Unschlüssig
starrt sie auf das Telefon. Soll sie ihn wirklich anrufen? Als
sieheute Nachmittag von ihrer Stunde zurückkam, hat sie
es klingeln gehört, war aber nicht schnell genug, um abzunehmen.
Es kann nur Lucas gewesen sein.Langsam tippt
sie seine Nummer ein und wartet. Tuuut... tuuut... Er muss gerade
Mittagspause machen. Um die Zeit hat er bisher immer frei gehabt.
"Oliver."
Sie lauscht mit
klopfendem Herzen. Die Leitung rauscht.
"Hallo?
Wer ist da?"
Sie schluckt.
"Hallo?"
Er klingt gereizt
"Lucas..."
flüstert sie.
"Julie! Oh
Gott sei Dank." er seufzt "Ich versuche schonseit
Tagen, dich zu erreichen, aber du hebst nicht ab. Wo warst du?
Sonntagnacht ist keiner ans Telefon gegangen in deiner Wohnung, und
am Montag war dein Handy ausgeschaltet..."
"Tut mir
leid. Ich habe bei Gabrielle übernachtet." sagt sie leise.
Er zieht die
Luft ein.
"Geht es
dir gut?" fragt er dann.
"Eigentlich...
ja."
"Oh,
schön." Er klingt verletzt.
"Und dir?"
erkundigt sie sich rasch und legt ihren Kopf auf die Lehne des Sofas.
"Es könnte
durchaus besser sein. Der Stress bei der Arbeit und dann wirfst du
mich noch raus..."
"Ich habe
nur... Ach Lucas. Ich war einfach sauer. Aber ich glaube esist wirklichbesser, wenn wir uns ein paar Wochen nicht
sehen."
"Bringt er
dich immer noch im Dunkeln nach Hause?" grollt er.
"Sei doch
nicht albern." Sie denkt an den letzten Abend mit Erik "Er
begleitet mich, wenn ich ihn darum bitte. Ich kann nicht allein gehen
und du bist nicht da. Außerdem... ich bin abends meistens
allein zuhause."
Lucas seufzt.
"Du willst
wirklich nicht, dass ich wiederkomme?" fragt er leise.
Sie schließt
die Augen und schüttelt den Kopf. Es fällt ihr schwer
weiterzusprechen.
"Erstmal
nicht. Versteh mich nicht falsch, aber ich glaube, wir müssen
beide mal eine Pause machen. Und deine Eltern brauchen dich..."
"Darf ich
dich trotzdem anrufen?... Es muss ja nicht jeden Abend sein..."
fügt er hastig hinzu.
Julie lächelt.
"Natürlich.
Ich würde mich freuen, ab und zu mal was von dir zu hören."
"Julie?"
"Ja?"
Es klopft.
Julie fährt hoch.
"Ist alles
in Ordnung?"
"Ja klar,
es... hat nur geklopft..." Sie geht mit dem Telefon zur Tür
und späht nach draußen. Erik! Sie zieht die Luft ein.
Bewaffnet mit einer Fackel... Sie ahnt, was nun bevorsteht.
"Julie?
Bist du noch da?"
"Was?
Ja... Du, ich muss aufhören..."
"Aber ich
wollte dir doch nur sagen, dass..."
"Ich weiß,
Lucas." unterbricht sie ihn rasch "Ich leg jetzt auf,
schlaf gut."
Langsam zieht
sie den Stuhl unter der Türklinke hervor und öffnet die Tür
einen kleinen Spalt.
"Guten
Abend, Erik... "
"Guten
Abend. Ich hoffe, ich störe nicht." Er schaut kurz auf das
Telefon in ihrer Hand.
Julie folgt
seinem Blick.
"Oh,
das... Nein, ist schon vorbei." Sie legt das Telefon zur Seite.
"Du bist nicht gekommen, um mich zu besuchen, nehme ich an?"
Sie deutet auf die Fackel in seiner Hand. Sie ist kleiner als
gestern. Aber wenigstens hat er sein Katana noch bei sich.
Erik lächelt
und tritt genau fünf Schritte zurück.
"Mach das
Licht aus und komm zu mir."
Mit
zusammengepressten Lippen drückt Julie auf den Schalter.
"Es ist
viel dunkler als gestern." sagt sie leise. "Geh nicht so
weit weg!" Sie atmet schwer und ballt die Hände zu Fäusten.
Langsam setzt sie einen Fuß nach vorne und keucht.
"Fünf
Schritte, Julie, genau wie gestern. Und jetzt..." er beantwortet
ihren Schritt "... sind es nur noch drei."
"Ich habe
Angst." Ihre Hände sind schweißnass. Sie schließt
die Augen und tritt ein kleines Stück weiter in seine Richtung.
Wenn sie es geschafft hat, wird er vielleicht wieder für sie
singen.
"Ich weiß,
dass du Angst hast. Mach noch einen Schritt, dann bist du bei mir."
Sie streckt die
Arme vor.
"Gib mir
deine Hand!" Sie stolpert das letzte Stück auf ihn zu und
hält sich dann zitternd an ihm fest.
"Das hast
du wirklich gut gemacht, Julie. Viel besser als gestern." er
streichelt kurz ihren Rücken. "Hältst du wieder die
Fackel, während ich den Umhang ausbreite?"
"Wie
fühlst du dich?" fragt er mit einem prüfenden Blick in
ihr Gesicht, als er sie an der Tür wieder auf ihre Füße
stellt.
"Ich hab
mich schon besser gefühlt." stammelt sie "Aber es wird
langsam." Sie stützt sich mit einer Hand am Türrahmen
ab und betrachtet ihn, wobei sie seinem Blick nicht lange standhalten
kann. Sie will jetzt nicht schon allein sein in dieser stillen
Wohnung, aber sie hat auchkeine Lust, Lucas noch einmal
anzurufen und ihm damit Hoffnungen zu machen, dass alles
wieder gut wird.
"Magst du
noch kurz mitrein kommen?" sie deutet Richtung
Wohnzimmer.
Unsicher wirft
Erik einen Blick auf das Haupthaus. Aber alles in allem hatte
Gabrielle heute einen guten Tag und sie schlief fest, als er ging...
"Eine
halbe Stunde kann ich sie sicher noch allein lassen."
Julie legt
besorgt die Stirn in Falten, als sie sich an ihre Gesangsstunde am
Morgen erinnert. Gabrielle lag wie ein krankes Kind in eine Decke
gehüllt auf der Chaiselongue im Musikzimmer und sah ihnen zu,
bevor sie sichwieder in ihr Zimmer zurückzog.
"Wie geht
es ihr?" fragt sie und schließt die Tür hinter Erik.
"Nach
ihrem Mittagsschlaf ging es etwas besser. Ich konnte sie zum Essen
bewegen; danach hat sie geschwiegen und friedlich Löcher in die
Luft gestarrt. Aber im Vergleich mit den letzten Jahren hält sie
sich sehr gut."
"Wie lange
ist das jetzt her... das mit eurer Mutter?" Sie bleibt ihm
Türrahmen stehen und deutet auf die Küche. "Magst du
was trinken?"
"Nein,
danke." er lässt sich auf dem Sofa nieder "Neunundzwanzig
Jahre ist es her."
"Das ist
eine lange Zeit." Julie denkt kurz nach "Wie ist eure
Mutter gestorben? War sie krank?" Sie setzt sich neben Erik und
schlägt die Beine übereinander.
"Nein."
er krampft die Hände in seine Oberarme "Sie
war immer kerngesund."
Julie sieht auf
und nickt.
"Gabrielle
hat schon erzählt, dass sie als Kind ziemlich häufig krank
war. Dann war es ein Unfall?"
"Mord. Und
ich wäre dir dankbar, wenn wir jetzt das Thema wechseln
könnten."
Sie zieht die
Luft ein und wirft Erik einen mitfühlenden Blick zu. Natürlich
macht ihn das Thema wütend, sie würde wahrscheinlich
ähnlich reagieren, wenn jemand ihren Vater getötet hätte.
"Was macht
der Nonnenchor?" fragt sie also.
"Ich
hoffe, er schmort in der Hölle." Erik knurrt "Ich habe
schon mit 'Weltstars' gearbeitet, aber diese Nonnen... Sie
eigenwillig zu nennen, wäre eine Untertreibung."
Julie grinst.
"Sie sind
zu Höherem berufen. Ihr Gesang dient einzig dem Herrgott und nur
ihm soll er gefallen." Sie nimmt sich einen Keks aus der
geöffneten Dose und hält sie dann Erik hin.
Der hebt
abwehrend die Hand.
"Danke.
Leider ist bei diesen Nonnen das Gegenteil der Fall. Sie wollen
besser klingen, als sie sind. Doch das digitale Vertuschen falscher
Töne steht im Widerspruch zu meiner Geschäftsphilosophie."
er zuckt die Schultern.
Julie knabbert
an ihrem Keks.
"Und mit
mir bist du jetzt einigermaßen zufrieden?"
"Mit dir
bin ich sehr zufrieden. Ich denke, 'Belong' und 'In the Dark' werden
wir bald aufnehmen können. Für 'Fille noire' werde ich eine
Fristverlängerung herausschlagen." Er legt den Kopf schief
und mustert Julie prüfend "Wie geht es deinem Freund? Ist
ihm dieser Fortschritt zu verdanken?"
"Bestimmt
nicht. Ich habe eben das erste Mal wieder mit ihm geredet. Keine
Ahnung wie das endet." Lustlos lässt sie den Keks sinken.
"Was ist mit dir? Hast du eine Freundin?"
Erik versteift
sich.
"Nein."
Sie nickt
unmerklich. Das war es, was sie auch von Gabrielle gehört hat.
"Aber du
hattest schon mal eine?"
Misstrauisch
und eine Spur unsicher schaut er in Julies Gesicht. Sein Mund zuckt.
"Auch das
nicht." er wendet den Blick wieder ab.
"Aber..."
Sie runzelt die Stirn. Niemals? Die Frauen sollten seinem Talent
reihenweise zu Füßen liegen, seiner Stimme... Vielleicht
ist er schwul... Nein. Sie schiebt den Gedanken zur Seite. Unmöglich.
Er hat nichts, aber auch gar nichts an sich, das darauf deuten
könnte, dass er auf Männer steht. Dann erinnert sie sich
plötzlich wieder an das Methadon im Kühlschrank, die
Einstiche in Gabrielles Armen, die, wie sie sagt, vom Blutabnehmen
kommen... Erik hat ein Drogenproblem. Vielleicht ist das der Grund
dafür, dass er keine Frau hat? Aber davor... selbst davor hat er
keine gehabt? Vielleicht... ist er impotent?... Sie seufzt und
mustert zögernd seine verkrampfte Gestalt.
"Warum?"
fragt sie leise.
Erik schließt
die Augen. Seine Zuneigung zu Julie... er könnte sie in diesem
Moment töten, einfach, indem er seine Maske abnimmt und ihr sein
Gesicht zuwendet. Bleich, mit weit aufgerissenen Augen, würde
sie ihn anstarren, vielleicht schreien, vielleicht sogar in die
Dunkelheit hinaus fliehen. Leise stößt er die Luft aus und
schaut einen Moment lang zur Decke.
"Es hat
sich nie so ergeben." antwortet er schließlich.
"Dastut mir leid." Sie presst die Fingerspitzen gegeneinander
und sieht ihn nicht an, als sie leise fortfährt: "In eurer
Küche... in dem Kühlschrank..." sie räuspert sich
"Das Methadon... es ist nicht von Gabrielle, oder? Machst...
machst du einen Entzug?"
"Nein."
er mustert seine Finger, die irgendwo auf seiner Kleidung einen
Grashalm gefunden haben und diesen nun zu einer Kugel verzwirbeln
"Das Methadon ist meine Droge." er schließt
den Halm in seiner Faust ein und erhebt sich "Ich muss jetzt
nach Gabrielle sehen."
Julie springt
auf und legt ihm eine Hand auf den Arm. Sie hat keine Ahnung, was sie
sagen soll. Schließlich lässt sie die Hand wieder sinken
und seufzt.
"Danke,
dass du heute Abend wieder vorbeigekommen bist."
Erik nickt kurz
und verlässt das Wohnzimmer.
"Wir sehen
uns dann morgen um neun."
"Um neun."
wiederholt sie. Dann schließt sie die Tür
hinter ihm.
'Methadon.'
denkt sie, während sie den Stuhl wieder unter der Tür
verkeilt. Alles, was sie darüber weiß, ist, dass es
Menschen verschrieben wird, die einen Heroinentzug machen. Wenn sie
das nächste Mal ihre Emails abruft, sollte sie sich die Zeit
nehmen, mehr darüber in Erfahrung zu bringen.
Als sie sich
vollkommen sicher ist, alles verriegelt zu haben, greift sie nach
ihrem Discman und geht nach oben.
Im Haupthaus
brennt noch Licht, als sie die Vorhänge zuzieht. Was er jetzt
wohl tut? Geht er noch einmal zu Gabrielle und erzählt ihr von
dem Abend? Oder kommt Gabrielle in sein Zimmer und schläft in
seinem Bett, weil es ihr heute wieder schlecht geht? So gern sie
Gabrielle auch hat, sie kann sich vorstellen, dass es eine Frau an
Eriks Seite nicht immer leicht haben wird. Gabrielle braucht sehr
viel Zuwendung und wahrscheinlich müsste eine andere Frau wegen
ihr ziemlich viel zurückstecken.
Nachdenklich
legt sich ins Bett und steckt sich die Kopfhörer in die Ohren.
Als Erik über
die Terrasse die Küche betritt, entdeckt er Gabrielle als
kleines Häuflein Elend mitten auf dem kalten Steinboden.
Mit einem
unterdrückten Fluch hastet er zu ihr hinüber und lässt
sich neben ihr auf die Knie fallen.
"Ich bin
aufgewacht und du warst noch nicht wieder da!" schluchzt sie
vorwurfsvoll. "Ich hab gerufen und dann hab ich aus dem Fenster
geguckt und da hast du Julie durch die Gegend getragen und ich
dachte, du kommst gleich zu mir, aber dann bist du mit reingegangen!"
"Gabrielle,
es tut mir leid!" schuldbewusst legt er ihr seinen Umhang über
die Schultern und zieht sie an sich "Es tut mir so leid, ich
dachte, du wachst so früh nicht auf."
Ein
tränennasses Gesicht presst sich an seinen Hals und er schließt
die Augen.
"Es hat
sich angefühlt, als würdest du nie wieder zurückkommen!
Darf... darf ich in deinem Bett schlafen?"
"Natürlich."
Vorsichtig nimmt er sie auf den Arm und macht sich auf den Weg in
sein Schlafzimmer.
"Aber
morgen gehts mir bestimmt schon wieder besser. Wir könnten was
zusammen machen, nur du und ich, ja?"
"Morgen
kommt der Chor für den Soundtrack, das kann ich wirklich nicht
absagen."
Ihre Augen
füllen sich wieder mit Tränen.
"Aber du
kannst doch Julies Unterricht ausfallen lassen oder so!"
Er schüttelt
den Kopf.
"Wir
müssen jeden Tag nutzen. Reicht es nicht, wenn wir vor dem
Frühstück zusammen auf der Terrasse sitzen?" Er lässt
sich auf dem Bett nieder, Gabrielle auf seinem Schoß "Du
kannst auch wieder beim Unterricht zusehen, wenn du möchtest.
Julie hat sicher nichts dagegen. Ich soll dir übrigens Grüße
von ihr bestellen. Sie macht sich auch Sorgen um dich."
"Wirklich?"
Gabrielle schnieft und lehnt erschöpft den Kopf an Eriks
Schulter.
"Wirklich."
er schiebt sie von sich herunter und steht auf.
Gähnend
mustert sie seinen unterernährten Körper, während er
in seine Schlafbekleidung wechselt.
"Lucas ist
viel dicker als du."
Erik wirft ihr
einen Blick zu.
"Und Julie
ist dicker als du."
"Na und?"
Gabrielle streckt ihm die Zunge raus und lässt sich auf dem Bett
umfallen. "Kraulst du mich, bis ich einschlafe?"
"Natürlich."
Neun Uhr. Die
Rezeption liegt verlassen vor ihr. Ob Gabrielle immer noch so
schlecht drauf ist? Langsam setzt sie ihren Weg zum Musikzimmer fort,
klopft dann kurz und tritt ein.
Das gleiche
Bild wie am Vortag: Gabrielle liegt in eine Decke gehüllt auf
der Chaiselongue.
Julie nickt
Erik kurz zu und geht dann zu Gabrielle, um ihr kurz über die
Wange zu streichen.
"Hey, wie
gehts dir heute?" Sie wirft Erik einen flüchtigen,
sorgenvollen Blick zu.
Gabrielle
knurrt und versteckt ihren Kopf unter der Decke.
"Es geht
mir gut!" faucht sie gedämpft "Ich hab nur zu wenig
geschlafen und bin müde. Erik geht nach den Soundchecks für
den Chor mit mir spazieren, dann ist es bestimmt schon dunkel."
"Julie."
Erik schüttelt den Kopf in ihre Richtung, um zu sagen 'Lass
sie.' "Ich würde heute gern noch einmal 'Belong' mit dir
proben, außerdem auch 'In the Dark'. Ich habe für beide
Stücke die Aufnahmen vom Orchester hier, und ich möchte,
dass du singst, als wären heute deine Aufnahmen. Wenn danach
noch Zeit ist, wirst du auch 'Fille noire' noch einmal versuchen,
aber ich würde gern zeitig Schluss machen, da der Chor
wahrscheinlich überpünktlich sein wird."
"Ich will
im Aufnahmeraum sitzen." kommt es gespielt begeistert von der
Chaiselongue "Ich will dir zugucken!"
Erik seufzt.
"Gabrielle,
du weißt, dass da während einer Aufnahme kein Platz für
dich ist."
"Na gut.
Dann... dann mach ich was mit Julie bis der Chor wieder weg ist. Ja,
Julie? Du wolltest mir doch zeigen, wie man Socken strickt."
eine schlaffe weiße Hand taucht aus dem Deckenwust auf und legt
sich über Gabrielles geschlossene Augen "Ich bin bestimmt
wieder frisch und munter bis der Unterricht vorbei ist."
Julie kramt die
Noten aus ihrer Tasche und nickt.
"Klar, ich
wollte dir eh vorschlagen, dass wir nachher spazieren gehen könnten."
Sie wirft Erik einen weiterenraschen Blick zu und beginnt
dann leise, sich einzusingen.
"Du wirst
immer besser." meint Gabrielle, kuschelt sich in ihren Pulli und
klettert umständlich durchs Unterholz neben dem Waldweg.
"Danke, es
macht aber auch Spaß, bei Erik Unterricht zu haben."
entgegnet Julie. Sie beobachtet Gabrielle besorgt aus dem
Augenwinkel. "Geht es dir wieder besser? Du siehst immer noch so
blass aus."
"Ach, das
bin ich immer, ich hatte nur heute keine Lust, es zu überschminken."
Sie rupft ein Blatt von einem tiefhängenden Ast.
Julie zupft
ebenfallsein paar Blätter von einem Busch und spielt
damit.
"Schön,
dass wir endlich mal wieder was miteinander machen können."
"Ja. Hast
du deinem Papa schon erzählt, wer dich jetzt unterrichtet?"
Julie zieht die
Luft ein.
"Ich habe
seit Ostern nicht mehr mit ihm telefoniert. Wenn Lucas nichts erzählt
hat, weiß er nichts."
"Und
der... der kommt nicht mehr wieder, oder?" Gabrielle gräbt
ihre Hände in ihre Hosentaschen und schaut Julie aus dem
Augenwinkel an.
Die schüttelt
den Kopf.
"Erstmal
nicht. Ich habe gestern mit ihm telefoniert und ich glaube, er hat
eingesehen, dass uns eine Pause gut tun würde."
"Was heißt
'Pause'?"
"Pause
heißt Ruhe, kein Stress... keine Beziehung. Vorerst... Und wenn
wir beide damit gut klarkommen vielleicht auch später nicht
mehr."
"Aber
vielleicht kommt ihr wieder zusammen? Ich... ich meine, das wäre
doch schade. Oder?" Gabrielle runzelt die Stirn "Wie lange
wart ihr zusammen?"
"Seit wir
fünfzehn sind. Klar wäre es schade... Aber ich will auch
nicht in einer Beziehung stecken und unglücklich sein."
Julie schüttelt den Kopf. "Nein, vielleicht ist es besser
wenn es jetzt vorbei ist und jeder den Kopf klarkriegen und
vielleicht eine andere Beziehung eingehen kann. Ich meine, vielleicht
hast du auch recht... vielleicht merken wir, dass es ohne einander
nicht geht... aber wenn ich ehrlich bin, geht es mirim
Augenblick nicht schlecht ohne ihn." Sie seufzt und lässt
die Blätter fallen.
"Warum
seufzt du dann?" trotzig ballt Gabrielle ihre Hände zu
Fäusten.
"Nur so.
Ich leg mich jetzt nicht fest und sag dir, dass mit Lucasalles
wieder gut wird, wenn ich es selbst nicht weiß." Julie
kräuselt ärgerlich die Nase.
"Sei doch
nicht gleich sauer. Können wir uns bald wo hinsetzen?"
"Natürlich."
Julie deutet auf einen schattigen Fleck bei einer Reihe von Bäumen.
"Wie wärs da?"
"Mhm.
Was... was denkst du über Erik?" fragt Gabrielle leise,
während sich kurz darauf ins Gras setzt.
"Was soll
ich über ihn denken?" Mit Unschuldsmiene lässt sich
Julieneben sie fallen. "Er ist nett, intelligent...
musikalisch. Ich bin gern mit ihm zusammen. Genauso wie mit dir."
Gabrielles
Gesicht bleibt unbewegt.
"Du bist
meine beste Freundin, Julie, wusstest du das?"
"Nein."
Sie dreht Gabrielle den Kopf zu und lächelt.
"Ich hatte
schon andere Freundinnen, aber ein paar sind wieder gegangen, wenn
ich ihnen von meiner Krankheit erzählt habe, und ganz viele sind
wieder gegangen, wenn sie gemerkt haben, dass Erik nichts für
sie übrig hatte." angewidert verzieht Gabrielle das Gesicht
"Die wollten nur was von Erik, vor allem sein Geld... Ich finds
schön, dass du nicht so bist wie die."
Julie merkt,
dass sie rot wird.
"Nein, ich
interessiere mich nicht für Geld... und ich mag dich, ganz
unabhängig davon, was ich über Erik denke. Selbst, wenn ich
ihn nicht leiden könnte, fände ich dich immer noch nett und
würde meine Zeit mit dir verbringen." Sie streicht
Gabrielle kurz über die Schulter.
Gabrielle
schnüffelt, dann lässt sie ihren Kopf an Julies Schulter
sinken und wischt sich hastig mit ihrem Pulloverärmel über
die Augen.
"Hey, was
hast du denn?" Vorsichtig fährt Julie über Gabrielles
Perücke und betrachtet sie verwirrt.
"Du bist
viel zu nett zu mir." Gabrielle rubbelt sich mit beiden Händen
über das Gesicht. "Und Erik ist auch viel zu nett zu mir."
"Warum das
denn?" fragt Julie entsetzt.
"Ich...
ich bin schuld... ich... hab Geräusche gehört, aber ich war
so müde und bin erst runter gegangen, als... als es..." sie
bricht ab und zieht ihre Knie bis unter ihr Kinn "Schnell, sag
mir deine Lieblingsfarbe, meine ist Schwarz, wenn alles schwarz ist,
sieht man nichts mehr."
"Blau."
sagt Julie hastig und lässt Gabrielle nicht aus den Augen "So
wie der Himmel jetzt."
"Das Meer
ist blau, weil sich der Himmel drin spiegelt und der Himmel ist blau
vom Sauerstoff, es gibt nur Sauerstoffblau und das Blau von Blumen
und Regenbogen..." murmelt Gabrielle und beginnt, an ihrem
Daumen herumzureiben.
"Gut, dann
das Blau von Kornblumen." Julie legt ihr beruhigend eine Hand
auf den Arm.
"Es gibt
schwarze Rosen, aber die sind nicht wirklich schwarz. Ich züchte
welche mit großen Stacheln."
"Ich weiß,
Erik hat sie mir gezeigt. Sehr hübsch"
"Bei
Baccara-Rosen sind die Stacheln weggezüchtet. Aber Rosen ohne
Stacheln sind keine Rosen." Gabrielle setzt sich wieder
aufrecht, lehnt ihren Kopf zurück an den Baumstamm und presst
ihre Handballen gegen die Schläfen. "Was sind deine
Lieblingsblumen?"
"Orchideen.
Weiße Orchideen. Ich habe mal eine ganze Zeit lang versucht,
welche auf meiner Fensterbank zu ziehen, aber das hat nicht
geklappt."
"Orchideen
brauchen viel Zuspruch. Die lassen Teile von sich verwelken, wenn sie
zu wenig Licht oder Wasser bekommen; und wenn die Dürre vorbei
ist, beleben sie das angewelkte wieder."
"Ah. Na,
vielleicht klappt es mit deinen Ratschlägen bei der nächsten."
Julie lehnt sich gegen einen Baumstamm und starrt in den Himmel,
während Gabrielle die Augen schließt.
"Ich hab
ein Buch, das ich dir geben kann, wenn du magst... Störts dich,
wenn ich ein bisschen döse?"
"Nein, gar
nicht." Julie wirft Gabrielle einen Blick aus dem Augenwinkel
zu. "Naja, ich weiß nicht, ob ich mir hier Orchideen
anschaffen werde. Irgendwann werde ich wieder fliegen und ich
fürchte, das nehmen sie mir dann übel. Es sei denn, ich
überlasse sie dir..."
Gabrielle
schweigt einen Moment, dann nickt sie langsam.
"Ja, ich
kümmer mich gern darum."
"Schön.
Sag mal, du hast doch auch ne Email-Adresse. Dann kannst du mir ganz
einfach schreiben, wenn ich wieder in Québec bin, und
vielleicht kommt ihr mich mal besuchen... Wenn ich irgendwann
tatsächlich Christine Daaé spielen darf, müsst ihr
beiden unbedingt kommen und euch das ansehen, auch wenn Erik das
Webber-Musical langweilig findet."
"Erik geht
nie aus, aber ich komm gucken, versprochen..."
Julie zwingt
sich zu einem Lächeln.
"Das wäre
schön."
"Du musst
mir dann ein Autogramm geben." murmelt Gabrielle schläfrig
"Auf ein Foto von uns beiden."
Julie nickt und
streicht Gabrielle eine Strähne Haar aus dem Gesicht.
"Klar, wir
müssen unbedingt noch eins machen. Und das bekommt dann einen
Ehrenplatz. Aber bis ich wieder fliege, ist es ja auch noch eine
ganze Weile."
"Ja."
Gabrielle grinst matt "Und wir fragen Erik, ob er auch auf das
Foto mag."
M-é-t-h-a-d-o-n-e.
Langsam tippt Julie Buchstabe für Buchstabe in das Textfenster
ein. Enter. Enttäuscht überfliegt sie die wenigen Zeilen,
die vor ihr auftauchen. Wikipedia.fr ist nicht unbedingt
aufschlussreich. Ein Mittel, das 1937 von Deutschen entwickelt wurde,
synthetisch, zur Supplementierung bei Opiatentzug. Stirnrunzelnd
schließt sie das Browserfenster und öffnet ein neues.
Google... Orale Einnahme, nur selten als Injektionslösung
verabreicht, weil es dann ähnlich euphorisierend wie Morphium
wirkt. Sie presst die Lippen aufeinander und scrollt.
Verschreibungspflichtig... Einnahme unter ärztlicher Aufsicht,
wegen des unangenehmen Geschmacks meist in Orangensaft verabreicht.
Sie schreckt hoch, als das Telefon neben ihr klingelt. Automatisch
schließt sie alle Browserfenster und fährt den Rechner
herunter.
"Hallo?"
"Julie?"
Sie zieht die
Luft ein.
"Papa,
wie... wie kommst du an die Nummer?" ruft sie erschrocken aus.
"Lucas hat
sie mir gegeben. Ich habe gestern bei euch angerufen und er klang gar
nicht gut. Julie, was ist los bei euch? Warum hast du mir nicht
erzählt, dass du in Belgien bist und deinen großen
Durchbruch geschafft hast?"
Julie lehnt
sich zurück und fasst sich an die Stirn.
'Nur nicht
aufregen.' denkt sie 'Nicht laut werden, es geht bald vorbei.'
"Warum
rufst du bei uns zu Hause an?" fragt sie angespannt.
"Na hör
mal, ich habe seit Ostern nichts mehr von dir gehört!"
"Und das
hatte seine Gründe. Papa, immer wenn wir telefonieren, bekommen
wir uns am Ende doch wieder in die Haare."
"Warum
hast du mir nicht mal gesagt, dass ihr euch getrennt habt?"
Julie runzelt
die Stirn.
"Getrennt?
Sagt Lucas das, ja?"
Ihr Vater
schweigt einen Augenblick, bevor antwortet.
"Nein, ich
dachte nur, weil..." Er zögert und seufzt dann "Kind,
was machst du nur für Sachen? Du weißt genau, dass ich mir
das immer für dich gewünscht habe, und jetzt wirst du
wirklich berühmt. Ich wusste immer, dass du eine großartige
Sängerin bist, und wenn dich dieser Erik entdeckt, dann geht es
ihm wohl wie mir..."
Julie kramt
nach ihrem Handy und blättert hastig durch die Menüs. Da,
die Klingeltöne...
"Ich nehme
bloß einen Soundtrack auf. Wie der am Ende bei den Leuten
ankommt, kann weder Erik noch ich beeinflussen." erwidert sie
schwach.
"Ich weiß,
aber dass du gut bist. Und..."
Endlich... Das
Handy klingelt. Zufrieden schaut Julie auf das blinkende Display.
"Papa,
Aimee ruft mich auf dem Handy an. Es ist ganz wichtig. Ich melde mich
wieder bei dir, okay?"
"Ja.Machs gut, Kleines. Und grüß deine Agentin von mir."
"Bestimmt!"
Klack. Sie legt auf und stöhnt. Wie konnte Lucas ihrem Vater nur
die Nummer verraten? Sie legt das Handy zur Seite und schließt
die Augen.
Kaum fünf
Minuten später klingelt das Telefon erneut.
"Papa,
nicht schon wieder!" ruft sie entnervt.
"Guten
Abend, Julie."
"Ach,
Erik, Gott sei Dank." sie atmet erleichtert auf "Was
gibts?"
"Gabrielle
will nicht, dass ich sie alleine lasse. Ist es dir recht, wenn sie
bei der Massage dabei ist?"
"Wenn du
meinst, dass ich sie nicht zu sehr erschrecke..." Sie beißt
sich auf die Zunge. Das heißt, er wird heute Abend wieder zu
ihr kommen.
"Nein, sie
kennt solche Zustände auch von sich selbst. Wir sind dann gleich
bei dir."
"Okay."
In eine Decke
gewickelt beobachtet Gabrielle aus halbgeschlossenen Augen, wie sich
Julie bemüht, die drei Schritte bis zu Eriks Hand zurückzulegen.
Woher sie wohl ihre Angst hat? Und warum geht
Erik mit Julies Angst genau so um, wie mit ihren eigenen Ängsten?
Sie presst die Lippen aufeinender. Julie ist ihre Freundin,
ihre einzige Freundin, sie darf nicht eifersüchtig sein. Erik
tut das nur für Julies Stimme. Julies Stimme, die ihn verwirrt
hat...
Sie schüttelt
ärgerlich den Kopf und kuschelt sich tiefer in ihre Decke. Erik
macht sich nichts aus Frauen. Gar nichts. Und Frauen machen sich
nichts aus Erik.
"Denk an
was schönes, Gabrielle..." murmelt sie leise vor sich hin
"An was schönes..."
"Ich habs
geschafft!" murmelt Julie erleichtert und wartet darauf, dass
Erik seinen Umhang wieder auf dem Boden ausbreitet. Sie wirft
Gabrielle einen flüchtigen Blick zu und lächelt. "Ich
habs geschafft." Und das, obwohl die Fackel heute wieder ein
wenig kleiner war.
"Du bist
wundervoll." er streicht sacht mit dem Handrücken über
ihre Wange "Sehr tapfer." ergänzt er dann, ein wenig
steif. "Halt bitte die Fackel."
Julie mustert
ihn, während sie die Fackel von ihm nimmt. Er ist so völlig
anders als Lucas. Bisher hat sie sich nicht für andere Männer
interessiert. Keiner hätte es mit Lucas aufnehmen können
und nun... Erik ist einfach alles, was sie sich erträumt hätte,
all das, was Lucas nicht ist. Musikalisch, belesen, kreativ...
er interessiert sich für das Phantom der Oper... Sie versucht,
den Gedanken zu verdrängen. Unmöglich... Sie kann sich
nicht einfach an ihn heranmachen, so kurz nach Lucas... nur weil er
anders ist.
"Leg dich
hin. Auf den Bauch." Erik nimmt die Fackel zurück und rammt
sie in den Boden, dann kniet er sich neben Julie und platziert seine
Hände auf ihrem Rücken.
Während er
sie massiert und für sie singt, wandern seine Augen immer wieder
zu Gabrielle. Er ist dankbar dafür, dass er jetzt nicht mit
Julie allein ist. Das Chaos, das er kommen spürte, seit sie im
Wald für ihn sang, ist dabei, über ihn hereinzubrechen.
Seine Flucht, seine halbherzigen Versuche, sich zu wehren, das alles
war nutzlos. Und er bringt es nicht über sich, ihr sein Gesicht
zu zeigen.
Was ginge jetzt
in ihm vor, wenn ihn nicht Gabrielles Gegenwart dazu zwingen würde,
an etwas ganz anderes zu denken?
Er schüttelt
den Kopf. Warum musste er Julie auch anbieten, sie weiter zu
unterrichten? All dies hätte in wenigen Tagen vorbei sein
können... Er hätte es kommen sehen müssen.
Langsam lässt
er die Hände sinken und verstummt.
'Wenigstens
begehrst du sie nicht.'
Julie öffnet
die Augen und sucht seinen Blick.
"Wars das
schon für heute?" fragt sie leise.
"Entschuldige,
ich bin etwas unkonzentriert." Er weicht ihrem Blick aus und
schaut zu Gabrielle "Ich hoffe, sie wacht nicht auf, wenn ich
sie ins Haus trage."
Träge
richtet sich Julie auf und wirft Gabrielle einen kurzen Blick zu.
"Willst du
sie so lange hier liegen lassen, bis du mich rein gebracht hast?"
Erik legt sich
seinen Umhang über seine Schultern und mustert Gabrielle ein
weiteres mal. Er zögert.
"Sie
schläft und es ist warm. Vielleicht ist es sogar besser, wenn
ich sie noch ein Weilchen in Ruhe lasse..." murmelt er
schließlich. "Wenn wir die Haustür offen lassen, kann
ich sie im Auge behalten..."
Julie macht
einen kleinen Schritt auf ihn zu.
"Dann...
dann brauche ich dich wohl heute nicht zu fragen, ob du noch mal mit
reinkommen willst?" fragt sie leise und spielt mit einem Faden,
der sich aus ihrem T-Shirt gelöst hat
"Ich sagte
doch, für eine Weile kann ich mit hineinkommen." antwortet
er eine Spur aggressiv.
Sie zuckt
zusammen.
"Entschuldige."
murmelt sie und dreht sich noch einmal zu Gabrielle um "Ich
dachte, du würdest mich nur zur Tür bringen wollen und
Gabrielle von dort aus sehen..." Sie schüttelt den Kopf und
sucht nach seiner Hand. "Gehen wir?"
Unter dem
Vorwand, sein Katana zurechtzurücken, entzieht er ihr seine
Hand, nur um sie gleich danach um ihre Schulter zu legen.
"Beginnt
deine Angst schon nachzulassen?"
"Es ist
nicht mehr so schlimm wie nochvor zwei Tagen." antwortet
sie mit einem schwachen Lächeln "Wenn du bei mir bleibst,
geht es einigermaßen."
"Das ist
gut. Ich möchte nicht, dass du dich zu Tode fürchtest, wenn
Gabrielle und ich unterwegs sind."
"Ich muss
ja keine nächtlichen Wanderungen unternehmen." antwortet
sie und schließt kurz die Augen, als die Angst zurückzukommen
droht.
"Du wirst
das schon schaffen." er zieht sie kurz fester an sich und lässt
sie dann los, um sie vor sich in den Flur eintreten zu lassen "Ich
werde alle Tore zum Grundstück schließen und die
Überwachungskameras auf deinen Fernseher umleiten, so kannst du
das ganze Grundstück im Blick halten, wenn du willst."
"Hm."
macht sie und knotet ihren Pullover von der Hüfte, um ihn auf
einen Sessel zu werfen. "Möchtest du etwas trinken?"
'Nein, danke.'
nimmt sie seine Antwort in Gedanken vorweg.
"Nein,
danke." er lässt sich auf dem Sofa nieder und schließt
einen Moment die Augen.
Schmunzelnd
setzt sich Julie zu ihm.
"Wohin
fahrt ihr genau?"
"Briare.
In Frankreich."
"Ihr kommt
aus Frankreich?" erstaunt hebt sie die Augenbrauen.
"Ja."
"Aus
Briare?"
"Ja..."
Er runzelt die Stirn "Warum verwundert dich das?"
"Ach, ich
weiß nicht. Irgendwie dachte ich, ihr kommt aus Belgien. Keine
Ahnung warum..." Sie zuckt mit den Schultern.
Er öffnet
ein Auge, um erst Julie, dann zu Gabrielle zu mustern, die noch immer
so im Gras liegt, wie er sie zurückgelassen hat.
"Hast du
dein ganzes Leben am selben Ort zugebracht? Ich meine, bevor du
hierher gekommen bist"
"Ja."
"Das ist
schrecklich." er schlägt seine Beine übereinander und
legt seine Hände locker in seinen Schoß.
Julie schüttelt
den Kopf.
"Nein,
warum? Ich habe nichts vermisst, nur weil ich immer in Québec
gelebt habe."
"Ich würde
verrückt werden..." Selbstironisch zuckt er mit einer
Augenbraue.
"Tatsächlich?
Warum? Glaubst du nicht, dass man an einem einzigen Ort richtig
glücklich sein kann und für immer dort bleiben will?"
"Nein..."
er zögert "Orte... bergen Erinnerungen und Gefühle...
Hin und wieder muss man sie verlassen, sich... entwöhnen..."
er bricht ab.
"Wenn man
schreckliches erlebt hat, sicherlich..." Sie sieht ihn einen
Moment lang nachdenklich an und legt dann vorsichtig ihre Hand auf
seine. "Gabrielle hat erzählt, dass du oft abgehauen
bist... Hattest du Probleme mit deiner Mutter?"
Erik lacht
bitter, dann schweigt er einen Moment, seinen Blick fest auf
Gabrielle gerichtet.
"Unsere
Mutter litt an einer psychischen Krankheit, die sich
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom nennt. Sie hat Gabrielle und
auch mir Verletzungen zugefügt, und sich danach im Krankenhaus
rührend um uns gekümmert, während sie darauf achtete,
dass sich unsere Wunden auch entzündeten. Gabrielle weiß
nichts davon. Für sie besteht noch immer keine greifbare
Verbindung zwischen dem Verhalten ihrer Mutter und ihren eigenen
Krankheiten. Aber ich weiß es... Ich habe Roseanne gesehen, wie
sie Gabrielles Rücken verätzt hat."
"Was?"
entfährt es Julie entsetzt "Das ist schrecklich! So grausam
kann doch kein Mensch sein." Sie folgt seinem Blick und starrt
Gabrielle eine Weile lang an. "Das tut mir so leid. Hat denn
niemand etwas gemerkt? Die Ärzte oder die Nachbarn...
Verwandte?"
"Nein. Sie
war doch so eine aufopferungsvolle Mutter..."
"Solchen
Müttern gehören die Kinder weggenommen!" sie wendet
sich Erik rasch wieder zu und drückt seine Hand etwas fester.
"Tut mir leid. Was... was hat sie dir angetan?"
Er schüttelt
den Kopf.
"Zuviel...
Schnittwunden, Verbrennungen, Knochenbrüche... Ich werde es nie
verstehen..."
Julie schließt
einen kurzen Moment die Augen. Das sind Dinge, die sie sich gar nicht
vorstellen will.
"Ich kann
verstehen, dass du nicht sonderlich um sie trauerst." sagt sie
schließlich.
"Hah...
Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich sie für alles
hasse, was sie uns angetan hat. Nur Gabrielle... Gabrielle liebt sie
und es macht mich krank, sie trauern zu sehen..." er bricht ab
und bewegt gedankenverloren seine Hand unter Julies. "Ich sollte
jetzt besser gehen und dich nicht weiter mit diesem... emotionalen
Schmutz belasten..."
Sie schüttelt
den Kopf.
"Komm,
wann immer du willst, und erzähl mir davon. Du kannst das doch
auch nicht alles in dich reinfressen." Ihr Mundwinkel zuckt
mitfühlend.
Erik senkt
kopfschüttelnd den Blick, dann erhebt er sich mit einem Ruck,
der Julie seine Hand entreißt.
"Verstehe
meinen Hass, aber... spare dein Mitleid für Gabrielle auf."
Damit verlässt er ihr Wohnzimmer und ihr Haus.
Erschrocken
sieht Julie ihm nach, wie er Gabrielle auf die Arme hebt. Was hat
seine Mutter ihm noch alles angetan? Ist ihre Krankheit vielleicht
der Grund dafür, dass er eine Maske trägt? Vielleicht
versteckt er darunter ähnliche Verätzungen wie Gabrielle
unter ihrer Perücke. Erst als sie niemanden mehr draußen
erkennen kann, verkeilt sie den Stuhl unter der Tür und geht in
die Küche, um sich ein Honigbrot zu machen.
