"Das freut mich." sagt er lächelnd.'Es sollte mich freuen.' Doch das Gegenteil ist der Fall.
"Nun lass uns sehen, ob deine Stimme so sehr davon profitiert, wie ich hoffe."
Gutgelaunt hebt Julie die Noten. Sie lächelt und wartet darauf dass Erik ihr ein Zeichen gibt.
"Gestern warst du auch schon etwas besser. Ich glaube, der Text hilft dir tatsächlich." er lässt sich auf die Klavierbank fallen. "Zum Aufwärmen will ich ein paar Tonleitern hören, danach zwei Übungen und dann beginnen wir mit dem Soundtrack. 'Belong'." er schüttelt den Kopf "Ich bin für die Texte nicht verantwortlich."
Julie grinst zufrieden.
"Gut, dass du mir das sagst. Es hätte mein Bild von dir völlig vernichtet..."
Erik gibt ihr einen Ton vor und sie beginnt, sich einzusingen. Aus dem Augenwinkel beobachtet sie ihn. Jetzt ist alles wieder in Ordnung. Lucas und sie gehören zusammen.
Die Stunde beginnt gut. Julie scheint wieder völlig ausgeglichen zu sein, und die Übungen gehen ihr merklich leichter über die Lippen als an den Tagen zuvor. Erst, als sie mit 'Belong' beginnt, lässt ihre Leistung nach.
Mitten in der Strophe bricht Erik sein Klavierspiel ab.
"Fang noch einmal von vorne an. Bitte mit der technischen Qualität der Übung und Gefühl."
Julie zieht eine enttäuschte Schnute. Sie überfliegt die Noten, bis sie die Stelle findet und beginnt noch einmal.
Doch wieder lässt Erik die Hände sinken und schaut Julie kopfschüttelnd an.
"Was ist los mit dir? Du hast so gut angefangen. Halte dein Becken und deinen Kiefer entspannt. Noch einmal von vorn."
Sie seufzt. Verdammt. Sie hatte gedacht, wenn ihre Laune so gut ist wie heute, würde auch das Singen keinerlei Probleme mehr machen. Aber nein... Ausgerechnet bei diesem einfachen Lied versagt sie! Warum hat sie nicht bei den Übungen vorher Mist gebaut und begeistert ihn jetzt? Sie streckt sich, atmet tief durch und beginnt von vorn.
Unvermittelt erhebt sich Erik mitten in der zweiten Strophe.
"Noch einmal. A capella. Setz ein, wenn du dich dazu bereit fühlst." Er tritt hinter sie und hält sie mit einer Hand an ihrem Rücken auf ihrer Position fest, als sie sich fragend nach ihm umdrehen will "Schau nicht mich an. Stell dir vor, du singst für Lucas."
Julie wirft ihm einen Blick über die Schulter zu, zieht verunsichert die Luft ein und schließt die Augen. Für Lucas... Sie hat noch nie wirklich für Lucas gesungen. Wenn es einen Mann ohne Musikverstand und Geschmack gibt, dann ihn. Und sie kann es nicht ausstehen, wenn er nachher irgendeine höfliche Bemerkung macht, um sie nicht zu kränken. Sie schüttelt den Gedanken ab, versucht an den Tag gestern zu denken und setzt ein.
"Du musst versuchen, tatsächlich zu fühlen, was du singst, Julie." Erik stimmt kurz ein "Ever since that dream/Ever since you held me..." er tritt dichter an sie heran und legt seine Hände auf ihre Hüften "Sing einfach weiter. Ever since you filled... Dein Becken bleibt entspannt. Atme weiterhin tief und gleichmäßig." Seine linke Hand wandert auf ihren Bauch, seine rechte zu ihrer Seite "Tiefer... Freed from all that tied me down... Nutze alles, was deine Lunge hergibt... Besser." Seine Linke legt sich an ihren Hals "Entspann dich auch hier... deinen Kiefer... Mach deine Kehle weit auf... Lehn dich an mich an, wenn es dir hilft. Lass dich fallen..."
Sie unterbricht für einen kurzen Moment und schluckt schwer. Eriks Berührungen lassen sie innerlich erbeben und sie spürt, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufstellen. Seine Stimme klingt so beruhigend, so vertraut...Wunderschön... Nein! Lucas... Sie muss an Lucas denken. Alles ist wieder in Ordnung!
'Ganz ruhig. Lucas ist im Nebenhaus und denkt an mich. Wir haben uns vertragen. Wir gehören zusammen. Ich liebe Lucas. Es kann nichts passieren...' Langsam schließt sie die Augen und lässt sie sich gegen Eriks Brust sinken. Für einen Augenblick genießt sie nur die Wärme seines knochigen Körpers, dann singt sie weiter. Und nach und nach wird ihre Stimme immer sicherer, freier... Es fühlt sich so schön an... So richtig...
Sie lächelt.
"Ever since you held me..."
Gegen seinen Willen schließen sich auch Eriks Augen und er kann deutlich spüren, dass Julies Stimme langsam aber sicher auf einen Durchbruch zusteuert.
"So will ich dich morgen auch hören." flüstert er in ihr Ohr, als sie geendet hat. "Kannst du alleine stehen, oder muss ich dich noch festhalten?"
Sie zuckt zusammen und blinzelt.
"Natürlich, entschuldige." Sie tritt einen Schritt zur Seite und starrt auf die Noten. "Wann treffen wir uns morgen? Wieder um zwölf?"
"Nein, um neun. Oder wenn du willst auch früher, das käme mir entgegen."
Vor neun? Julie verdreht die Augen. Das ist Körperverletzung. Und Lucas wird es auch nicht gefallen, wenn sie sich so früh aus dem Bett schleicht.
"Klar, ist dir acht Uhr recht? Wir müssten ohnehin noch die Stunde von gestern nachholen."
"Die schenke ich dir. Du hast heute sehr gut gearbeitet." er verzieht den Mund und geht zum Fenster. Der Tag mit Lucas hat tatsächlich gewirkt.
'Freu dich endlich. Das ist doch, was du wolltest!'
Julie errötet.
"Danke. Das heißt ich habe jetzt frei?" Zeit für Lucas. Sie folgt Erik mit den Augen. Viel Zeit für Lucas.
"Ja." er starrt auf den Waldrand "Geh und feier mit deinem Freund."
Schulterzuckend wendet sie sich zum Gehen.
"Dann bis morgen." sie hebt die Hand und verschwindet durch die Tür. Als siean der Rezeption vorbei geht, steht da schoneine kleinere Gruppe von streng gekleideten Männern, die aufgeregt durcheinander reden. Julie wirft Gabrielle einen mitleidigen Blick zu, dann schiebt sie die Haupttür auf und tritt in die Sonne hinaus. Ein weiterer schöner langer Tag mit Lucas...

Sie räuspert sich, streicht ihren Pullover glatt, zupft an ihrem Rock herum und fummelt durch ihre Haare, dann hebt sie ihren Korb wieder auf und klopft dreimal kurz an der Tür des Gästehauses.
"Lächeln. Gute Laune, gute Laune." murmelt sie leise zu sich selber.
Julie legt ihre Stricksachen beiseite und geht, gefolgt von Lucas' entnervten Blicken zur Tür.
"Wenn das dieser Erik ist..."
Sie zieht eine Augenbraue hoch.
"Dann mache ich ihm trotzdem auf." Kopfschüttelnd öffnet sie die Tür und blickt direkt in Gabrielles Gesicht. "Hey." macht sie und strahlt. "Was gibts?"
"Hallo, Julie!" Gabrielle bringt ein Lächeln zustande "Ich habe dir eine Überraschung mitgebracht. Darf ich reinkommen?"
"Klar." Julie öffnet die Tür ein Stückchen weiter und tritt zur Seite. "Immer herein in die gute Stube. Und lass dich bloß nicht von Lucas' Arbeitswahn verscheuchen!" Sie streckt ihm die Zunge raus. Da hat sie endlich Zeit für ihn und er sitzt trotzdem den ganzen Tag am Notebook. Seufzend zieht sie Gabrielle hinter sich her in die Küche. "Die Firma seiner Eltern plant den Börsengang. Ich habe nicht die geringste Ahnung von dem Kram, aber irgendetwas läuft nicht so wie es soll."
"Börse, ah." Gabrielle stellt den Korb auf die Arbeitsplatte "Du musst jetzt rausgehen, warte auf dem Sofa."
Julie versucht, einen Blick in den Korb zu erhaschen.
"Was ist es denn? Ich liebe Überraschungen!" ruft sie grinsend.
"Wenn ichs dir sage, ist es keine mehr. Los, raus." mit aller Autorität deutet Gabrielle auf die Tür und schaut finster.
Abwehrend hebt Julie die Hände und schlurft rückwärts in den Flur zurück.
Lucas beobachtet die Szenestirnrunzelnd und rückt mit seinem Notebook zur Seite. Dann starrt er wieder auf die unschönen Zahlen vor ihm. So ein Mist! Gerade jetzt, wo es mit Julie wieder gut läuft, macht ihm seine verdammte Arbeit einen Strich durch die Rechnung. Sie hätte den ganzen Nachmittag Zeit für ihn gehab, Aber er hat es nicht geschafft, seine Arbeit zur Seite zu legen und sich mit ihr zu beschäftigen. Und jetzt, wo er mit der Rechnerei fast fertig ist, taucht Gabrielle auf, um Julie zu okkupieren.
"Was hat sie nun schon wieder?" raunt er ihr zu.
Julie zuckt mit den Schultern.
"Eine Überraschung, weil ich brav war und so schön gesungen habe."
Mit einstudiert wirkenden Bewegungen packt Gabrielle den Korb aus, holt zwei Eisschälchen, befüllt sie, garniert das ganze mit Erdbeerstückchen und stellt beides auf ein Tablett neben eine Schale mit noch warmen Keksen.
"Löffel..." murmelt sie, zieht das Gesuchte aus einer der Schubladen und stakst nach einer letzten Kontrolle ihrer Kleidung ins Wohnzimmer. "Lucas, ich hab auch eine Portion für dich gemacht." Sie stellt das Tablett ab, kniet vor dem Tisch nieder und räumt es leer. "Ich hoffe, es schmeckt euch beiden."
"Oh, lecker, Eis!" jubelt Julie begeistert und reicht Lucas ein Schälchen. Der zieht beim Blick auf die Erdbeeren die Augenbrauen hoch, doch als Julie ihn durchdringend anstarrt, zwingt er sich zu einem höflichen Lächeln, während er die Erdbeeren abliest und in Julies Schälchen fallen lässt.
Er schnüffelt.
"Was ist das?" Er stochert kurz in dem Eis herum, dann schiebt er sich einen Löffel vollin den Mund.
Julie sieht, wie sich sein Gesicht innerhalb weniger Sekunden verfärbt, er sein Schälchen auf den Tisch knallt und zum Bad läuft, um dort lautstark zu erbrechen.
Seufzend steht sie auf und schließt die Tür.
Irgendwo in der Mitte zwischen Entsetzen und Entrüstung schaut Gabrielle sie an.
"W... was...?"
"Was ist das für Eis?" fragt Julie und hält sich den Löffel unter die Nase.
"Honig..." murmelt Gabrielle "Kotzt er wegen dem Eis?"
"Er hat eine Allergie." Julie zuckt mit den Schultern und beginnt, an ihrem Schälchen zu löffeln. "Aber ich finds echt lecker."
"Für dich hatte ich es auch gemacht." trotzig steht Gabrielle auf und lässt sich neben Julie auf das Sofa fallen "Die Kekse sind auch mit ganz viel Honig."
"Lecker." schmatzt Julie und grinst "Mach dir nichts draus. Das hat er häufiger. Jetzt legt er sich gleich in die Badewanne und danach ins Bett und wir haben Ruhe." Von diesem Gedanken ausgesprochen befriedigt lehnt sich zurück.
"Dann muss er sich die Decke über die Ohren ziehen. Oder wir gehen rüber ins Hauptgebäude. Du hast mein Zimmer noch gar nicht gesehen."
"Hm, ich frag ihn mal. Nicht, dass er unbedingt bemitleidet werden will und nachher wieder ausrastet." Sie steht auf und klopft an die Tür. "Lucas?"
Er würgt.
"Ich geh nochmal kurz mit Gabrielle weg. Ist das okay für dich?"
Erneutes Würgen und ein undefinierbares Brummen.
Julie dreht sich wieder um.
"Gut lass uns gehen."
"Setz dich." Gabrielle deutet auf das riesige im Halbkreis um einen niedrigen Tisch geschwungene Sofa "Möchtest du etwas Met? Hier darf den keiner trinken, aber ich brau trotzdem immer welchen und verschenke die Flaschen an Kunden." sie macht eine kurze Pause "Die meisten von denen haben nachher noch mal Verträge mit uns gemacht..." fährt sie dann fort "... also kann der Met so schlecht nicht sein."
Julie lacht und setzt sich.
"Nein danke, lass mal." Sie schüttelt den Kopf "Ich muss morgen früh raus und ich glaube nicht, dass ich das schaffe, wenn ich jetzt etwas trinke." Sie lässt sich auf das Sofa in der Raummitte fallen und schaut sich um: Ein großes helles Zimmer mit riesigen Benjamini in allen vier Ecken, und über einer der drei Fensterseite hängt eine große aufgerollte Leinwand. Staunend wendet sie sich wieder Gabrielle zu. "Nett hier."
"Find ich auch. Hier ist mein Lieblingsraum, nach Eriks Zimmer." Sie setzt sich neben Julie, schlägt die Beine unter und nimmt eine große Schale mit Keksen vom Tisch. "Aber davon nimmst du einen, oder?"
"Klar." Julie greift zu. "Was sind das für Kekse?"
"Mmmmh..." Gabrielle mustert die Schüssel, dann deutet sie auf die verschiedenen Sorten "Honig, Erdbeermarmelade, Mandeln." Sie pickt sich einen Mandelkeks heraus und steckt ihn in den Mund.
"Lecker." Julie nimmt sich den nächsten "Sag mal, machst du abends manchmal auch was mit Erik?"
"Nicht wenn er so viel zu tun hat. Aber wir gucken immer die Filme, zu denen er die Musik gemacht hat. Wir gehen auch schon mal nachts spazieren und sehen und die Sterne an... Oh, und er liest mir vor. Als nächstes 'Das Focaultsche Pendel' von Eco. Und manchmal sitzen wir auch nur so rum und erzählen oder kuscheln." sie nickt langsam.
Julie lächelt.
"Habt ihr nie Besuch?" Sie lässt den Kopf gegen die Lehne des Sofas sinken.
"Wen denn? Wir sind allen zu seltsam, glaub ich. Außerdem mag Erik andere Menschen nicht besonders, und mir ist es zu anstrengend, wenn abends nach der Arbeit auch noch immer verschiedene Leute um mich herumrennen."
Julie runzelt die Stirn und dreht nachdenklichden Kopf zu Gabrielle.
"Nicht mal Frauen?"
"Nein. Warum 'nicht mal'?" Gabrielle spielt kurz mit einem Keks herum, ehe sie beginnt, ihn rundum anzunagen.
Julie weicht ihrem Blick aus.
"Ach, ich dachte nur, Erik hat doch sicherlich eine Freundin oder sowas."
"Erik? Eine Freundin?" Gabrielle lacht leise. "Nein. Erik interessiert sich nicht mehr so wirklich für Frauen."
Julie wird hellhörig.
"Wieso ‚nicht mehr'?"
"Naja... Das... hmm..." Gabrielle stellt ihre Füße vor sich auf die Sitzfläche des Sofas, schlingt die Arme um ihre Beine und stütz das Kinn auf ihre Knie "Die Frauen interessieren sich auch nicht so wirklich für ihn." sagt sie dann.
Julie kräuselt die Nase.
"Komisch, das kann ich mir gar nicht vorstellen." murmelt sie und schüttelt den Kopf. "Ich meine, er ist... er hat... er kann... Ich... verstehs nicht." Sie nimmt sich noch einen Keks und knabbert daran. "Hat er denn irgendwelche Macken, mit denen man nicht umgehen kann?"
"Eine..." Gabrielle beginnt, mit Daumen und Zeigefinger an ihrer Nasenspitze herumzudrücken "Aber es liegt nicht an ihm, es liegt an den anderen. Ich liebe ihn so wie er ist. Der beste kleine Bruder der Welt."
Julie lächelt.
"Bestimmt." Sie betrachtet den Ring, den Lucas und sie tragen und verzieht das Gesicht. "Ich habe keine Geschwister."
"Das ist schade. Was... was ist mit deinen Eltern, was machen die so?" Hastig nimmt sich Gabrielle eines der Kissen vom Sofa und klemmt es zwischen ihren Bauch und ihre Beine.
"Keine Ahnung. Zu meiner Mutter habe ich keinen Kontakt mehr. Sie ist abgehauen, als ich noch ganz klein war." Julie seufzt "Und mein Vater ist etwas zu engagiert gewesen, was meine Ausbildung betrifft. Am Ende hat er beinahe jeden Morgen angerufen, um sicherzugehen, dass ich die Schule auch nicht schwänze. Aus mir soll mal eine große Sängerin werden... jetzt telefonieren wir nur noch an den Feiertagen."
"Wohin ist deine Mutter abgehauen?" halb fasziniert halb ängstlich starrt Gabrielle Julie an. Ihr Finger spielen an der Naht des Kissens herum. "Sie... sie muss doch was gesagt haben..."
Julie zuckt mit den Schultern und mustert Gabrielle irritiert. Warum sieht sie plötzlich so blass und nervös aus?
"Ach, keine Ahnung. Ich war drei Jahre alt. Mein Vater hat immer gesagt, dass sie sich von uns erdrückt fühlte und wieder mehr Freiheit brauchte. In den ersten Monaten ist sie noch regelmäßig zu Besuch gekommen, irgendwann dann nicht mehr. Aber es ging auch ohne sie." Sie seufzt. "Ist alles okay?"
"Nein." Gabrielle reibt ihre Hände gegeneinander "Aber das macht nichts. Ich bin ja selber schuld. Erzähl schnell was schönes, dann gehts wieder. Was hast du mit Lucas gespielt, als ihr klein wart?"
Julie grinst.
"Er hat mich mit Sand beworfen und an meinen Haaren gezogen."
"Das ist kein Spiel." Gabrielle legt sich auf den Rücken und mustert die geschlängelten Tageslichtröhren an der Decke "Und warum magst du ihn, wenn er sowas gemacht hat? Erik hat mich nie geärgert."
"Ach." Julie winkt ab "Das hat er nur am Anfang gemacht. Aber wenn die anderen Jungen mich ärgern wollten, hat er sich für mich geprügelt. Seitdem bin ich in ihn verliebt." Sie lacht. "Nein, eigentlich erst später. Was hast du mit Erik gespielt?"
"Maumau. Und er hat mich immer gewinnen lassen. Oh!" Gabrielle reckt einen Zeigefinger gen Decke "Ich habe ihn getreten, als er sich verplappert hat! Er wollte immer Schach spielen, aber ich war ein langweiliger Gegner, sagt er. Manchmal haben wir Rommé gespielt. Und Mensch-ärger-dich-nicht. Erik hat sich auch selber Spiele ausgedacht. Immer, wenn er wieder da war, hat er mir ein neues beigebracht."
"Wieder da?" Julie schlüpft aus den Schuhen und setzt sich im Schneidersitz auf das Sofa.
"Naja, er ist immer abgehauen."
"Echt?" Sie beißt sich auf die Zunge "Hatte er Streit mit euren Eltern?"
"Nein." Gabrielle schüttelt den Kopf. Sie nimmt kurz Anlauf, dann huscht sie über den Satz: "Meine Mama war die liebste Frau der Welt, immer wenn ich wieder krank war, hat sie sich nur noch um mich gekümmert und zu Erik war sie genau so gut, aber er hat sie nie wirklich gemocht und seit sie tot ist, hasst er sie richtig. Warst du auch so oft krank, als du klein warst?"
Julie zieht die Luft ein. Ja, sie erinnert sich wieder, was Erik über ihre Mutter erzählt hat.
"Als ich klein war... Ich weiß nicht mehr." antwortet sie dann "Ich glaube, ich habe sämtliche Kinderkrankheiten durch. Hm, hast du nicht gesagt, du wolltest Stricken lernen?"
"Ja. Aber nicht jetzt, ich würde lieber hier liegen bleiben..." sie wälzt sich auf den Bauch und stützt sich auf ihre Ellenbogen "Darf ich mal deine Patschehändchen angucken?"
Irritiert streckt Julie ihre Hände vor.
"Stehst du auf Chiromantie?"
"Nein, aber ich will wissen, wie sie aussehen." sie nimmt Julies Hände und mustert sie interessiert, dreht sie hin und her, dann lächelt sie "Schön sind die. Deine Lebenslinie ist lang und oft durchkreuzt." Ihr Lächeln wird ein albernes Grinsen "Ich sehe zwei, vielleicht drei Kinder und einen großen dunklen Fremden, der plötzlich in dein Leben tritt und dir all deine Wünsche erfüllt."
Julie spürt, wie sie errötet, und zieht die Hände weg. Sie zwingt sich zu einem Lächeln.
"Hast du auch noch eine Glaskugel?" scherzt sie verkrampft.
"Ja, ich trage sie als Auge mit mir herum. Rate, welches nicht echt ist." Gabrielle schielt "Ach, bevor ich gehe... mir fällt da noch etwas ein. Als Sie Mister Devonshire die Flasche weiterreichten, saß da Misses Delaware schon wieder neben Ihnen oder war sie noch auf der Toilette?" sie kichert.
"Ich sehe, wir haben den gleichen Geschmack." grinst Julie und quiekt fröhlich "Ich liebe Columbo. Was hörst du für Musik... mal abgesehen von der, die Erik schreibt und die du täglich hören musst?"
"Oh, hmm..." Gabrielle kuschelt sich an ihr Kissen "Das ist immer unterschiedlich. Blues und Punkrock. Und Requiems. Ich mag Requiems. Und No Doubt."
"No Doubt ist ganz gut. Ich steh mehr auf... hm, Bryan Adams..." Julie schüttelt den Kopf. "Strenggenommen hör ich alles." Sie zieht ihren Socken zurecht. "Und wenn ich ehrlich bin, habe ich fastalle Soundtracks, die dein Bruder je komponiert hat, und sämtliche Musical-Versionen vom 'Phantom der Oper' im Schrank stehen."
"Du magst die Musik, die Erik schreibt?" Gabrielle lächelt. "Das Phantom der Oper..." sie nickt langsam. "Das kenn ich auch. Erik ist sehr hässlich." Sie tastet blind nach der Keksschale. "Keine Nase, entstellte Lippen." Sie schnieft und stopft sich einen Keks in den Mund. "Deshalb trägt er immer eine Maske. Aber seine Stimme ist wunderschön."
"Ja, ich weiß. Ich habe sämtliche Bücher gelesen, alle Filme gesehen." Julie seufzt "Dein Bruder interessiert sich auch dafür, hat er gesagt." Entschlossen lehnt sich zurück "Eines Tages spiele ich die Rolle der Christine Daaé."
"Wirklich?" Gabrielle kneift die Augen zusammen und beginnt zu singen: "Think of me, think of me fondly, when we said good-bye/Remember me once in a while, please promise me you'll try/And when you find that once again you long to take your heart back and be free/If you ever find a moment... Was kommt dann? Spare a thought oder Stop and think?"
"Spare a thought for me." singt Julie leise.
"We never said our love was evergreen..." kommt es von der Tür. "Man hört euch bis ins Foyer."
"Or as unchanging as the sea/But if you can still remember..." Gabrielle streckt ihre Arme zur Decke.
"Stop and think of me..." endet Julie und sucht nach ihren Schuhen. "Guten Abend, Erik. Waren wir zu laut?"
"Nein." er schiebt Gabrielles Beine vom Sofa, setzt sich neben sie und legt dann ihre Beine quer über seinen Schoß. "Was ist das hier? Ein Damenkränzchen?"
"Nein. Lucas musste von meinem Honigeis kotzen, deshalb ist er nicht da." Gabrielle grinst und sticht Erik einen Finger in die Seite "Aber selbst wenn es ein Damenkränzchen wäre: Du kommst höher als das hohe C, du gehst als Frau durch."
"Wie du kommst höher als das hohe c?" Julie schnürt sich die Schuhe zu und sieht dann auf. "Im Ernst? Lass hören!"
Erik verdreht die Augen und kneift Gabrielle in den großen Zeh. Doch Lucas kniet in diesem Moment möglicherweise vor einer Toilettenschüssel und gibt bittere Galle von sich... Er setzt sich aufrecht hin.
"But please promise me that sometimes you will think... of me... Ich denke, der Spitzenton war ein dis."
Julie pfeift.
"Nicht schlecht." murmelt sie beeindruckt "Und wo hast du das gelernt?"
Er zuckt die Schultern.
"Ich habe ein paar Bücher gelesen, herumprobiert... Das meiste kam von selbst."
"Ich glaube nicht, dass bei mir Bücher etwas helfen. Da muss man noch selbst Hand anlegen." meint Julie. Sie errötet plötzlich und senkt den Blick, als sie merkt, was sie gerade gesagt hat.
"Das braucht dir nicht peinlich zu sein." entgegnet Erik ernst. "Gabrielle hat auch lange die gleichen Fehler gemacht wie du."
"Hm." macht Julie nachdenklich "Ich habe schon seit Ewigkeiten Gesangsunterricht... eigentlich schon seit ich sechs Jahre alt war. Mein Vater war fest davon überzeugt, dass ich singen kann. Irgendwie ist es schon frustrierend, in der ganzen Zeit fast keine merklichen Fortschritte zu machen."
"Erik, du musst sie mal massieren." Gabrielle knickt ihren Kopf ab und schaut Julie von unten an "Danach kann man fast nicht mehr stehen vor Entspannung, aber es hilft beim Singen. Ein Gefühl für die richtige Haltung zu kriegen und so."
"Tatsächlich?" Julie schüttelt den Kopf und verbirgt ein Gähnen. "Aber nicht mehr heute Abend. Ich bin todmüde und habe morgen früh um acht eine Verabredung." Sie grinst Erik an.
Der nickt und schaut kurz zu den Fenstern, in denen sich das Wohnzimmer mittlerweile spiegelt.
Julie folgt seinem Blick.
"Oh... Hat jemand von euch noch Zeit, mich zu begleiten?" fragt sie leise.
"Ja. Ich trag dich bis über deine Schwelle." Gabrielle kichert. "Ach nein." macht sie dann "Du hast ja Angst im Dunkeln... Also, ich komme gerne mit und beschütze dich."
Julie schluckt und zwingt sich zu einem Lächeln.
"Danke, das ist wirklich nett. Ich hab die Zeit ganz vergessen, sonst wäre ich früher gegangen und hätte euch keine Umstände gemacht." Sie steht auf.
"Du könntest eine Taschenlampe vom Dachboden holen, bevor ihr geht." meint Erik, während er seine Arme hebt, damit Gabrielle aufstehen kann.
Nervös reibt Julie ihre Hände gegeneinander.
"Das wäre nett."
"Ok. Ich bin sofort wieder da." damit klettert Gabrielle über die Lehne des Sofas und marschiert aus dem Wohnzimmer.
Julie blickt ihr nach und setzt sich dann auf die Armlehne der Couch.
"Hoffentlich ist Lucas nicht allzu sauer..." murmelt sie.
"Weil du den Abend mit Gabrielle verbracht hast?"
Sie schüttelt den Kopf.
"Ich bin einfach gegangen, als er kotzen musste. Irgendwie hatte ich keine Lust, ihn zu bemitleiden, nachdem er den ganzen Nachmittag nur Augen für seine Arbeit hatte."
"Das heißt, der Effekt eures gemeinsamen Tages war begrenzt?" Es gelingt ihm, keinerlei Genugtuung in seiner Stimme mitschwingen zu lassen.
"So kann man es auch sagen." Julie lacht freudlos "Dabei sah es gestern wirklich noch so aus, als wäre alles wieder wie früher."
"Vielleicht hilft euch noch etwas mehr Abstand." Er verzieht das Gesicht. Beziehungstipps, von ihm, was für ein Schwachsinn! "Das Gästehaus ist zu klein für zwei Personen."
"Er wird nicht ewig hier bleiben, irgendwann werden ihn seine Eltern schon wieder wegen wichtigen Unterschriften oder sowas nach Hause rufen... Aber ich will dir nicht mit Lucas auf die Nerven gehen. Das interessiert dich bestimmt gar nicht."
"Alles, was die Entwicklung deiner Stimme positiv oder negativ beeinflussen könnte, ist von Interesse für mich." Er mustert flüchtig seine eigene Reflexion in der Fensterscheibe, ehe er seinen Blick auf einen der Benjamini heftet.
Julie presst die Fingerspitzen gegeneinander, bevor sie sich ihm wieder zuwendet.
"Du, ich habe eben mit Gabrielle über meine Familie geredet. Irgendwie kam das Ganze auf meine Mutter... Gabrielle wirkte ein bisschen... seltsam. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, falls es ihr schlecht geht."
Erik presst die Lippen zusammen und nickt.
"Danke. Heute in zehn Tagen jährt sich der Todestag unserer Mutter. Gabrielle stürzt in dieser Zeit immer ab. Du kannst ihr helfen, in dem du das Thema vermeidest, egal wie plump."
Sie senkt den Kopf.
"Tut mir leid, dass ich mich überhaupt auf so ein Gespräch eingelassen habe. Ich habe viel zu spät daran gedacht."
"Nein, mach dir keine Gedanken. Ich habe versäumt, dir klar zu machen, wie... schmerzhaft das Thema für Gabrielle ist."
"Ich hätte es mir aber denken können." sie schüttelt den KopfIch wusste schließlich, dass sie mit angesehen hat, wie..." Sie bricht ab und wirft einen kurzen Blick aus dem Fenster. "Verdammt dunkel heute Nacht." sagt sie mit bebender Stimme.
"Neumond."
"Schrecklich." Sie zittert. "Wenigstens habe ich eine Taschenlampe."
"Und du hast Gabrielle." er schaut sie kurz aus dem Augenwinkel an "Ich kann auch mitkommen, wenn es dir hilft."
Julie malt sich Lucas' Gesichtsausdruck in allen Farben aus, wenn er am Fenster steht und sie zusammen mit Erik und Gabrielle kommen sieht. Spätestens nach der Sache mit dem Eis sollten all seine Sympathien für Gabrielle endgültig verschwunden sein.
"Ich weiß nicht, dann müsste sie nicht allein zurück."
"Gefunden!" Gabrielle blinkt mit der Lampe "Die Batterien haben sogar noch Saft. Kommst du?"
Julie wirft Erik einen kurzen flehenden Blick zu.
"Ist gut. Aber ich warne dich... ich glaube, du wirst mich nicht wieder erkennen." sagt sie dann an Gabrielle gewandt.
"Wieso?" Gabrielles Miene spiegelt Verwunderung "In dem Korsett hab ich dich doch schon gesehen."
Julie zieht eine Grimasse und streckt ihr die Zunge raus. Spätestens jetzt weiß Erik von der Korsage.
"Du wirst dich wirklich wundern."
Gabrielle macht eine Schnute.
"Warum streckst du mir jetzt die Zunge raus?"
"Zieh mich mit dem Ding noch auf, ich bin froh, dass sich Lucas wieder beruhigt hat." Julie lächelt schwach.
"Ach der..." Gabrielle macht eine wegwerfende Handbewegung "Der weiß nur nicht, was gut für ihn ist."
Erik schüttelt den Kopf und berührt kurz Julies Ellenbogen.
"Gehen wir dann?"
"Du kommst auch mit?" Julie schafft es nicht, ihre Erleichterung ganz zu überspielen.
"Pah." Gabrielle kreuzt die Arme vor der Brust. "Aber ich halte die Taschenlampe." Sie hakt sich bei Julie unter "So, Erik, du nimmst den anderen Arm... Perfekt. Seitenairbags."
Julie lässt sich von beiden nach draußen ziehen, bleibt einen Augenblick schwer atmend im Lichtkegel des Hauses stehen und nickt dann.
"Gehen wir. Aber ihr müsst mir wieder was schönes erzählen."

Ungeduldig blickt Lucas aus dem Fenster. Drüben brennt noch Licht. Neumond. Julie wird den Teufel tun und jetzt hierher zurückkommen. Vielleicht sollte er anrufen und fragen, ob er sie abholen kann.
Dann erstarrt er. Vom Haupthaus nähern sich Gestalten, eine davon wedelt mit einer Taschenlampe hin und her. Er erkennt Gabrielles Stimme, die ununterbrochen redet. Hoffentlich hat sie nicht vor, hier noch länger einzukehren. Er öffnet die Haustür und erkennt an Julies anderem Arm Erik. Etwas in ihm schnappt ein. Das ist nicht richtig. Er, Lucas, sollte jetzt da draußen bei ihr sein! Er sollte Julie im Arm hierher führen! Er zurrt seinen Morgenmantel fester zu.
"Julie?"
"Lucas!" Gabrielle quietscht "Bleib genau so stehen, Julie hat keinen Arm mehr frei."
Lucas macht einen Schritt zurück und überprüft noch einmal den Sitz seines Morgenmantels.
"Ist alles in Ordnung?"
Julie öffnet die Augen. Sie sind gleich da...
"Natürlich." ruft sie ihm entgegen.
"Sie hat zwei Helden an ihrer Seite. Ich kann... Kibotu!" Gabrielle hält die Taschenlampe direkt auf Lucas' Gesicht.
Der schirmt die Augen vor dem Licht ab, tapst entnervt auf seinen nackten Füßen nach draußen, tritt prompt in spitze Steine und Zweige und flucht. Aber schließlich ist er doch an Julies Seite.
"Ist wirklich alles in Ordnung?" vergewissert er sich und sieht Erik stirnrunzelnd an. "Um diese Zeit geht sie sonst nur in meiner Begleitung aus dem Haus."
"Tatsächlich?" entgegnet Erik kühl.
"Zumindest hat sie das bisher so gemacht!" grunzt Lucas feindselig zurück.
"Hallo? Ich bin auch noch da und ich höre euch." brummt Julie und sieht Lucas an "Und hör bitte auf, in meiner Gegenwart über mich zu reden, als sei ich nicht da."
Lucas gibt ein seltsames Geräusch von sich und macht einen Schritt zur Seite um den dreien den Weg zum Haus frei zu machen.
An der Tür bleibt Erik stehen und lässt Julies Arm los, um ihr kurz über den Rücken zu streichen.
"Ruh dich gut aus, ich will, dass du morgen an den Lernerfolg von heute anknüpfen kannst."
Lucas zieht scharf die Luft ein und drängt sich an Julies Seite, um sich nun statt Erik bei ihr unterzuhaken.
"Sie wird sich ausruhen. Dafür sorge ich schon." Er mustert Erik von oben bis unten. Dann wendet er sich an Julie. "Es hat heute also besser geklappt als sonst?"
"Du hast mir ja nicht zugehört, als ich es dir erzählen wollte." murrt sie und dreht sich noch einmal zu Erik und Gabrielle um. "Bis morgen. Und danke für die Begleitung und den schönen Abend."
"Das machen wir bald nochmal!" Gabrielle grinst "Über Männer lästern und so." Sie legt ihre Hände von hinten auf Eriks Schultern und lässt sich von ihm huckepack nehmen "Tschüss, Lucas!"
Der knallt die Tür zu.
"Über Männer lästern und so." äfft er Gabrielle nach. "Was soll das?"
Seufzend geht Julie ins Bad.
"Julie!"
Sie schließt die Tür und lässt sich Badewasser ein.
"So nicht, Lucas. Ich hab keine Lust in dem Ton mit dir zu diskutieren. Ich habe einen schönen Abend mit meinen Freunden verbracht und du machst mir deshalb kein schlechtes Gewissen!" Sie schält sich aus ihrem Topund zieht die Vorhänge zu.
"Julie, ich glaube wir müssen reden!" tönt es von draußen.
"Ich nicht, Lucas. Ich bin müde und morgen muss ich früh raus. Wenn du mir zugehört hättest, wüsstest du das." Sie öffnet ihren BH und taucht einen Arm in das Badewasser. Zu kalt...
"Ich werde jetzt packen. Morgen Nachmittag fliege ich zurück nach Kanada. Meine Mutter hat angerufen und mich darum gebeten. Ich hätte sie zwar vertrösten können, aber ich glaube im Augenblick nicht, dass es irgendeinen Sinn macht hierzubleiben, wenn wir uns nur noch streiten."
Sie nickt und zieht sich die Hose aus.
"Gut. Falls wir uns morgen nicht mehr sehen sollten, wünsche ich dir einen guten Flug. Ruf an, wenn du akzeptiert hast, dass ich auch einen schönen Abend ohne dich verbringen kann." Dann steigt sie in die Wanne und taucht unter.