Er schaut kurz auf, als Julie eintritt, und
runzelt die Stirn.
"Lucas, wir müssen reden..."
Er schluckt und schiebt das Notebook
zur Seite.
"Das denke ich auch." Er legt
traurig den Kopf schief, ohne sie aus den Augen zu lassen.
"Was...
was ist hiereigentlich los?" Sie nimmt neben ihm Platz und sie
ihn ernst an.
"Ich
hatte gehofft, dass du
mir das sagst. Ich erkenne dich nicht mehr wieder. Du fliegst Hals
über Kopf auf einen anderen Kontinent und sagst mir dann am
Telefon, dass du so schnell nicht mehr zurückkommst. Du lässt
deine Freunde und deine Familie einfach zurück und ..."
"Bist
ausnahmsweise mal vollkommen egoistisch. Danke, Lucas, genau das
wollte ich hören! Du hast mir gesagt, dass du mich unterstützt.
Und jetzt, wo es endlich mal besser läuft, lässt du mich
einfachim Stich und machst mir nur noch Vorwürfe." Sie
legt ihre Hand auf seine. "Ich werde das hier nicht aufgeben.
Ich habe einen Vertrag unterschrieben und ich fühle mich wohl
damit. Nur weil du..."
"Es geht nicht um irgendeinen
Vertrag oder darum, dass du endlich Erfolg hast." unterbricht er
sie ärgerlich "Merkst du denn nicht, dass überhaupt
nichts mehr stimmt? Du willst mich nicht mehr in deiner Nähe
haben, abends bist du halbtot und redest kaum ein Wort mit mir, und
gestern... das liegt an diesen Leuten hier... du wirst vollkommen
verdorben..."
"Hier
verdirbt mich überhaupt niemand!" Sie ziehtihre Hand wieder weg und ballt sie zur Faust. "Ich
entscheide zum ersten Mal in meinem Leben ganz allein, was ich tue
oder lasse. Ich bekomme Unterricht bei einem wirklich guten Lehrer.
Und wenn du vorhast, die ganzen nächsten Tage nur noch zu
streiten, ist es vielleicht besser, wenn du wieder fährst!"
Stöhnend legt Lucas einen Arm um
sie.
"Ich
will mich doch gar nicht mit dir streiten. Ich mache mir nur Sorgen
um dich. Du bist auf einmal so weit weg...", er küsst ihren
Scheitel, "Aber vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein
und... übertreibe.", er seufzt, "Lass uns das ganze
vergessen und uns wieder vertragen, ja? Ich verspreche auch, nichts
mehr gegen die Leute zu sagen und mich ganz zurückzuhalten...
Auch wenn ich letzte Nachteinige seltsame Dinge gehört habe."
Julie wirft ihm einen verständnislosen
Blick zu.
"Ach, Gabrielle hat in Eriks
Zimmer geschlafen und da waren ziemlich seltsame Geräusche..."
"Lucas, bitte! Gabrielle ist eine
ganze liebe und sie hat keine seltsamen Neigungen was Erik betrifft.
Und ich will auch gar nichts darüber hören..."
Er
zieht sie fester an sich.
"Aber du bist mir nicht mehr
böse?"
Julie zuckt mit den Schultern und lässt
sich von ihm küssen.
"Ich
kann wirklich nicht noch mehr Stress gebrauchen." murmelt sie.
Dannfühlt sieseine Hände auf ihrem Rücken, an ihrem Kinn,
dort, wo Erik sie berührt hat... Sie schließt die Augen
und drückt Lucas zurück.
"Nicht... nicht jetzt."
Er sieht sie an, als verstünde er
kein Wort, dann lehnt er sich seufzend auf dem Sofa zurück.
"Gut... Aber du weißt..."
Sie
nickt, steht auf und richtet sich ihr Top.
"Ja, ich weiß, Lucas."
seufzt sie und wendet sich ab "Ich dich auch."
'Tatsächlich?'
Sie geht in die Küche, um sich ein
Honigbrot zu machen. Kurze Zeit später steht Lucas neben ihr,
verzieht das Gesicht und öffnet den Kühlschrank.
"Magst du auch?" fragt sie
abwesend.
Er brummt verärgert.
"Ich esse keine Bienenkotze."
"Sag
mal..."Sie lehnt sich gegen den Flügel. "Könnten
wir heute ein bisschen früher Schluss machen und die Zeit morgen
nachholen?" Sie schielt auf die Uhr. Um zwölf Uhr wartet
Lucas an der Rezeption auf sie. Ein Tag, nur für sie beide.
Zeit, um sich zusammenzuraufen. Sie liebt Lucas schließlich,
und dieser Tag wird ihnen beiden bestimmt gut tun.
"Natürlich. Eine halbe
Stunde?" Er spielt einen Lauf mit der linken Hand "Eine
ganze Stunde dürfte schwierig nachzuholen sein, es sei denn, wir
stottern es ab."
"Lass es uns bitte abstottern."
Sie sieht ihn flehend an. "Es ist wirklich wichtig. Ich wollte
mit Lucas endlich einen ganzen Tag allein verbringen…"
'Und
unserer Beziehung noch eineChance geben.' fügt sie in Gedanken hinzu.
Erik presst die Lippen zusammen. Es ist
schwachsinnig dass ihm der Gedanke, dass Julie mit Lucas glücklich
ist, so sehr widerstrebt. Ihrer Stimme kommt es schließlich nur
zugute, wenn sie in einer funktionierenden Beziehung lebt.
"Gut, wann möchtest du also
Schluss machen?" fragt er leichthin.
Sie starrt ihn einen Augenblick lang
irritiert an. Am liebsten gar nicht...
"Ich hatte Lucas gebeten, ab zwölf
Uhr auf mich zu warten. Das wäre... jetzt."
"In Ordnung. Ich begleite dich ins
Foyer, ich muss Gabrielle ohnehin noch etwas fragen."
Julie nickt und zwingt sich zu einem
Lächeln. Alles wird gut. Nach diesem Tag mit Lucas wird wieder
alles so sein, wie es sein soll. Sie gehören zusammen, schon
seit ihrer Kindheit.
Hastig sucht sie ihre Sachen zusammen
und wartet dann, dass Erik sich ihr anschließt.
Als sie nebeneinander aus dem
Treppenhaus auf den Gang hinaustreten, sieht er als erstes Lucas auf
der Wartebank im Foyer sitzen. Er spürt Groll in sich
aufsteigen. Diesen ignoranten Kerl hat Julie nicht verdient. Er
schnaubt leise.
Lucas springt auf und beobachtet, wie
Julie und Erik dicht nebeneinander aus einem Seitengang kommen. Zu
dicht für seinen Geschmack. Eilig geht er ihnen entgegen, um
Julie an sich zu ziehen und auf die Stirn zu küssen.
"Guten
Tag." grüßt er Erik danachhöflich und nimmt Julies Hand.
"Guten Tag." Aus irgendeinem
Instinkt heraus deutet Erik eine Verbeugung an, ehe er zu Gabrielle
an den Rezeptionstresen hinüber geht. "Könntest du
bitte dafür sorgen, dass der Chor für den großen
Soundtrack um einen oder zwei Tage vorgezogen wird? Nach dieser
Detweiler-Geschichte brauche ich einen Ausgleich."
"Detweiler ist übermorgen..."
murmelt Gabrielle und klickt durch den Terminkalender. Eriks Tonfall
hat sie hellhörig gemacht. Er scheint immer noch sauer auf Lucas
zu sein. "Danach kommt erstmal Kleinkram... der Nonnenchor, die
Hornisten... Ich würde sagen, die Chancen stehen halbe-halbe,
dass es geht. Ach so, da sind zwei Briefe vom Anwalt. Einer ist mal
wieder wegen Maddie. In Sachen Dawson sieht es nicht gut aus."
sie seufzt und streckt ihren Rücken durch. "Könntest
du mich nachher massieren?"
Lucas grunzt und schaut Julie fragend
an. Die lächelt, drückt seine Hand und dreht sich noch
einmal zur Rezeption.
"Dann bis morgen?"
Erik wendet sich um und sucht einen
Moment, ehe er Julie und Lucas an der Tür entdeckt.
"Ja, bis morgen..." Er
unterdrückt ein Seufzen, dann wendet er sich Gabrielle wieder
zu. "Natürlich massiere ich dich. Ich... Komm einfach
gleich mit runter, anrufen kannst du ja später immer noch."
Julie
lehnt sich auf der Parkbank zurück und starrt den Himmel an,
während Lucas ihr den Nacken krault. Bisher haben sie es
erfolgreich vermieden, über Erik oder Gabrielle zu reden, denn Julie hat wenig Lust darauf, ihm zuzuhören, wie er
seinen Ärger an ihnen auslässt, indem er Halbwahrheiten
erzählt. Gabrielle und Erik als inzestuöses Pärchen...
Sie schüttelt den Kopf.
Lucas
drückt ihr einen Kuss in den Nacken und lehnt sich dann an ihre
Schulter. Es ist wieder genauwie früher, so wie es sein sollte. Julie seufzt und
sieht ihn an. Seine Augen sind geschlossen, seine blonden Haare
kitzeln sie. Sie lächelt. Alles ist richtig so, wie es jetzt
ist.
Irgendwo
im Gebüsch hinter ihnen lärmen ein paarKinder... toben ausgelassen herum. Julie dreht sich
vorsichtig und versucht zu entdecken, was sie spielen.
Die Büsche bewegen sich und eine
helle Kinderstimme ruft von irgendwo: "Kamal! Wo seid ihr? Ich
mag nicht wenn ihr mich erschreckt!"
Plötzlich
brichtaus dem Gebüsch eine Gruppe Jungen, höchstens
zehn Jahre alt. Der größte unter ihnen tritt auf das
Mädchen zu und grinst.
"Du bist so ein Feigling!"
Dann wendet er sich seinen Freunden zu "Was spielen wir jetzt?"
Kamals Augen leuchten auf und er zieht den Großen am Arm.
"DerTempel! Da hinten gibt es eine Tempelruine, die machen wir
zu unserem geheimen Ort!"
Das Mädchen stöhnt.
"Kamal, das ist viel zu weit.
Mutter wird schimpfen, wenn ich so lange fort bleibe und ihr nicht in
der Küche helfe."
Der
Große verdreht die Augen und Kamal streckt ihr die Zunge heraus.
"Geh
doch, wir haben ohne dich eh viel mehr Spaß." und seinen Freunden flüstert er zu:
"Mädchen sind dumme Hühner!"
Geschrei lockt ihn aus seiner Höhle.
Er schiebt das Gitter aus zusammengebundenen Ästen bei Seite,
nimmt seinen Speer und klettert geschickt die verfallene Treppe
hinunter, um sich hinter eine umgestürzte Säule zu ducken.
Da sind andere Menschen! Er spürt, wie sich seine Atmung
beschleunigt.
"Kamal, warte, ich kann nicht so
schnell laufen!" jammert das Mädchen, das den anderen nun
doch gefolgt ist.
Genervt
bleibt Kamal stehen, mustert sie von oben bis unten und pfeift
durch eine Zahnlücke.
"Versprichst du, dass du nicht
rumjammerst, wenn wir hier spielen, Devika?"
Sie nickt mit einem halb ängstlichen
Blick auf die verfallenen Mauern.
"Und das ist euer neuer geheimer
Ort?"
"Mein
Vater hat davon erzählt, er will nicht dass wir hierher
gehen..." Kamal grinst gemein "Es gibt hier böse
Geister, die kleine Kinder fressen, weißt du...Jetztlasst
uns Verstecken spielen. Ich fange an!" Als der Große nicht
protestiert, steigt Kamal die maroden Stufen nach oben und will sich
gegen die Wand lehnen um zu zählen, doch eine Bewegung auf einer
Treppe in der Nähe lässt ihn den Kopf drehen und neugierig
zurücktreten.
"Wer ist da?" fragt er mit
einem unsicheren Blick auf seine Freunde.
"Was ist? Kommt da schon ein böser
Geist?" höhnt der Große und geht breitbeinig zu Kamal
hinüber. Die anderen Jungen folgen ihm; nur Devika bleibt zurück
und beobachtet sie Gruppe aus sicherer Entfernung.
Gautamas
Blick irrt kurz umher, registriert Steine, die zum Schmeißen
taugen, einen solide wirkenden kurzen Ast, der als Keule taugen
könnte, Griffe und Tritte in der Tempelmauer, über die er
fliehen kann, dann schwingt er sich auf die Säule und brülltso laut er kann.
Ein
paar der Jungen zucken erschrocken zusammen und stürmen zurückzu Devika. Nur Kamal, der Große und zwei andere
bleiben stehen. Kamal lacht verächtlich, als er den
verwahrlosten Jungen sieht. Lange verfilzteHaare fallen ihm über Rücken und Gesicht und er
trägt Reste einer völlig verdreckten Hose.
"Seht
nur,ein Affe... hier lebt ein Affe!" spottet er laut, als
der Große sprachlos bleibt. Er legt den Kopf schräg und
beobachtet, wie sich der Junge auf der Mauer wie wild gebärdet.
"Du dummer Affe, kannst du nicht reden?"
Gautama verstummt. Der Junge hat ihn
angesprochen! Er duckt sich auf der Säule nieder und klammert
sich an seinen Speer. Dann schnellt seine Hand vor, greift einen
Stein und schleudert ihn zielsicher gegen Kamals Bein.
"Au!" brüllt der wütend
und dreht sich seinen Freunden zu. "Habt ihr gesehen, was der
Affenmensch gemacht hat? Er bewirft mich mit Steinen!" Zornig
schnaubend bückt er sich, nimmt einen besonders großen
Stein und wirft ihn nach dem Jungen auf der Säule. Er lacht
gemein, als das Geschoss die Schulter des 'Affen' streift .
"Treffer!" ruft er zufrieden
und hüpft auf und ab. "Macht mit! Wir werfen das Vieh von
der Mauer!"
Zögerlich
klauben nun auch der Große und die anderenein paar Steine vom Boden und schleudern sie in Richtung
des Jungen.
Gautama bleckt die Zähne und stößt
ein tiefes Knurren aus, während er eilig hinter der Säule
in Deckung geht. In seinem Kopf arbeitet es. Die anderen Menschen
sind zu nah an seiner Höhle, er kann nicht dorthin flüchten,
ohne sich zu verraten. Er muss sich an einem anderen Ort in
Sicherheit bringen...
Er schnaubt ein paar mal, um Mut zu
sammeln, dann lässt er seinen Speer fallen, springt zurück
auf die Säule, von dort an die Tempelwand, und hangelt sich
flink über den Köpfen der Jungen entlang. Er muss es nur
bis zu dem überhängenden Ast an der Ecke schaffen; einmal
in den Baumkronen verschwunden ist er sicher, das weiß er.
Eine Salve neuer Steine fliegt auf den
wilden Jungen zu. Kamal erweist sich dabei als beste Werfer, denn
sein Stein trifft ihn am Kopf.
Devika schreit entsetzt auf und presst
die Hände vor den Mund.
"Kamal, lass das! Ihr tut ihm
weh!"
Gautama keucht auf, als der Schmerz des
Treffers von seinem Kopf durch seinen ganzen Körper fährt.
Seine Hand verfehlt den nächsten Griff. Für einen kurzen
Moment kann er sich noch im Gleichgewicht halten, doch ehe er in
einem zweiten Anlauf Halt findet, spürt und sieht er die schräge
Tempelwand unter seinen Knien entlangschrammen. Er heult auf, dann
landet er auf unsanft auf dem Boden. Gepeinigt greift er sich an den
Kopf und versucht, sich aufzurappeln.
Doch schon sind Kamal und die anderen
Jungen bei ihm. Der Große tritt ihm unsanft in die Seite.
"Es bewegt sich noch."
Kamal beugt sich über den Jungen.
"Das ist gar kein Affe."
murmelt er spöttisch "Das ist ein Ungeheuer. Der böse
Geist des Tempels!" Er holt aus und will nun ebenfalls zutreten,
doch Devikas Hand krallt sich fest in seinen Oberarm.
"Hört auf! Bitte!"
Kamal dreht sich um und funkelt sie
böse an.
"Geh doch heim und heul bei deiner
Mama!" Dann wendet er sich wieder dem zerschrammten Jungen zu.
"Verschwindest du freiwillig aus unserem Geheimversteck?"
Mittlerweile hat sich Gautama von
seinem Schrecken erholt. Mit einem wütenden Grollen springt er
den sprechenden Jungen an und reißt ihn zu Boden. Er spürt
kaum, wie seine blutenden Knie aufs Neue auf das löchrige
Pflaster des ehemaligen Tempelhofes knallen.
"Mein Haus!" knurrt er und
gräbt seine Finger in die Haare des Jungen, um seinen Kopf auf
die Steine zu schlagen.
In diesem Moment stürzen sich
Kamals Freunde mit wütendem Geschrei auf den Affenjungen, packen
ihn und werfen ihn zurück zu Boden. Zwei halten ihn an den Armen
fest, zwei an den langen dürren Beinen, während Kamal
aufsteht, seine Arme reibt und die Hände zu Fäusten ballt.
"Verschwinde hier, du Ungeheuer!
Das ist jetzt mein Spielplatz!" Und dann schlägt er wild
auf den Bauch und das Gesicht des Jungen ein, während Devika
hilflos schreit und bettelt, dass sie endlich von ihm ablassen
sollen.
"Mein Haus! Mein Haus!"
knurrt Gautama immer wieder, während er sich windet, um sich aus
dem Griff der Jungen zu befreien und seinen Körper vor den
Schlägen ihres Anführers zu schützen. In seinen Augen
brennen Tränen vor Schmerz. Endlich bekommt er ein Bein frei und
tritt mit aller Kraft in das Gesicht des Jungen, der das andere Bein
umklammert.
"Haltet
ihn doch fest!" brüllt Kamal wütend. Sein Fuß
trifft den Bauch des Jungen, seine Faust ein letztes Mal das mit
einem Tuch halbverhüllteGesicht. Dann ist er ruhig.
Devika
schluchzt leise hinter ihnen, während Kamal seinübel zugerichtetes
Opfer betrachtet und schließlichgelangweilt mit den Schultern zuckt.
"Das
reicht.Lasst uns nach Hause gehen, ich habe Hunger und hier ist
es sowieso doof." Er wirft Devika einen ärgerlichen Blick
zu. "Und du darfst nicht mehr mit uns spielen, du bist dumm!"
Dann dreht er sich um, pfeift und die Jungender Große eingeschlossen, folgen ihm.
Devika betrachtet zitternd den leblosen
Körper des Jungen. Sie kann doch jetzt nicht einfach gehen...
Vielleicht kann sie ihm helfen, wieder gut machen, was Kamal und die
anderen ihm angetan haben. Sie kniet sich neben ihm nieder und tippt
ihn ängstlich an. Als er sich nicht rührt, springt sie auf
und läuft zu der kleinen Quelle, die sie auf dem Weg zum Tempel
entdeckt hat. Dort taucht sie ihr den Zipfel ihres Saris in das kalte
Wasser, rennt zurück und versucht, die Wunden des Jungen damit
auszuwaschen.
"Es
wird alles wieder gut." flüstert sie leise. Dann beginnt
sie, das Lied zu summen, das ihre Mutter ihren Geschwistern zur
Schlafenszeit immervorsingt.
Zögernd blinzelt Gautama in das
trübe grüne Waldlicht. Der Schmerz in seinem Körper
lässt ihn nur flach atmen, doch etwas lenkt ihn davon ab. Ein
Geräusch, ein Summen, das von einem Schemen dicht vor ihm
auszugehen scheint. Ohne dass er es will, reagiert seine Stimme
darauf und stimmt ein.
"Scht." macht Devika und
lächelt ihn schüchtern an. Mit den Zipfel ihre Saris fährt
sie vorsichtig über die blutigen Schrammen auf seinem Arm. "Das
tut sehr weh, oder?"
Gautama zuckt zusammen, als das Summen
verstummt und Sprache ein seine Stelle tritt. Mit einem drohenden
Knurren schlägt er die Hand bei Seite, die seine Schmerzen noch
vergrößert, und versucht, sich aufzurichten. In seinem
Kopf gibt es nur noch einen Gedanken: Er muss in seine Höhle,
hinter das sichere Gitter, ehe irgendein großer Fleischfresser
die Witterung seines Blutes aufnimmt.
Irritiert
sieht Devika den Jungen an.
"Ich will dir helfen." sagt
sie und lässt die Hände sinken "Ich tu dir nicht weh,
bestimmt nicht." Einen Augenblick lang bleibt sie hilflos
sitzen. "Sagst du mir, wie du heißt?"
Gautama wimmert leise, als er sich auf
die Seite wälzt und seine Knie anzieht. Die Stimme neben ihm
nimmt er kaum noch wahr. Fliehen, er muss fliehen! Er schnappt nach
Luft und versucht, sich auf den Bauch zu drehen. Der Schmerz, mit dem
seine Wunden aufs Neue den Boden berühren, verursacht ihm
Übelkeit, doch schon ist es ihm gelungen, sich in eine kniende
Position zu bringen.
'Auf die Füße mit dir!'
befielt er sich selbst 'Auf die Füße!'
"Bleib
doch liegen!" sagt Devika leise, als sie bemerkt, wie schwer ihm
jede Bewegung fällt. "Ich verspreche, dass ich dir nicht
weh tue." Sie rutscht noch ein wenig näher an ihn heran und
betrachtet sein wildes Haar und seinen mageren Körper. "Hast
du Hunger?" Sie beginnt, in ihrem Beutel zu kramen, und fördert
schließlichein Honigbrot hervor, das sie eigentlich selbst essen
wollte. "Hier, das kannst du haben!" Sie hält es ihm
hin und sieht ihn erwartungsvoll an. "Ich heiße Devika."
Am Rande seines Bewusstseins
registriert Gautama den Duft. Brot, richtiges Brot! Doch das
Bedürfnis nach Sicherheit ist größer. Sicherheit und
Ruhe, er fühlt sich schrecklich müde und kann sich kaum
noch die Tränen verbeißen.
'Auf die Füße, Gautama!'
schreit er sich innerlich an und versucht, sich in eine Hocke zu
stemmen.
Devika runzelt die Stirn.
"Hast du so viel Angst vor mir?"
Sie nimmt den Leinenbeutel und legt das Brot darauf. "Iss!"
Um ihn nicht zu erschrecken, robbt sie langsam ein Stück zurück,
ehe sie aufsteht. "Ich komme morgen wieder und bringe dir Essen
und was zum Verbinden." sagt sie entschlossen, dreht sich um und
geht leise summend in den Wald zurück.
Mit einem erstickten Schluchzen gibt
Gautama auf. Er ist zu schwer verletzt, um es allein in seine Höhle
zu schaffen, und wenn er hier draußen einschläft, ist das
sein sicheres Ende. Das Mädchen... das Mädchen, das eben
noch da war... es schien, als wollte es helfen, es hat ihm Brot
gegeben... Ein Name... da war ein Name...
"Devika!" ruft er, so laut er
noch kann "Devika, Hilfe!"
Hastig
dreht sie sich um und läuft zu dem Jungen zurück. Er kniet
noch immeram Boden... Sie fasst ihn sanft an den Schultern und zieht
seinen Oberkörper mit aller Kraft, die sie aufbringen kann, in eine
aufrechte Position.
"Was soll ich tun?" flüstert
sie.
"Hilfe..." wimmert er noch
einmal, als ihre Finger schmerzhaft gegen sein angebrochenes
Schlüsselbein drücken "Mein Haus..." Schwach
deutet er auf die Treppe vor ihm.
"Da
hoch?" fragt sie leise. Sie greift unter seinen Arm und
versucht, ihn hochzustemmen. "Du musstdich ganz stark auf mir abstützen. Kannst du ein
bisschen laufen?"
Gautama knurrt zwischen
zusammengebissenen Zähnen und kämpft sich auf die Füße.
Er spürt, wie warmes Blut von seinen Knien über seine
Schienbeine rinnt.
Als
der Jungesein ganzes Gewicht auf ihre Schultern drückt, keucht
Devika angestrengtdoch sie setzt sich gleich mit ihm in Bewegung.
Als sie endlich die Höhle, nicht
mehr als ein kleines Loch zwischen Trümmern und Lianen, erreicht
haben, setzt sie ihn vorsichtig ab und sinkt dann schwer atmend neben
ihn.
"Ich
hole dein Brot." schnauft sie nach einer Weile und geht auf zitternden Beinen zurück, um
den Leinenbeutel mit ihrem Mittagessen zu holen. Als sie die Höhle
wieder betritt, liegt der Junge noch immer am Boden.
"Das ist dein Haus?" Zögernd
blickt sie sich um "Wo ist denn dein Bett?"
Er öffnet die Augen und bewegt
schwach den Kopf.
"Gitter..."
"Gitter?" Sie sucht den Raum
ab. "Hast du eine Matte und eine Decke oder so?"
"Tür zu." er deutet auf
die Öffnung zwischen den umgestürzten Säulen und
Mauerstücken, die den Eingang zu seinem Versteck darstellt
"Tiger... Wölfe..."
Devika
blickt sich erschrocken um,doch als sie keine Gefahr entdecken kann, beginnt sie, mit
den Bändern ihres Beutels zu spielen.
"Wohnst du hier ganz allein?"
Der Junge ist bestimmt nicht viel älter als sie und kein anderer
Mensch scheint außer ihm hier zu sein. Neugierig steht sie auf
und geht zum Höhleneingang zurück, um hinauszusehen.
"Mein Haus." murmelt Gautama
schläfrig. Er spürt, wie der Schmerz in seinem Körper
einer allumfassenden Betäubung weicht. Mit einem Ruck reißt
er sich heraus, er muss auf sein Blätterlager, die bloßen
Steine werden ihn auskühlen, wenn er zu lange darauf liegen
bleibt. Vielleicht kann er auf der Seite liegend hinüber
rutschen...
Als
sie Gautama hinter sich knurren hört, geht Devikawieder zu ihm, fasst ihn an den Schultern und hilft ihm,
sich auf sein Lager zu schleppen.
"Ich
gehe jetzt." sagt sie dann leise und beobachtet, wie er
versucht, sich in eine bequemere Lage zu bringen. "Und deine Tür
mache ich zu." sie steht auf und zerrt an den Gittern. Als sie
sich noch einmalumdreht, scheint der Junge schon eingeschlafen zu sein.
Am
nächsten Morgen ist sie schon früh auf den Beinen und
kämpft sich allein durch das Gestrüpp zum Tempel. In ihrem
großen Leinenbeutel hat sie eine alte Decke und ein kaputtes
Hemd ihres Vaters, außerdem eine Schweinsblase voll Wasser undein paar Brote mit Honig. Langsam geht sie die zerfallene
Treppe nach oben, an den Ort, an dem sie ihn zurückgelassen hat.
"Hier ist Devika!" ruft sie
laut und zerrt das Gitter bei Seite.
Gautama blinzelt, dann öffnet er
die Augen und fährt von seinem Lager auf. Wimmernd verzieht er
das Gesicht, als der Schmerz aus seinem Kopf für eine Sekunde
durch seinen ganzen Körper jagt, ehe wieder das dumpfe Pochen
seiner Wunden einsetzt, das ihn immer wieder geweckt und vom Schlafen
abgehalten hat.
Als er den Eindringling erkennt, lässt
er sich erschöpft auf die Blätter zurücksinken.
"Devika." murmelt er heiser.
Sie lächelt vor Freude darüber,
dass er sich an ihren Namen erinnern kann, und lässt sich neben
ihm nieder.
"Geht es dir schon besser?"
Aus dem Leinenbeutel zieht sie die Decke und die Brote hervor. "Ich
habe dir etwas mitgebracht... Was zum Zudecken und was zu Essen."
Sie reicht ihm die Brote.
Gautama schließt die Augen. Brot!
Seine Hand streckt sich in Richtung des Duftes aus, und schon führt
er die Köstlichkeit unter dem Tuch, das er sich als Maske über
das klaffende Loch seiner Nase gebunden hat, an den Mund.
"Bitte... Wasser..." murmelt
er, während er die Süße des Honigs auf seiner Zunge
genießt und mühsam schluckt.
Devika wendet den Blick ab und sucht in
ihrem Beutel nach der Schweinsblase, die sie aufstöpselt und ihm
reicht.
Gautama lässt das Brot fallen und
greift nach dem Wasser. Mit großen, gierigen Schlucken trinkt
er, bis sein schlimmster Durst gestillt ist, dann verschlingt er den
Rest des Brotes.
"Wie
heißt du?" wiederholt Devika ihre Frage vom Vortag und
wirft einen Blick auf seine aufgerissenen Knie. Es haben sichKrusten gebildet, die jedoch an einigen Stellen schon
wieder aufplatzen. Sie kramt nach den Stoffstreifen, die sie von
Zuhause mitgebracht hat.
"Gautama." antwortet er leise
und bemüht sich, den gebührenden Stolz in seine Stimme zu
legen. "Danke... für... für die Hilfe."
"Einer von meinen Brüdern
heißt auch so." Devika grinst schief und berührt mit
den Fingerspitzen die Kruste an seinem Knie. "Tut das weh?"
"Ja!" er zuckt zusammen und
rutscht ein Stück von Devika weg.
"Entschuldigung." murmelt sie
hastig und breitet die Stoffstreifen vor sich aus. "Ich mach
deine Knie sauber und dann verbinde ich sie. Ich habe alles dafür
mitgebracht."
Bei der Aussicht auf noch mehr
Schmerzen verzieht Gautama das Gesicht. Aber dann nickt er und lässt
seinen Kopf wieder in die Blätter fallen. Langsam schließen
sich seine Augen.
"Halt ganz still und denk an was
schönes!" verordnet Devika, während sie einen
Stofflappen mit Wasser aus der Schweinsblase befeuchtet und die Wunde
auswäscht. Leise beginnt sie vor sich hin zu summen.
Gautama lächelt zögernd. So
eine schöne Stimme. So ein schönes Lied. Mit einem Seufzen
schließt er sich der Musik an.
Devikas Mundwinkel zuckt zufrieden.
Wenn er singt, denkt er vielleicht nicht an seine Schmerzen.
Sie bindet einen der Stoffstreifen um
sein rechtes Knie und verknotet ihn so fest, dass Gautama vor Schmerz
scharf die Luft einzieht.
"Entschuldigung." murmelt sie
hastig.
"Nicht reden, singen!"
befielt Gautama mit überraschend kräftiger Stimme; und
während er selber wieder damit beginnt, sucht seine Hand, bis
sie Devikas Schienbein berührt und beruhigt liegen bleibt.
Stirnrunzelnd
macht sich Devikadaran, die anderen Wunden an Armen und Beinen zu
versorgen. Sie hat keine Lust, sich auch von diesem Jungen
herumkommandieren zu lassen. Trotzdem hört sie nicht mehr auf zu
summen.
Als Devika mit dem Verbinden fertig
ist, seufzt Gautama erleichtert auf. Eine Weile singt er weiter mit
Devika zusammen das Lied, doch dann verstummt er.
"Wer... hat Steine ge...
geworfen?" fragt er schwach.
"Das
waren Jungen aus meinem Dorf." Devika beugt sich vor und
streicht ein paar Brotkrümel von Gautamas Decke. "Dumme Jungen."
"Böse." knurrt er und
ballt seine Hände zu Fäusten.
Sie seufzt.
"Ja, sie wollen immer nur andere
Leute ärgern. Aber Kamal hat gesagt, er findet den Tempel doof.
Sie werden bestimmt nicht wiederkommen." Sie sieht sich um. "Wo
ist deine Mutter?"
Gautama schüttelt den Kopf.
"Weiß nicht."
Ungläubig schaut Devika ihn an.
"Bist du weggelaufen?"
"Fortgejagt."
Sie
hebt die Augenbrauen.
"Warum?"
Gautama zögert.
"Weiß nicht." lügt
er schließlich.
Unzufrieden runzelt Devika die Stirn.
"Hast du noch Hunger?" fragt
sie dann.
"Nein... Müde."
Sie springt auf die Knie und zerrt die
zerlumpte Decke über Gautama.
"Hier. Ich komme morgen wieder."
"Danke." Eine richtige Decke!
Er lächelt und zieht sie bis über seinen Kopf. Keine fünf
Minuten später ist er in einen unruhigen Schlummer gefallen.
Am nächsten Tag erscheint sie
wieder, mit Obst und Honigbroten bepackt.
"Gautama?"
Sie findet ihn schweißnass auf
seinem Lager. Erschrocken sinkt sie neben ihm nieder und tastet nach
seiner Stirn. Er hat Fieber.
"Ich habe dir Essen mitgebracht."
sagt sie und breitet den Inhalt ihres Beutels vor ihm aus. "Du
musst etwas essen! Tut es noch weh?"
Als Devika seine Schulter berührt,
versucht er, die Augen zu öffnen, doch er ist einfach zu müde.
Er hört das Blut in seinen Ohren rauschen und die Wunden auf
seinen Knien brennen und pochen so heftig, dass er an nichts anderes
mehr denken kann als den Schmerz.
"Wasser..." flüstert er
schwach.
Hastig schiebt sie ihm die
Schweinsblase zu.
"Hier." Sie hebt die Decke
von seinen Beinen und zieht scharf die Luft ein. Die hellen
Stoffstreifen an seinen Beinen sind nun feucht und gelblich. Ein
unangenehmer Geruch geht von ihnen aus. Mit spitzen Fingern löst
sie die Knoten und betrachtet die großen eitrigen Beulen, die
durch die nassen Krusten schimmern.
"Uh..."
sie verzieht das Gesicht "Das ist ja...Ich wasch das aus..."
Gautama knurrt schwach, als sie sich
wieder an seinen Knien zu schaffen macht. Ungeduldig fummelt er an
der Schweinsblase herum, doch seinen zittrigen Fingern gelingt es
nicht, den Stopfen heraus zu ziehen.
"Devika..."
Eifrig
nimmt siedie Schweinsblase aus seiner Hand, löst den Stopfen
und befeuchtet einen Lappen, bevor sie ihm die Flasche wieder reicht.
Mit zusammengekniffenen Augen beobachtet sie, wie er hastig trinkt.
Er hat heute sichernoch mehr Schmerzen als gestern und vorgestern, überlegt
sie. Dann beginnt sie zu summen, während sie mit dem Tuch die
eitrigen Wunden versorgt.
Ein
mattes Lächeln huscht trotz der Müdigkeit über sein
Gesicht. Seine Hand will nach Devika suchen, doch bevor er die nötige
Kraft dazu gesammelt hat, ist Devika schon mit ihrer Arbeit fertigund hat die Höhle wieder verlassen.
Als sie am nächsten Tag
wiederkommt, ist Gautamas Fieber noch immer nicht gesunken. Im
Gegenteil, es kommt ihr vor, als wäre er noch viel heißer.
Sie spricht ihn an, doch er wacht nicht
auf. Nur als sie seine Verbände entfernt, zuckt er ein wenig im
Schlaf.
Die Wunden sehen nicht gut aus. Die
Eiterbeulen sind noch größer und zwischen den nässenden
Krusten haben sich kleine Maden eingenistet. Devika unterdrückt
ein Würgen und wäscht summend die Wunden aus. Enttäuscht
verzieht sie den Mund, als Gautama auch darauf nicht reagiert.
Bevor
sie wiedergeht, legt sie noch die Schweinsblase neben das Lager.
Falls Gautama aufwacht, wird er etwas zu trinken finden.
Am nächsten Morgen beeilt sie
sich, noch vor dem Frühstück zu ihm zu kommen. Die Blase
liegt unbewegt neben ihm und als sie näher tritt, geht ein
unangenehmer Geruch von ihm aus. Die Nase rümpfend kniet sich
sie neben ihn und berührt seine Stirn. Erschrocken zuckt sie
zurück und presst die Hand auf den Mund. Er ist kalt, starr und
kalt. Hastig nestelt sie an dem Tuch, das er immer um Nase und Mund
gebunden hat, und löst es. Entsetzt keucht sie auf und weicht
zurück.
"Gautama..."
flüstert sie ängstlich. Er ist tot! Sie hat ihn nicht
retten können. Hilflos sinkt sie in sich zusammen und beginnt zu weinen.
Julie widersteht dem Drang, aufzustehen
und das weinende Mädchen zu trösten.
"Emilie, sei keine dumm Kuh."
brüllt der Junge, der sie geschubst hat, und bewirft sie wieder
mit Gras.
Lucas grunzt und dreht sich um.
"Kinder! Nicht mal fünf
Minuten kann man die Augen zu machen." Er drückt Julie
einen Kuss auf den Scheitel. "Also, ich habe jetzt Hunger auf
ein großes Steak mit Salat. Hat dir Gabrielle gezeigt, wo man
so was in Brüssel bekommt?"
"Wie war euer Ausflug?" fragt
Gabrielle mit einem angedeuteten Lächeln, als sie den beiden auf
dem Weg vom Tor entgegen kommt.
Julie grinst zufrieden.
'Erfolgreich.'
"Sehr schön." entgegnet
sie dann und strahlt Lucas an. Der zieht sie ein wenig näher zu
sich und wirft Gabrielle einen triumphierenden Blick zu, jedoch ohne
etwas zu sagen.
Gabrielle mustert ihn abschätzig
von oben bis unten, wobei sie ihren Blick etwas länger als nötig
auf seinem Schritt ruhen lässt. Schließlich schaut sie
Julie an.
"Ich soll dir von Erik ausrichten,
dass der Unterricht morgen erst um zwölf anfangen kann. Er hat
eine Konferenz mit den Leuten vom Kurzfilm. Es freut mich, dass du
Spaß hattest." sie produziert ein weiteres schmales
Lächeln, dann macht sie sich auf den Weg zurück zum
Hauptgebäude.
Lucas nimmt Julies Hand, wirft
Gabrielle einen kurzen Blick nach und zieht Julie dann hinter sich
her zum Haus.
"Jetzt habe ich einen schönen
Tag mit dir verbracht und einen vollen Magen." seufzt er
zufrieden und schließt die Tür auf.
"Du bist also satt und rundum
glücklich?"
Lucas grinst und zieht sie hinter sich
durch die Tür.
"Fast."
