Als
Julie aufwacht, ist das Zimmer leer. Tag eins nach Lucas. Sie hat
sich nicht mehr bei ihm gemeldet und scheinbar hat er sich auch nicht
die Mühe gemacht, sie erreichen zu wollen, denn ihr Handy zeigt
keine versäumten Anrufe an. Sie schaltet es aus und vergräbt
es in einer Jackentasche. Hastig sucht sie dann ihre übrigen
Kleidungsstücke zusammen und verschwindet im Bad, ehe sie sich
auf die Suche nach Gabrielle und Erik macht.Sie findet die beiden auf der Terrasse.
Gabrielle sitzt auf Eriks Schoß, eng an ihn gekuschelt. Julie
lächelt und geht zu ihnen.
"Guten Morgen. Stör ich?"
"M-mh." schnurrt Gabrielle
"Setz dich, iss was... Erik hat heute frei, wir wollen nachher
spazieren gehen und du kommst mit. Wenn du willst."
"Klar, wenn wir heute nicht
singen... oder später." Julie schaut Erik fragend an.
"Das ist Arbeit!" ruft
Gabrielle tadelnd. "Das könnt ihr nicht machen. Nicht
heute."
"Du rufst nachher den Nonnenchor
an, Gabrielle, dann kann ich ruhig ein wenig Unterricht geben."
Erik tippt ihr gegen die Stirn "Fünfzehn Uhr, vergiss es
nicht."
Julie zieht sich einen Stuhl zurecht
und setzt sich.
"Wo wollt ihr spazieren gehen?"
"Im Wald. Der gehört ganz
allein Erik. Und wo du grad Uhrzeit sagst, Erik, dein Zeug ist
fällig."
Er seufzt.
"Hast du
denn an deine Phasenprophylaxe und das Antidepressivum gedacht?"
"Jaja."
"Gut. Dann lass mich mal
aufstehen." Er erhebt sich und verschwindet in der Küche.
Die Terrassentür macht er hinter sich zu, so dass Julie nicht
erkennen kann, was er drinnen tut.
Stirnrunzelnd sieht Julie ihm nach.
"Ist er krank?" fragt sie
leise.
"Mmh... Wie mans sieht..."
Gabrielle reckt sich.
"Ich
hoffe, es ist nicht so schlimm?" Julie hält die Luft an und
betrachtet Gabrielle, die heuteein T-Shirt trägt. Zum ersten Mal sieht sie
Gabrielles nackte Arme und versteht, warum sie trotz der Hitze bisher
immer nur langärmlige Oberteile getragen hat: An ihren
Handgelenken sind blasse Narben zu sehen. Entlang ihrer Venen läuft
Reihe von Einstichen in unterschiedlichen Stadien der Heilung... dann
hatte sie wohl recht. Das Methadon gehört Gabrielle.
"Oh, alles halb so wild."
Gabrielle folgt Julies Blick. "Die sind vom Blutabnehmen."
erklärt sie "Erik muss immer meinen Serumspiegel messen,
damit meine Phasenprophylaxe richtig dosiert werden kann."
"Ah."
macht Julie und wendetden Blick ab. "Und das macht er selbst? Kein Arzt?"
"Immer zum Arzt
zu gehen, wäre zu umständlich. Erik will, dass ich
lückenlos überwacht bin."
Hm.Julie dreht sich noch einmal der verschlossenen Tür
zu. Wenn die Einstiche in Gabrielles Armen nicht von Drogen sondern
vom Blutabnehmen kommen, würde das bedeuten, dass das
Methadon...
Erik zieht eine Taschenuhr hervor.
"Gabrielle, du hast noch eine
halbe Stunde Zeit, ehe du den Nonnenchor anrufen musst."
Sie stöhnt.
"Ja... Da muss ich euch wohl jetzt
den wilden Tieren überlassen." sie löst sich von Eriks
Arm und steht auf. "Danach mach ich Mittagsschlaf, glaub ich,
ich bin total im Eimer..."
Julie winkt ihr nach, dann dreht sich
dann zu Erik.
"Du hast dein Versprechen übrigens
noch nicht gehalten."
"Versprechen? Ach, du meinst deine
Belohung?"
Sie grinst und starrt auf den Bachlauf
vor ihnen.
"Ja, genau. Du hast mir
versprochen zu singen, und es dann doch nicht gemacht."
"Welch grause Tat." Erik
schüttelt den Kopf. "Nun... Schicke ich mich also ins
Grab." Er erhebt sich und schlägt einige Grashalme von
seiner Hose. "Ich singe das 'Requiem' aus Mozarts... Requiem,
leicht variiert; es wurde nicht für eine einzelne Stimme
geschrieben, und ich behalte mir eine Textänderung vor."
Für einen Moment schließt er die Augen, dann hebt er den
Blick auf die Baumwipfel und beginnt zu singen: "Requiem
aeternam dona mihi, Domine, et lux perpetua luceat mihi..."
Julie
lässt sich ins Gras sinken und schließt die Augen, hört
nur noch seineweiche, klagendeStimme. Sie lächelt.
"Das war wirklich eine schöne
Belohnung." murmelt sie als er geendet hat.
Erik lässt sich einen halben Meter
neben ihn wieder ins Gras sinken und mustert Julies Gesicht. Sie ist
erschreckend schön, wenn sie glücklich ist. Er stützt
seinen Kopf in die Hand und versucht, an etwas anderes zu denken.
"Es freut mich, dass es dir
gefallen hat." sagt er umständlich.
Julie rollt sich auf die Seite und
blickt ihn an.
"Ich könnte mich glatt daran
gewöhnen. Wenn du immer für mich singst, wenn ich gut war,
habe noch eine viel größere Motivation, alles richtig zu
machen."
"Ist das eine Form von
Bestechung?" fragt er leise und lehnt sich an den Baum hinter
ihm.
Sie schmunzelt.
"Wenn du es so nennen willst. Du
solltest eine eigene CD machen, finde ich." Sie zupft ein paar
Grashalme aus der Wiese und verdreht sie. "Besteht die
Möglichkeit, dass du irgendwann doch mal 'Music of the Night'
für mich singst?... Oder nein." Sie richtet sich hastig auf
"Wie wär's mit 'Point of no Return'? Das mag ich noch viel
lieber... wir denken uns einfach, dass es ein Lied ist, das das
Phantom ganz allein singt, und ich höre dir zu und genieße."
"You have come here in pursuit of
your deepest urge/In pursuit of that wish, which till now has been
silent, silent..." er bricht ab und schüttelt den Kopf.
Julie
legt sich wiederauf den Bauch und sieht Erik mit großen Augen an.
"Was hast du? Ich... ich fand es
sehr schön..."
"Der Text ist übertrieben,
die Musik simpel. Ich singe lieber Mozart oder Händel."
"Also, mit gefällt es
trotzdem." Sie verschränkt die Arme unter ihrem Kopf.
"Perfect Music finde ich übrigens auch toll... Oh und in
Ken Hills 'Phantom of the Opera' gibt es dieses 'How dare she'... im
Original ist das von Verdi..." Sie legt die Stirn in Falten und
denkt kurz nach "Oh inferno! Amelia qui! Das gefällt mir
auch ziemlich gut."
"Fortune plango
vulnera/Stillantibus occelis/Quod sua mihi munera/Subtrahit
rebellis." antwortet er nur. "Vielleicht singe ich es an
einem anderen Tag für dich."
"Ich hatte kein Latein." sie
verzieht das Gesicht "Aber du musst es auch nicht singen, wenn
es dir nicht gefällt. Nur weil ich irgendwann Christine Daaé
singen möchte, muss ich ja nicht jeden zwingen, sich für
Webber zu begeistern. Es gibt wirklich bessere Komponisten."
"Die Wunden, die Fortuna schlug,
beklage ich mit nassen Augen, weil sie mir ihre Gaben entzieht, die
Widerspenstige." übersetzt Erik und legt seine Hand leicht
auf Julies Rücken.
Die
schließt die Augen und lächelt. Zum ersten Mal seit Tagen
fühlt sie sich wiederrichtig wohl und frei, wissend, dass sie nicht mit einem
Streit rechnen muss, wenn sie nach Hause kommt. Sie braucht sich
nicht mehr zu rechtfertigen, mit wem sie ihre Zeit verbringt.
Erik mustert ihren Gesichtsausdruck
voll Skepsis, während er zögernd beginnt, Julies Rücken
zu streicheln. Ihre unverhohlene Zufriedenheit passt einfach nicht
mit ihrem Hinweis auf den Zustand ihrer Beziehung zu Lucas zusammen.
"Wo wirst du heute Nacht
schlafen?" fragt er schließlich.
"Im Gästehaus würde ich
sagen. Dann habt ihr Ruhe und mein Schnarchen stört euch nicht."
Ohne es zu merken, neigt sie den Kopf ein wenig zur Seite, wie sie es
immer getan hat, wenn Lucas ihr den Rücken gestreichelt hat.
"Du willst dich deiner Angst
ausliefern?"
"Irgendetwas
muss sich jaändern, jetzt wo Lucas nicht mehr da ist... Keine
Ahnung, ob er nochmal wiederkommt. Undwenn keiner mehr auf mich aufpasst, muss ich eben alleine
zurechtkommen." Sie zuckt mit den Schultern und schnurrt, als
Eriks Finger genau die richtige Stelle zwischen ihren
Schulterblättern finden. "Schön."
Erik hält inne. Schließlich
zieht er seine Hand zurück und lehnt seinen Hinterkopf an den
Baumstamm.
"Daran bin ich schuld, nicht wahr?
Mit meiner Einladung zu dieser Audition."
"Unsinn!"
Er schweigt und spielt mit seinen
langen Fingern in den Grashalmen. Lucas ist weg und wird
wahrscheinlich nicht wieder zurückkommen... Er schüttelt
den Kopf.
"Es
hat wirklich nichts mit dir und Gabrielle zu tun. Ich habe nur keine Lust mehr, mich vor Lucas dafür rechtfertigen
zu müssen, wen ich mag und wen nicht. Und ich lasse mir auchnicht seine Meinung aufdrücken. Wenn er mich anruft
und sich entschuldigt - von mir aus... aber ich werde mich nicht mehr
melden und nachgeben, das habe ich in den letzten Jahrenoft genug gemacht." Sie dreht sich langsam auf die
Seite und zupft ein paar Grashalme von Eriks Bein, die sie dann in
den Fingern verzwirbelt.
Erik schließt die Augen. Er würde
sie so gern wieder berühren...
"Es steht noch eine
Unterrichtseinheit im Raum." sagt er schließlich "Wenn
es dir recht ist, werde ich dich vorher massieren, das hat auch schon
Gabrielle geholfen - falls du dich erinnerst."
Julie quiekt begeistert.
"Massieren? Oh ja bitte. Gleich
hier?" Sie streicht sich die Haare aus dem Nacken.
Erik drückt sich vom Baum ab und
kniet sich neben Julie ins Gras. Er legt seine Linke quer über
ihr Kreuzbein und die Rechte längs zwischen ihre
Schulterblätter; dann verlagert er langsam sein Gewicht auf
seine Hände.
"Melde dich, wenn es weh tut."
"Nein, es ist wirklich schön."
murmelt sie und schließt die Augen. "Der Nacken tut
übrigens weh." Sie muss unbedingt daran denken, Aimée
anzurufen, damit sie ihr das Kissen nachschickt.
"So, genau so, will ich dich bei
den Aufnahmen hören." Erik bemüht sich seine Stimme
ruhig klingen zu lassen, doch er versagt kläglich. Was immer es
ist, das mit ihm passierte, während Julie für ihn sang, es
gibt ihm das Gefühl, im Auge eines Sturms zu stehen; und das
Chaos draußen kommt immer näher.
"Das macht nur deine Massage."
meint sie und lässt sich wieder ins Gras fallen "Oh, und
die Belohnung, die ich eben bekommen habe..." Sie umklammert
ihre Knie mit den Armen und beobachtet ihn interessiert.
"Die Entspannung, ja..."
murmelt er abwesend und lässt sich wieder am Baum nieder "Du
solltest Lucas davon erzählen."
Julie stöhnt.
"Warum
erinnerst du mich jetzt an den? Ich hab mich grade so gut gefühlt." Sie
steckt die Beine aus und rubbelt ihre Knie. "Ich werde mich
nicht mehr bei ihm melden. Jedenfalls nicht in nächster Zeit. Du
hast doch gehört, ohne ihn geht es meiner Stimme gleich viel
besser."
"Ja..." er stützt seinen
Kopf in die Hände, steht dann aber sofort wieder auf "Lass
uns jetzt zurückgehen. Komm." er hastet los.
Sie
springt ebenfallsauf und läuft hinter ihm her.
"Wie sieht dein Plan noch aus für
heute? Du willst bestimmt noch etwas mit Gabrielle machen?"
fragt sie, während sie versucht, mit ihm Schritt zu halten.
"Vielleicht. Ich weiß es
nicht. Warum willst du das wissen?"
Sie zuckt mit den Schultern.
"Nur so, ich überlege, wie
mein Tag noch weiter aussieht."
"Ah." Er bleibt kurz stehen,
kreuzt die Arme vor der Brust und schaut sich hastig um, dann geht er
weiter "Wenn es Gabrielle gut geht, kannst du ja noch etwas mit
ihr unternehmen."
Julie legt den Kopf schief.
"Und du? Was machst du dann?"
"Ich habe noch zu tun."
"Schade..."
Er bleibt stehen und starrt Julie an.
Sein Atem geht etwas schneller vom Laufen.
"Wir sehen uns doch morgen im
Unterricht wieder."
"Natürlich."
verunsichert erwidert sie seinen Blick. "Wieder um neun Uhr, wie immer?"
Warum hat er es jetzt plötzlich so eilig? Und hatte Gabrielle
nicht gesagt, er hätte heute frei? Sie presst die Lippen zusammen. Sie hätte sich eben
nicht so an ihn heranmachen sollen. Er muss denken, dass sie
versuchen will, sich mit ihm zu trösten,jetzt, wo sie mit Lucas Streit hat. Aber das ist es nicht.
Was auchimmer
sie zu ihm zieht, ist etwas ganz anderes...
Erik nickt.
"Neun Uhr."
Stumm starrt Julie das Telefon an.
Nichts. Das Handy hat sie schon vor einer Stunde wieder eingeschaltet
und neben sich gelegt. Sonst hat es nie so lange gedauert, bis sich
einer von ihnen nach einem Streit wieder gemeldet hat.
Sie
hat keine Ahnung, was nun werden soll. Heute Morgen war sie nochfest davon überzeugt, Lucas für immer in die
Wüste schicken zu wollen, sich höchstens noch einmal bei
ihm zu melden, um ihre Sachen aus der gemeinsamen Wohnung zu holen.
Und
dann war da Erik. Sie schließt die Augen und spürt noch
einmal seine Hände auf ihrem Rücken, in ihrem Nacken.
Unweigerlich lächelt sie. Was ist nur los mit ihr? Sie hat sich
noch nie so gefühlt wie in seiner Nähe. Diese totaleUnruhe, wenn sie ihn ansieht, seine Stimme hört...
Wenn er singt... Sie seufzt. Sie hat noch niemanden so singen hören.
Aber was soll das nur werden? Selbst, wenn sie nicht mehr mit Lucas
zusammenkommt, kann sie sich doch nicht sofort wieder Hals über Kopf in
irgendetwas Neues stürzen. Erst recht nicht, wenn sie keine
Ahnung hat, was genau sie für Erik fühlt; sie weiß
nur, dass sie irgend etwas immer wieder in seine Nähe zieht. Was
er über sie denkt, ist ihr mindestens genau so schleierhaft.
Manchmal glaub sie, dass er gerne mit ihr zusammen ist, und dann
wieder, so wie gestern Abend undheute Nachmittag, ignoriert er sie oder flieht fast vor ihr.
Vielleicht
ist das alles auch bloß Einbildung. Ihre Beziehung ist
angeknackst und Erik ist der einzige Mann, zu dem sie momentan
Kontakt hat. Wahrscheinlich ist es ganz normal, sie sucht wohl
tatsächlich nur einen Trost, um leichter über ihren Streit
mit Lucas wegzukommen. Sie öffnet die Augenund tastet nach dem Handy. Noch immer nichts. Dieses Mal
meldet er sich nicht mehr.
Leise klopft er an ihre Zimmertür.
"Gabrielle?"
Drinnen rascheln Decken, dann hört
er ihre Stimme "Ja?"
"Darf ich reinkommen?"
"Klar." sie lässt ihren
Kopf zurück in die Kissen fallen "Was ist?"
Er schließt die Tür hinter
sich und geht durch das abgedunkelte Zimmer zu Gabrielles Bett, um
sich auf den Rand zu setzen und sie besorgt zu mustern.
"Wie fühlst du dich?"
"Es geht wieder. Vorhin kam ein
ziemliches Loch, aber jetzt hab ich nur noch Kopfschmerzen und bin
müde." sie seufzt "Ich versuche, einfach nicht dran zu
denken... Du siehst auch nicht sonderlich gut aus." Sie nimmt
seine Hand und legt sie auf ihr Gesicht "Du hast jetzt schon
keine Lust, hinzufahren."
"Ich hatte noch nie Lust dazu."
"Sie ist immer noch unsere
Mutter." sie schließt die Augen "Was hast du noch mit
Julie gemacht?"
"Gesungen." antwortet er
steif "Sie hat einen kleinen Durchbruch geschafft. Ich hoffe,
sie kann das morgen reproduzieren. Dein Vorschlag, sie zu massieren
war sehr gut."
Verwundert blinzelt Gabrielle ihn an.
"Bist du irgendwie sauer auf sie?"
"Nein." er atmet durch "Ich
bin nur etwas durcheinander."
"Wegen Mama oder wegen Julie?"
"Julie... Ihre Stimme hat mich
heute vollkommen..." er bricht ab.
Gabrielle nimmt seine Hand wieder von
ihrem Gesicht und starrt ihn kurz an.
"Lässt du mich noch was
schlafen?" fragt sie dann leise "Ich bin so müde."
"Guten Morgen". Etwas
zerknittert betritt Julie das Musikzimmer, wirft ihre Jacke über
den Stuhl und blinzelt ihn an."Guten Morgen." er knetet
seine Hände und mustert Julie starr. Seit sechs Uhr heute morgen
ist er damit beschäftigt, sich einzureden, dass das, was ihre
Stimme gestern in ihm auslöste, nichts außergewöhnliches
war, sondern nur Freude darüber, dass sie dabei ist, ihren
Durchbruch zu schaffen; Verwirrung, weil sie sich ihm gegenüber
seit ein paar Tagen so frei verhält, Unverständnis für
die sonderbaren Vorgänge in ihrer Beziehung zu Lucas. Er wird
sie heute wieder hören und seine Gefühle werden sich
vollkommen normal verhalten. "Singe zum Aufwärmen bitte ein
paar Tonleitern."
Julie zwingt sich zu einem Lächeln
und tut, was er von ihr verlangt. Sie heftet ihren Blick auf ihn,
doch als sich ihre Augen zu begegnen drohen, weicht sie aus.
'Wenigstens das ist wieder beim alten.'
denkt Erik sarkastisch und lauscht halbherzig auf ihre immer reiner
und sicherer werdenden Tönen.
"Sehr gut. Jetzt würde ich
gerne 'Belong' von dir hören. Kannst du Text und Melodie
mittlerweile auswendig?"
"Ja." antwortet sie und ballt
die Hände zu Fäusten. Wenn Lucas heute Abend noch nicht
angerufen hat, wird sie es tun.
'Alles beim alten.' denkt sie, während
sie darauf wartet, dass Erik ihr den Einsatz gibt. Sie redet sich das
alles nur ein.
Julie ist keine zehn Takte weit
gekommen, als Erik sie unterbricht.
"Entschuldige mich kurz..."
Damit hastet er aus dem Instrumentenraum hinunter in sein Zimmer,
reißt das Katana von der Wand und beginnt, auf den Baumstamm
einzuschlagen.
"Nein!
Nein, nein, nein, nein, nein!"
Es kann nicht sein, dass er sich in sie verliebt! Es ist Schwachsinn,
sich zu verlieben, wenn man einen mit Haut bespannten Totenschädel
als Gesicht hat! Es ist Schwachsinn, sich als Vierzigjähriger in
eine Zwanzigjährige zu verlieben! Es ist Schwachsinn, sich in
eine Frau zu verlieben, die noch voll kommen in eine andere Beziehung
verstrickt ist, mit einem Mann, der einen ohne ersichtlichen Grund
hasst! "Nein!"
knurrt er noch einmal, tief und guttural. Dann schiebt er das Katana
zurück in die Shirasaya und hängt es wieder an die Wand.
Er atmet ein und wieder aus und kehrt in den Instrumentenraum zurück.
Verunsichert steht Julie auf, als er
zurückkommt. Er sieht irgendwie anders aus. Sein Haar fällt
ihm wirr über die Schultern und seine Kleidung sitzt nicht ganz
richtig.
"Ist alles in Ordnung?" fragt
sie leise.
"Ja." Er nimmt auf dem
Klavierhocker platz und legt seine Hände auf die Tasten. "Können
wir?"
Sie nickt.
"Natürlich."
Ein zögerlicher Blick in seine Richtung. Er wirkt ruhig, trotzdem ist irgendetwas nicht in Ordnung.
"Denke an dein Becken. Gestern
hattest du es perfekt eingerichtet. Versuche, das zu reproduzieren."
Er atmet tief durch "Und bitte."
Sie versucht, sich zu erinnern. Seine
Hände in ihrem Nacken. Sie war vollkommen entspannt. Nein, das
war falsch. Sie kann sich nicht mit ihm über Lucas trösten.
Es wäre unfair Erik gegenüber.
Sie schüttelt die Arme aus und
beginnt von neuem.
Ihre Stimme trifft ihn wie ein Schlag,
doch er hält stand und bemüht sich, zu ignorieren, dass die
in schwülstige Floskeln gepresste Aussage des Textes durch
Julies Interpretation plötzlich Leben und Richtung gewinnt. Es
ist nur ein Text, eine Verkettung von sinnlosen Lauten, die der
Stimme als Vorwand dient und nicht ihn, Erik, meint; die von ihm
geschriebene Melodie ist, worauf es ankommt, die Melodie und ihre
Variation, ausgeführt mit langsam brillant werdender Technik.
"Sehr gut." murmelt er, als
es vorbei ist.
'Wenigstens begehrst du sie nicht.'
Zweifelnd sieht Julie ihn an und zieht
die Augenbrauen hoch.
"Bist du dir sicher?"
"Verdammt sicher." seufzt er
mit einer Spur Resignation. "Die Qualität von gestern hast
du nicht erreicht, aber im Vergleich zu deinen ersten Stunden ist
dein Fortschritt eklatant."
Sie lächelt.
"Das
ist schön." Warum nur hat sie das Gefühl, dass er sich nicht darüber
freut? Es ist sein Verdienst, wenn ihr Gesang sich verbessert hat. Er
müsste verdammt zufrieden mit sich sein.
Erik nickt langsam mit geschlossenen
Augen. Was er fühlt, ist Schwachsinn. Es kann nur in Verletzung
und Schmerz resultieren.
"Ich möchte, dass du dich
jetzt einmal an 'Fille noire' versuchst. Wenn dir die Spitzentöne
und die letzte Koloratur nicht ganz gelingen, ist das in Ordnung, du
wirst das Stück bald meistern. Seite zehn."
Sie kramt die Noten aus ihrer Tasche
und blättert hastig, bis sie die Seite findet.
"Und du bist dir ganz sicher, dass
alles in Ordnung ist?" Es muss der nahende Todestag seiner
Mutter sein, genau wie gestern...
"Willst du singen oder mich
ausfragen?"
Julie verdreht die Augen.
"Nicht so gereizt. Dein Singvogel
schreitet schon zur Tat." Sie studiert die Noten und wartet dann
auf sein Zeichen.
"Konzentriere dich vor allem auf
die melancholische Grundstimmung. Hast du die orchestrale Version
noch im Ohr?"
"Ja. Gib mir einfach den Einsatz
und ich versuche es."
Erik nickt und spielt das Intro.
Traurig... sie war traurig, als Lucas
keine Zeit für sie hatte... als er den Aufstand gemacht hat,
weil sie das Korsett angezogen hat.
Sie schließt fest ihre Augen und
beginnt.
Als Julie ihre Noten wieder einsammelt,
geht Erik zum Fenster hinüber und lehnt sich dagegen.
"Gabrielle und ich werden morgen
in einer Woche für zwei Tage wegfahren. Wir besuchen das Grab
unserer Mutter. Gabrielle wird in dieser Zeit schwer depressiv und
psychotisch sein, deshalb kann ich dir nicht anbieten, mitzukommen.
Du wärst also für eine Nacht ganz allein auf dem
Grundstück."
Julie zieht die Luft ein, bemüht
darum, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie diese Aussicht
erschreckt. Ganz allein auf dem riesigen Grundstück. Im
Dunkeln...
"Ist okay." murmelt sie.
Nein, ist es nicht. Sie wird tausend Tode sterben, bei jedem kleinen
Geräusch. Aber es ist nur eine einzige Nacht... Wenn sie an den
Tagen vorher ausreichend schläft, kann sie ohne Probleme bis zum
Morgengrauen wach sein...
"Es tut mir leid, Julie." er
beißt die Zähne zusammen "Vielleicht... kannst du
Lucas herholen."
Sie atmet tief durch.
"Nein,
kann ich nicht. Aber es wird schon gehen." Es muss
gehen.
"Das wird es. Ich soll dich
übrigens von Gabrielle grüßen und fragen, ob sie dich
besuchen darf, wenn sie sich wieder etwas besser fühlt."
"Natürlich." Sie dreht
sich noch einmal zu ihm "Geht es ihr immer noch so schlecht?
Gibt es... kann ich ihr irgendwie helfen?"
"Sie fängt gerade erst an,
sich schlecht zu fühlen." Erik lächelt schief und
folgt Julie durch den Flur. "Du tust schon sehr viel für
sie, indem du ihre Freundin bist. Sie ist ziemlich einsam; bis jetzt
ist noch jeder stiften gegangen, sobald er Gabrielle und mich näher
kennengelernt hat."
"Wie... wie ist ihre Mutter...
eure Mutter... war es sehr schlimm?" sie schüttelt sich. So
schlecht, wie die beiden drauf sind, muss es fürchterlich
gewesen sein...
Erik ballt seine Hände zu Fäusten.
"Darüber möchte ich
lieber nicht sprechen."
"Ist okay." Julie lächelt
ihn mitfühlend an, bevor sie ihm kurz über den Arm
streicht. "Aber wenn du reden magst... du weißt, wo ich zu
finden bin."
Erik zuckt bei ihrer Berührung
zusammen, nickt aber vage in ihre Richtung, ehe er sich von ihrer
Seite löst, um den privaten Teil des Hauptgebäudes zu
betreten.
"Bis morgen."
"Bis
morgen." Sie wirft Gabrielle, die wiederziemlich übermüdet und blass aussieht, einen
aufmunternden Blick zu und verschwindet durch die Haupttür.
"Hast du an dein Antidepressivum
gedacht?"
"Ja. Es schlägt auch ein,
aber ich fühl mich trotzdem wie ausgekotzt." sie kuschelt
sich in ihre Decke und beobachtet, wie sich die Videoleinwand vor dem
Wohnzimmerfenster niedersenkt.
"Du schaffst das schon." Erik
legt eine DVD ein und geht dann zu Gabrielle, um die Fernbedienung
neben ihr auf das Sofa zu legen.
"Klar. Ich habs bis jetzt immer
überlebt." sie verzieht das Gesicht. "Musst du
wirklich zu Julie gehen?"
"Ja. Ich kann sie nicht hier
lassen, wenn ich weiß, dass sie eine Nacht lang panisch
herumsitzen wird. Der Film lenkt dich ab, bis ich zurück bin.
Und falls doch etwas ist..." er deutet auf den Pieper an seinem
Gürtel.
"Jaja... grüß sie..."
Er beugt sich kurz vor, um Gabrielle
einen Kuss auf die Schläfe zu geben, dann setzt er seine Maske
auf und geht in sein Zimmer, um zu holen, was er benötigt.
Julie
hat sich in ihre Strickarbeit und Musik vertieft. Draußen ist
es bereits dunkel. Zu dunkel. In wenigen Tagen wird sie um diese Zeit
allein sein... Sie schluckt und zählt die Maschen auf der Nadel.
Als es klopft, wirft sie erschrockenihr Strickzeug von sich und greift nach dem Pfefferspray,
einem letzten Geschenk von Lucas. Auf zitternden Beinen geht sie an
die Tür und versucht, durch das Fenster etwas zu erkennen.
"Gabrielle?"
"Nein, Erik." er hält
die Fackel etwas näher an seine Maske.
Zögernd zieht Julieden Stuhl unter der Türklinke hervor und öffnet,
ohne jedoch das Pfefferspray aus der Hand zu legen. Sie atmet
erleichtert auf, als es tatsächlich Erik ist, der draußen
steht und grinst dann.
"Was ist mit dir passiert?"
Ein Umhang, an seiner Hüfte das Katana und in der Hand eine
riesige Fackel. Sie lacht unsicher. "Willst du mich überfallen?"
"Nein. Ich möchte dich auf
einen Spaziergang mitnehmen. Bis zu einem Flecken Gras, keine zehn
Meter von deinem Haus entfernt."
"Das ist nicht dein Ernst!"
Sie wirft einen Blick hinter ihn. "Es ist stockfinster und ich
soll da raus? Ohne richtigen Grund?"
"Ich bin bewaffnet und
gefährlich." er deutet auf das Katana an seiner Hüfte
"Niemand wird sich in deine Nähe wagen, solange ich bei dir
bin. Ich möchte dich vor dem Haus massieren, Julie. Als
Gegenkonditionierung zu diesem unseligen Überfall."
"Ich weiß nicht..." Sie
sieht an ihm vorbei in die Dunkelheit und dann zurück in das
helle Wohnzimmer hinter ihr. "Also... aber nur zehn Schritte..."
"Gut." er geht ein kleines
Stück rückwärts "Komm. Und mach das Licht im Haus
aus."
"Das Licht aus?" wiederholt
sie ängstlich "Aber dann seh ich gar nichts mehr."
"Du vergisst die Fackel."
"Erik!" Mit schweißnassen
Händen drückt sie auf den Lichtschalter und bleibt im
Türrahmen stehen. "Lass mich nicht allein!"
Er schließt kurz die Augen und
atmet tief durch. Angst. Sie hat nur Angst.
"Ich bin hier, Julie. Komm, das
sind keine fünf Schritte, das schaffst du ganz allein."
"Ich glaub, ich kann das nicht."
flüstert sie "Meine Beine zittern ganz doll."
"Atme tief und ruhig, als wolltest
du singen. Ich komme dir entgegen. Quid pro quo, für jeden
Schritt, den du machst, mache ich auch einen."
Sie setzt langsam einen Fuß nach
vorne, die eine Hand fest um das Pfefferspray geschlossen, die andere
ruht noch am Türrahmen.
"Ich habe einen Schritt gemacht."
"Sehr gut." er hält die
Fackel ein wenig höher und bewegt sich ein wohlbemessenes Stück
auf Julie zu. "Jetzt bist du wieder dran."
Vorsichtig lässt sie den Türrahmen
los und atmet schwer. Ganz ruhig... ganz ruhig... Sie geht ein
Stückchen weiter.
"Noch einer. Hast du gesehen?"
"Ja, das habe ich." Sein
Schritt ist eben so winzig wie ihrer. "Du bist wieder dran."
"Ich kann nicht mehr."
"Kannst du nicht mehr oder willst
du nicht mehr?" er streckt ihr seine Hand entgegen "Wenn du
dich vorreckst, kannst du mich schon fast berühren."
Zitternd streckt sie die linke Hand
vor.
"Stimmt
nicht, du hast dich dochfast gar nicht bewegt." Sie tapst ein kleines Stück
weiter. "Lass mich nicht allein hier draußen!" fleht
sie noch einmal
"Ich bin immer noch hier, Julie.
Und ich gehe nicht weg, ich verspreche es. Komm, mach noch einen
letzten Schritt."
Sie streckt die Hand aus und beugt sich
ein Stück weiter nach vorne. Erst als sie seinen Arm berühren
kann, zieht sie sich zu ihm und klammert sich ängstlich an ihn.
Ihr ganzer Körper bebt und sie fühlt sich schrecklich.
"Das ist kein schöner
Spaziergang gewesen bis jetzt." brummt sie.
"Du bist sehr tapfer." Erik
legt kurz den Arm um sie. Dann drückt er ihr die Fackel in die
Hand und nimmt seinen Umhang ab, um ihn auf der Wiese vor sich
auszubreiten. "Jetzt leg dich hin. Auf den Bauch."
"Hier draußen?" fragt
sie ungläubig.
"Natürlich." er nimmt
ihr die Fackel wieder ab und rammt sie in den Boden. Sein Katana legt
er gleich daneben, und kniet sich auf den Umhang, alles ohne Julies
Hand loszulassen. "Komm."
Langsam kniet sie sich neben ihn,
klammert sich fester an ihn und das Pfefferspray und schluckt schwer.
"Es ist so dunkel hier draußen."
"Ja, das ist es. Jetzt leg dich
hin. Dir wird nichts passieren."
"Versprochen?" Vorsichtig
legt sie sich auf den Bauch, die Augen ängstlich auf jede
Bewegung, jeden Schatten jenseits des Lichtkegels der Fackel
richtend.
"Versprochen. Versuche, dich zu
entspannen." Er legt seine eine Hand auf ihr Kreuzbein, die
andere zwischen ihre Schulterblätter. "Atme tief... Vertrau
mir..."
Sie schließt die Augen, aber es
gelingt ihr nicht, ruhiger zu atmen. Ihr ganzer Körper ist
verkrampft, bereit, aufzuspringen und zu fliehen. Er muss es merken.
"Tut mir leid." murmelt sie
"Ich vertraue dir, aber das passiert ganz automatisch..."
"Du brauchst dich nicht zu
entschuldigen." Sacht beginnt er, ihre steinharten Muskeln zu
bearbeiten, und fast instinktiv stimmt er einen wortlosen Gesang an,
der dem Rhythmus seiner Hände folgt.
Nach
und nach beruhigt sich Julies Atmung und schließlich spürt sie, wie sich auch ihr Körper langsam entspann. Wenn er nur nie mehr
aufhören würde zu singen...
Mit geschlossenen Augen zieht den
Moment in die Länge; doch so sehr er Julies Wärme unter
seinen Händen auch genießt, er beginnt bald, unruhig zu
werden. Er darf Gabrielle nicht so lange alleine lassen.
Schließlich bricht er den Kontakt
ab und verstummt.
"Was macht deine Angst?"
fragt er leise.
Julie schluckt und setzt sich hastig
auf.
"Bis
gerade ging es... " angestrengt starrt sie in die Flamme der Fackel. "Und jetzt?"
"Jetzt bring ich dich in dein Haus
zurück."
"Muss ich allein gehen, so wie
eben?" fragt sie ängstlich.
Erik erhebt sich.
"Ich trage dich, wenn du willst."
bietet er an, während er sein Katana wieder umlegt.
"Wirklich?" Sie steht hastig
auf und reicht ihm seinen Umhang.
"Ja." Du warst heute schon
tapfer genug."
Sie lächelt schwach und klammert
sich mit einer Hand an seiner Schulter fest, damit er sie heben kann.
"Wirst du heute Nacht schlafen
können?" fragt er, als er sie die paar Schritte zum Haus
trägt, die Tür mit dem Fuß aufschiebt und das Licht
einschaltet.
"Bestimmt." murmelt sie und
blinzelt, bis sich ihre Augen an das Licht gewöhnt haben. "Es
dauert immer ein wenig, aber es geht." Sie sieht ihn an. "Magst
du noch irgendetwas trinken? Einen Tee oder Milch mit Honig?"
Erik schüttelt den Kopf und stellt
Julie im hell erleuchteten Flur wieder auf ihre Füße.
"Nein, ich muss jetzt nach
Gabrielle sehen." er lächelt schief "Ich habe sie vor
dem Fernseher geparkt."
"Oh." macht sie "Dann
bestell ihr liebe Grüße. Ich hoffe, es geht ihr wieder
etwas besser?"
"Sie sagt, das Antidepressivum
schlägt an. Aber sie ist immer noch bipolar, das heißt,
das kann sich von einer Minute auf die andere ändern." Er
macht ein paar Schritte rückwärts. "Ich lasse die
Fackel im Rasen stecken, dann ist es noch etwas heller hier."
"Gut, danke." Julie lächelt
und lehnt sich gegen die Wand. "Dann sehen wir uns morgen früh?"
"So ist es. Gute Nacht, Julie."
Fußnoten:
Shirasaya - unbehandelte Scheide aus Magnolienholz, in der ein Katana längere Zeit gelagert werden kann, ohne dass der Stahl zu schwitzen beginnt
