Am nächsten
Morgen erwacht Gabrielle in ihrem eigenen Bett. Als sie ihren Arm
bewegt, spürt sie, dass Erik neben ihr liegt. Verschlafen setzt
sie sich auf.
"Hallo..."
Er wendet seine
Augen ihrem Gesicht zu und lächelt mit einem Mundwinkel.
"Hallo."
"Was ist
passiert?" zärtlich beginnt sie, seine Wange zu streicheln,
und legt sich wieder hin "Es geht dir schlecht, oder?"
"Nein, nicht
mehr."
"Okay."
sie kramt herum, bis sie ihre Füße aus ihrer verdrehten
Decke ziehen kann, und schmiegt sich dann an Erik "Ich bin
mittendrin eingeschlafen... Julie ist tapfer. Aber nicht so tapfer
wie ich, oder?"
Erik lacht leise.
"Niemand ist
tapferer als du."
"Ich bin die
beste." Gabrielle lächelt. "Ich habe ein bisschen
Hunger. Kommst du gleich mit frühstücken?"
"Natürlich."
Das selbe Spiel wie
an jedem der letzten drei Abende. Nur dass die Fackel wieder ein
Stück kleiner geworden ist.
Trotzdem liegt sie
beinahe entspannt unter seinen Händen und lauscht seinem Gesang.
Aus dem Augenwinkel kann sie Gabrielle außerhalb des
Lichtkegels auf ihrer Decke liegen sehen. Sie lächelt ihr ein
wenig gezwungen zu.
"Ich glaube,
ich gehe rein und leg mich bei dir schlafen, Erik." ruft
Gabrielle plötzlich und steht auf. "Gute Nacht, Julie."
Julie hebt den Kopf
an, blickt erstaunt zwischen Erik und Gabrielle hin und her.
"Gute Nacht,
Gabrielle." sagt sie dann, lässt den Kopf wieder sinken und
schließt die Augen.
"Sie fühlt
sich besser. Morgen wird sie herumspringen als sei nichts."
erklärt Erik leise.
"Und es wird
wieder schlechter, wenn ihr fahrt." vermutet Julie.
"Am Tag vorher
kann ich sie keine Minute allein lassen."
"Hm."
macht Julie nachdenklich und knurrt, als sich seine Finger in eine schmerzende Stelle drücken. Sie
muss Aimee noch immer wegen des Kissens anrufen.
Erik richtet seine
Gedanken fest auf Gabrielle, während er Julie weiterbehandelt.
Es tut weh und es hilft. Kopfschüttelnd lässt er nach einer
Weile seine Hände sinken und verstummt.
Langsam richtet sich
Julie auf und streicht ihr T-Shirt glatt.
"Magst du noch
kurz mit rein kommen, oder willst du Gabrielle nicht so lang alleine
lassen?"
"Ein paar
Minuten werde ich sicher erübrigen können." er hebt
seinen Umhang auf. "Und du wirst auch heute wieder auf deinen
eigenen Füßen zum Haus zurückgehen."
"Natürlich."
sie beobachtet, wie er seinen Umhang über die Schultern legt.
Ihr Blick verharrt einen Augenblick auf seiner Maske, dann hakt sie
sich bei ihm unter. "Gehen wir."
"Wie steht es
mit deiner Angst?"
"Besser. Nicht
gut, aber besser."
"Und deinem
Nacken?"
"Auch besser.
Ich muss unbedingt mit meiner Agentin telefonieren. Lucas werd ich um
diese Zeit eh nicht erreichen und Aimée hat noch den
Zweitschlüssel für die Wohnung, da kann sie mein Kissen
holen und mir nachschicken." Sie zieht sich am Türrahmen in
den nun hellen Flur und atmet erleichtert auf.
"Ich schlafe
ohne Kissen." Erik runzelt kurz die Stirn, dann geht er zum Sofa
und lässt sich darauf nieder. Erwartungsvoll schaut er Julie an.
Obwohl sie die
Antwort bereits jetzt kennt, fragt sie der Höflichkeit halber
doch: "Möchtest du etwas trinken?"
Er zieht zufrieden
seinen Mund in die Breite.
"Nein, danke."
"Sag mal..."
Julie setzt sich zu ihm. "Würde es dir etwas ausmachen,
wenn ich diese Frage beim nächsten Mal überspringe?"
Erik zuckt mit den
Schultern.
"Ich mag die
Frage." Selige Unwissenheit.
"Okay."
Sie kuschelt sich in die Kissen des Sofas und blickt ihn interessiert
an. "Trinkst du wegen deiner Maske nichts? Weil du sie dann
absetzen musst?"
Er nickt.
Nachdenklich legt sie die Stirn in Falten.
"Das... das ist
aber kein Spleen von dir, oder? Du hast darunter ähnliche
Verletzungen wie Gabrielle auf der Kopfhaut."
"Nein."
Überrascht
zieht die Augenbraue hoch.
"Nein? Du... du
bist nicht irgendwie... verletzt darunter?"
"Das kann man
sehen, wie man will. Und nun..." ruhig legt er seine Hand über
ihren Mund "... möchte ich dich bitten, nicht weiter danach
zu fragen."
Julie presst die
Lippen zusammen und nickt.Als er sie wieder loslässt, fixiert sie seine Augen
einen kurzen Moment lang, ehe sie den Blick wieder abwendet und die
Keksdose öffnet, die auf dem Tisch steht. Ohne nachzudenken hält
sie ihm die Dose hin.
"Das mit eurer
Mutter... Gabrielle hat gesagt, dass sie schuld daran ist..."
Erik wendet das
Gesicht ab.
"Ich werde
jetzt gehen."
"Machst du dir
Sorgen um Gabrielle?" Sie wälzt sich aus den Kissen und
richtet sich auf.
Er erhebt sich.
"Natürlich!
Ich mache mir ständig Sorgen um Gabrielle!" bricht es aus
ihm heraus "Sie ist manisch depressiv, sie ist traumatisiert,
sie hat ihren letzten Selbstmordversuch nur knapp überlebt, sie
steuert auf ihr Jahrestief zu; mein Leben besteht zur Zeit aus
Gabrielle und ein paar unwichtigen anderen Dingen!" unruhig
beginnt er, vor dem Wohnzimmertisch auf und ab zu laufen. "Du
kannst dir nicht vorstellen, wie groß meine Angst vor den
nächsten paar Tagen ist."
Julie geht zu ihm
und nimmt seine Hand.
"Ich habe dir
schon mal gesagt, dass du hierher kommen kannst, wenn du jemanden zum
Reden brauchst. Werd nicht gleich wieder wütend. Jeder muss
irgendwann mal seinen emotionalen Müll loswerden. Selbst du..."
sagt sie leise.
Schwer atmend starrt
er sie an, dann stößt er die Luft zu einem freudlosen
kleinen Lachen aus und legt kurz seine Hand auf Julies Schulter.
"Hab noch einen
schönen Abend. Morgen werde ich 'Belong' mit dir aufnehmen."
Damit verlässt er das Wohnzimmer.
"Ja, schönen
Abend noch."Als
er gegangen ist, schüttelt sie den Kopf,verkeilt den Stuhl unter der Tür und geht dann mit
ihrem Buch in der Hand hoch ins Schlafzimmer. Sie legt sich ins Bett,
nimmt den Hörer zur Hand und tippt Lucas' Nummer ein.
"Oliver."
"Lucas. Guten
A... Hallo." sagt sie leise und schließt die Augen.
"Oh, du bist
es." murmelt er. "Schön dass du anrufst. Ich hab nur
grade ganz wenig Zeit. Die Börse... irgendwie geht alles drunter
und drüber hier und meine..."
"Warum hast du
meinem Vater meine Nummer in Brüssel gegeben?" unterbricht
sie ihn.
Am anderen Ende der
Leitung seufzt es.
"Tut mir leid,
als er angerufen hat... Ich hab nicht nachgedacht."
Sie nickt verärgert.
"Du weißt
aber, wie stressig er werden kann, wenn es um meine Karriere geht?"
"Wie geht es
dir?"
"Mir? Danke,
bestens. Wir waren gerade wieder draußen und haben..."
"Draußen?
Julie bei euch ist es... zehn Uhr. Es muss dunkel sein. Wer ist
'wir'?"
"Erik und
ich... Oh, und Gabrielle."
Sie hört, wie
er die Luft einzieht.
"Was habt ihr
da draußen getrieben?"
"Erik versucht,
mir meine Angst abzugewöhnen, damit ich allein zurechtkomme,
wenn er nicht da ist."
"Er lässt
dich allein? Soll ich vorbeikommen? Wenn du mich..."
"Es ist nur
eine einzige Nacht. Und ich glaube, das schaff ich schon." fällt
sie ihm ins Wort.
Lucas stöhnt.
Irgendwelche Papiere rascheln. Beschäftigt er sich selbst jetzt,
wo sie telefonieren, mit seiner Arbeit?
"Wie?"
fragt er dann. Seine Stimme klingt heiser.
"Was wie?"
"Wie versucht
er, dir deine Angst abzugewöhnen?"
'Das willst du gar
nicht wissen.' denkt sie und schließt die Augen.
"Ach mit einer
Fackel und... ganz wenig Schritten und... so Sachen."
"So Sachen?"
"Lucas, was
glaubst du, was wir machen? Gabrielle ist dabei, frag sie doch
einfach, wenn du mir nicht glaubst." ruft Julie wütend.
"Entschuldige.
So, und nun leg ich auf, ich hab wirklich noch einen Berg Arbeit vor
mir."
"Ich hörs."
grunzt sie zornig, als erneut Papier raschelt.
"Julie?"
"Ja."
"Du weißt
schon..."
Sie nickt und legt
auf.
"Ja, ich weiß
schon, Lucas." Nach einem letzten kopfschüttelnden Blick
auf das Telefon dreht sich auf die Seite und steckt sich ihre
Kopfhörer in die Ohren.
Am nächsten
Morgen wird Erik davon geweckt, dass Gabrielle ihn angrinst."Du bist schon
wach?" er reibt sich die Augen.
"Ich geh jetzt
was raus."
"Es ist noch
vor Sonnenaufgang..."
"Den will ich
gucken. Kommst du mit?"
"Wirst du mich
brauchen?"
"M-mh! Ich
fühle mich gut.
Ooooh ja! Und ich geh jetzt und genieße das."
Erik gähnt.
"Sobald
irgendetwas ist..."
"Jaja, ich weiß
schon." Gabrielle gibt ihm einen flüchtigen Kuss auf die
Stirn "Dann komme ich sofort zurück."
"Und du nimmst
Phasenprophylaxe und..."
"Jahaaa!"
Damit verlässt sie das Zimmer.
Julie drückt
sich das weiche Kissen auf den Kopf. Lärm! Wie kann Gabrielle um
diese Uhrzeit so gut drauf sein und vor allem so laut singen?
Langsam richtet sie
sich auf. Das war die schlechteste Nacht seit langem. Zuerst konnte
sie vor lauter Aufregung über die bevorstehenden Aufnahmen nicht
einschlafen, dann ist sie ständig aus irgendwelchen düsteren
Alpträumen aufgeschreckt. Sie streckt sich. Gleich geht die
Sonne auf und wahrscheinlich ist es besser, aufzustehen und sich
frisch zu machen, bevor sie noch einmal einschläft und wiederso einen Müll träumt.
Sie lässt sich
ein Bad ein und wirft einen Blick aus dem Fenster. Sonnenaufgang. Sie
kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so früh
aufgestanden ist. Vielleicht sollte sie die frühen Stunden vor
den Aufnahmen nutzen und einen Spaziergang machen. Aber zuerst...Vorsichtig steigt sie in die Badewanne und schließt
die Augen.
Mit einer eleganten
Bewegung verneigt er sich vor seinen Gegnern, bindet sein Haar
zusammen und legt die leichte Stoffmaske wieder an.
Langsam zieht er
sein Katana aus der Saya und hebt dann das linke Bein über
seinen Kopf. Sein Blick fixiert den mannshohen Holzpfahl vor ihm, ehe
er plötzlich herumwirbelt und einen der Pfähle hinter ihm
genau an der Halsmarkierung durchschlägt. Er landet in einem
weiten Ausfallschritt, springt daraus mit einem Bogengang zu einem
Pfahl auf der anderen Seite des Kreises, enthauptet auch ihn, fegt
mit einigen Drehsprüngen zurück an seinen Ausgangspunkt,
und nachdem er mit seinem Tanz sämtliche seiner zwölf
Opponenten an präzisen Stellen in drei Teile geschlagen hat,
findet er sich wieder in der Kreismitte ein. Ruhig schiebt er das
Katana in die Saya zurück und will gerade seine Maske abnehmen,
um sich erneut zu verneigen, als ihn ein plötzliches Gefühl
in seinem Nacken herumfahren lässt.
An einen Baum
gestützt nickt Julie ihm zu.
"Das war
ziemlich eindrucksvoll."
"Oh..." er
nimmt sein Handtuch vom Boden und wischt sich den Schweiß aus
dem Nacken. "Wie... wie lange schaust du mir schon zu?"
"Zehn Minuten?"
Sie zuckt mit den Schultern "Keine Ahnung. Es sah wirklich..."
Gut? Attraktiv? Erotisch? "Professionell aus. Machst du das
schon lange?"
"Ich tanze,
seit ich denken kann."
"Das ist...
ungewöhnlich für einen Mann." Die Härchen auf
ihren Armen legen sich langsamwieder und sie tritt aus dem Schatten.
Schulterzuckend
kommt Erik ihr entgegen.
"Ich kenne
keine Form des Tanzes, in der nicht auch ein männlicher Part
möglich ist. Warum bist du so früh schon auf den Beinen?"
"Ich habe
schlecht geschlafen... aber das istnichts, was die Aufnahmen irgendwie behindern würde..."
ergänzt sie hastig "Ich habe ein schönes heißes
Bad genommen und wollte einen kleinen Spaziergang machen..." Sie
legt den Kopf schief. "Kannst du Walzer tanzen?"
"Natürlich."
er will an ihr vorbei von der Lichtung gehen "Wir sehen uns dann
um neun vor Studio 3."
"Magst du
Walzer tanzen?"
Er bleibt stehen und
schaut sie irritiert an.
"Was? Jetzt?
Hier? Julie, ich bin völlig verschwitzt..."
"Macht nichts.
Komm." Mit einem Grinsen streckt sie die Hand aus. "Wenn du
so gut mit deinem Katana umgehen kannst, will ich dich unbedingtmal beim Walzer erleben."
Erik seufzt und
lässt sich von ihr in die Mitte der Lichtung zurück ziehen.
"Ich denke, ich
muss dich nicht etikettentreu auffordern?"
"Aber ich bitte
darum." Julie bemüht sich, möglich gelangweilt
auszusehen. "Ich warte schon seit Stunden darauf, dass mich
jemand anspricht."
Er schüttelt
den Kopf, geht aber doch auf ihr Spiel ein und richtet sich zu seiner
vollen Größe auf.
"Welch
bedauernswerter Zustand. Und ein unverständlicher dazu.
Mademoiselle, vor Eurer Schönheit verblasst selbst das
Himmelsauge." er verneigt sich tief "Erweist Ihr mir die
Ehre des nächsten Tanzes?"
"Mit Freuden,
Monsieur." Zufrieden legt sie ihre Hand in seine.
Er deutet einen
Handkuss an, dann umfasst er leicht Julies Hüfte und zählt
den Rhythmus ein.
Zufrieden schließt
sie die Augen und lässt sich von ihm führen. Kein einziges
Mal tritt er ihr auf die Füße - nicht, dass sie das
erwartet hätte. Sie hat das Gefühl, ein paar Zentimeter
über dem Bodenzuschweben.
"Du machst das
gut." meint Erik nach einer Weile und reißt seine Augen
von ihrem Gesicht los.
Julie lächelt
und lehnt den Kopf leicht gegen seine Schulter.
"Man merkt also
gar nicht, dass ich das schon vier Jahre nicht mehr gemacht habe?"
"Nein. Wieso
hast du aufgehört?"
"Ach, ich hatte
keinen Tanzpartner, der meine Füße in Ruhe gelassen hat."
'Keinen, der so gut
tanzt wie du.'
"Das ist
schade. Was beherrschst du außer Walzer?"
"Die ganzen
Standardtänze, die man in den Tanzkursen lernt... Tango...
Rumba..."
"Mh, Tango..."
kann er sich nicht verkneifen.
"Mh ist... gut
oder schlecht?"
"Gut. Sehr
gut." er senkt den Blick und betrachtet die sommersprossige Haut
ihrer Schulter.
"Willst du
einen Tango mit mir wagen?"
"Gern.
Vorsicht..." er löst seine Hand von ihrer Hüfte und
wirbelt Julie einmal herum.
Ihre Augenbrauen
schnellen überrascht in die Höhe. Dann erinnert sie sich
wieder an ihren Unterricht und legt die Hand tangogerecht an Eriks
Schulterblatt.
"Ich bin..."
er bemüht sich um einen scherzend rauen Tonfall "...
temperamentvoller als es auf den ersten Blick scheint."
"Glaubst du?
Ich fand deinen Unterricht auch schon recht... aufregend." Sie
grinst.
"Entschuldige,
dass ich dich gereizt habe..."
Julie schüttelt
leicht den Kopf.
"Schon gut. Es
hat ja am Ende doch geholfen."
"Das beruhigt
mich."
"Hast du ein
schlechtes Gewissen gehabt?" Sie grinst ihn schief an.
Erik zuckt mit den
Schultern und wirbelt sie aufs Neue herum.
"Du hattest an
dem Tag schon genug Probleme; ich hätte dieses Experiment auf
einen anderen Tag verlegen sollen."
"Schon gut.
Jetzt hab ich ja keine Probleme mehr."
"Habt ihr euch
endlich wieder vertragen?" Seine Stimme klingt eine Spur hohl.
Julie runzelt die
Stirn, macht eine perfekte Drehung und landet wieder in seinen Armen.
"Nein... doch... Irgendwie schon, aber wir sind nicht mehr so
wirklich zusammen. Wir wollten erstmal eine Pause machen, aber ich
glaube, von meiner Seite wars das."
"Tatsächlich?"
Er beißt sich heftig auf die Lippe.
Julie nickt.
"Er fehlt mir
nicht und irgendwie... ach, ich weiß nicht. Ich fühle
einfach nicht mehr das, was ich früher mal gefühlt hab,
wenn ich mit ihm zusammen war."
"Urplötzlich?"
"Nein..."
Sie weicht seinem Blick aus. "Vielleicht hab ich nur urplötzlich
gemerkt, dass irgendwas nicht mehr stimmt."
Erik zögert,
dann beendet er den Tango und verneigt sich leicht vor Julie.
"Du singst
'Belong' sehr gut, dafür, dass deine Gefühle gerade in eine
ganz andere Richtung gehen."
Sie merkt, dass sie
errötet.
"Ach... das...
das hast du mir halt beigebracht."
"Dann lernst du
in der Tat sehr schnell." Er klaubt sein Handtuch vom Boden und
macht Anstalten, die Lichtung zu verlassen. "Gehst du noch etwas
spazieren?"
"Ja. Wir sehen
uns dann um neun im Studio 3?" Aufgeregt kaut sie auf ihrer
Lippe herum.
"So ist es."
Sie sieht ihm nach,
bis er ganz verschwunden ist. Dann geht sie langsam zu den
Holzpfählen, die er eben kunstvoll geköpft hat, und berührt
sie vorsichtig mit den Fingerspitzen. Was zur Hölle hat sie
gerade gemacht? Auf einer Waldlichtung mit ihrem Gesangslehrer
tanzen?
Sie muss verrückt
geworden sein. Bisher war ihr Leben doch so schön geordnet...
Vielleicht ein bisschen langweilig, aber nicht so verwirrend wie in
den letzten Wochen, seit sie Erik kennengelernt hat.
Sie duckt sich unter
einem Ast durch und genießt einen Augenblick lang die Aussicht.
Grüne Wiesen... Bäume, so weit das Auge reicht. Keine
Menschen und Ruhe.
Sie seufzt und
nähert sich einem kleinen Waldsee, an dessen Ufer sieniederkniet und kleine, flache Steine ins Wasser wirft.
Schließlich rafft sie sich auf und geht weiter. Sie ist nicht
zum Faulenzen hergekommen. Aulay ist krank und sie muss dringend nach
den Kräutern suchen, die sie für den Aufguss benötigt.
Unsicher schaut sie
sich um.Sie
ist seit Jahren nicht mehr so tief im Wald gewesen und hier... Sie
kann sich nicht daran erinnern, jemals hier gewesen zu sein. Deirdre
legt den Kopf schief und lauscht den Geräuschen, die sie
umgeben. Dem Zwitschern der Vögel, einem Rascheln im Gebüsch...
und da ist noch etwas. Eine seltsame Musik... Irgendwo in ihrer Nähe
singt jemand.
Ein Geräusch am
Rande der Lichtung lässt Connor den Kopf heben. Eine Frau steht
dort und beobachtet ihn mit großen Augen.
"Failte."
grüßt er sie leise und legt sein Beil bei Seite.
Sie lächelt
zaghaft und tritt näher.
"Failte."
Mit schief gelegtem Kopf und betrachtetsie die Form, die er aus dem Stück Holz hackt. "Ist
es mir erlaubt, Euer Werk anzusehen?"
"Tretet näher.
Wie lautet Euer Name?"
"Deirdre."
Sie fährt mit den Händen vorsichtig über das Holz.
"Wie heißt Ihr?" Interessiert betrachtet sie die
Ledermaske, die er trägt, die Augen, die dahinterin der Farbe von Bernstein leuchten.
"Connor."
Er setzt sich auf die fein gearbeitete Bank vor seinem Haus und
schlägt die Beine übereinander "Was treibt Euch in
einen solch abgelegenen Teil des Waldes?"
"Ich suche nach
Kräutern." Sie wirft einen bewundernden Blick auf die
Hütte. "Ich wusste nicht, dass hier draußen jemand
lebt."
"Kaum jemand
weiß davon. Deshalb ist es so friedlich hier."
Deirdre nickt
zustimmend.
"Das dachte ich
eben auch. Ich habe Euch singen gehört."
"Oh... Ich
hoffe, es hat Euch gefallen."
Sie stellt ihren
Korb ab und fährt noch einmal über das Holz, das er
bearbeitet hat.
"Es war
wunderschön. Seid Ihr ein Künstler?"
"Ja."
"Was soll das
werden?" Sie deutet auf seine Arbeit.
Connor erhebt sich
und tritt neben Deirdre, um seine Hand auf das grob zugehauene
Werkstück zu legen.
"Ich weiß
es noch nicht... eine Gestalt... vielleicht... eine schöne
Frau."
"Oh." Sie
bückt sich um ihren Korb wieder aufzunehmen "Ich bin mir
sicher, dass es recht hübsch werden wird." Sie nickt ihm
zu. "Nun, ich werde gehen, mein Jüngster hat das Fieber und
braucht dringend Medizin. Beannachd leat!"
"Ich hoffe, er
wird bald gesund. Beannachd leat."
Nach einiger Zeit
hat Deirdre die Kräuter gefunden und macht sich auf den Heimweg.
Jaimie hat gerade die Schafe auf die Weide vor dem Haus getrieben und
winkt ihr zu, als er durch die Tür tritt. Besorgt mustert erAulay, der schweißnass auf seinem Strohsack in der
Küche liegt. Deirdre brüht die frischenKräuter in einem Becher zu einem Tee auf, süßt
ihn mit etwas Honig und geht dann wieder zu ihrem Jüngsten.
Während sie die
feuchten Tücher auf seiner Stirn und seinen Wadendurch neue ersetzt, denkt sie an Connor. Sein Gesang hatte
etwas sonderbaranziehendes, vertrautes. Sie muss bald wieder dorthin
gehen, um ihn noch einmal zu hören.
Mit einem leisen
Seufzen streicht sie Aulay über die glühende Wange und
setzt sich dann zu Jamie an ihr Spinnrad.
Wenige Tage darauf
betritt die Frau - wie hieß sie noch? - wieder den offenen
Garten vor seinem Haus.
"Failte."
grüßt er sie über seine Schulter und konzentriert
sich wieder auf seine Arbeit
Deirdre nickt ihm
freundlich zu.
"Die Kräuter
gehen aus." sagt sie und zeigt auf ihren Korb. "Kommt Ihr
mit Eurem Kunstwerk voran?"
"Was?" er
hält inne. "Was sagtet ihr?"
"Ich fragte, ob
Ihr gut vorankommt." Sie deutet auf das Holz vor ihm, das
bereits wesentlich eindeutigere Formen hat, als noch vor wenigen
Tagen.
"Ja, wie Ihr
seht, nimmt sie Gestalt an... Deirdre, nicht wahr? Euer... euer Kind
ist noch nicht wieder gesund?"
"Das Fieber
sinkt nur wenig." Sie schüttelt den Kopf. "Ich dachte,
wenn ich wieder hier bin, könnte ich auchein paar Pilze sammeln. Dort hinten wachsen einige..."
Sie betrachtet einen Augenblick lang die Statue. "Sie ist
wirklich hübsch."
Connor nickt und
setzt den Meißel wieder an.
"Beannachd
leat."
Sie umfasst ihren
Korb mit beiden Armen und lässt den Blick nicht von Connor
weichen.
"Lebt Ihr hier
ganz allein? Ohne Frau und Kind?"
Er lässt seine
Hände wieder sinken und mustert Deirdre mit misstrauisch
gerunzelter Stirn.
"Ich suche die
Ruhe." antwortet er schließlich.
"Es ist
wirklich ruhig hier... und sehr schön." Zuhause hat sie nie
soviel Muße, um die Natur zu genießen. Wenn Jamie abends
nach Hause kommt, muss das Essen bereitstehen, die vier Kinder wollen
versorgt werden... Und nach fünfzehn Ehejahren hat sie sich
daran gewöhnt, jeden Tag das Gleiche zu tun. Bis vor kurzem hat
sie das auch noch nicht gestört oder gelangweilt. Nur jetzt
braucht sie plötzlich immer mehr Ruhe und Zeit für sich.
Nickend setzt Connor
den Meißel aufs Neue an.
Deirdre verzieht das
Gesicht. Wenn sie Ruhe sucht, sollte sie wohl besser einen Ort finden
an dem sie niemanden stört.
"Beannachd
leat." seufzt sie.
"Beannachd
leat." antwortet Connor leise und beginnt, wieder zu singen.
Trotz ihres
Entschlusses, zu gehen, bleibt sie stehen und lauscht einen
Augenblick gebannt. Seine Stimme klingt so schön. Ganz anders
als die rauen Gesänge der Männer aus dem Dorf.
Connor lässt
sein Werkzeug sinken.
"Deirdre... Ihr
lenkt mich ab."
"Verzeiht."
Sie senkt den Blick. "Ich werde gehen und Euch nicht mehr weiter
belästigen."
"Tapadh
leibh."
Sie nickt und wendet
sich dann ab.
Drei Tage später
ertappt sie sich dabei, dass sie wieder an dem kleinen Waldsee hockt,
Steine ins Wasser wirft und auf Connors Gesang hofft. Doch sie wagt
nicht mehr, näher an sein Haus zu gehen und ihn noch einmal zu
stören.
Geräuschlos
tritt in diesem Moment Connor zwischen den Bäumen hervor, eine
Harpune und einen Eimer in Händen.
"Failte. Ihr
verscheucht mein Abendessen."
Deirdre zuckt
zusammen und umklammert erschrockenihren Oberkörper mit den Armen.
"Failte. Ihr
habt mich erschreckt."
"Wollt Ihr die
Statue sehen, die ich gefertigt habe?" er lehnt sich an den Baum
zu seiner Rechten.
"Gern."
Sie erhebt sich und klopft sich Gras und kleinere Äste aus den
Röcken.
"Erst muss ich
jagen."
Deirdre nickt und
tritt einen Schritt zurück, ohne die gefährlich aussehende
Harpune aus den Augen zu lassen. Fasziniert schaut sie zu, wie Connor
in den See steigt und eine ganze Weile völlig regungslos mit
erhobener Harpune das Wasser beobachtend dasteht. Sie zuckt zusammen,
als plötzlich sein Arm vorschnellt und zielstrebig einen Fisch
aufspießt.
Zufrieden stapft er
wieder aus dem Wasser, streift den Fisch in seinen Eimer und schaut
Deirdre auffordernd an.
Die betrachtet erst
den noch zappelnden Fisch, dann Connor.
"Gehen wir."
Er nickt, legt leise
summend seine Harpune über die Schulter und geht voraus.
Deirdre folgt ihm
mit einigem Abstand, während sie ihn mit all ihren Sinnen
beobachtet . Die Art, wie er sich bewegt, sein Gesang... sie sollte
so etwas nicht denken. Sie ist seit fünfzehn Jahren verheiratet
undglücklich,
wenn auch etwas gelangweilt. Eigentlich sollte sie gar nicht hier
sein und ihre Zeit mit diesem Mann verbringen.
Als sie seinen
Garten erreichen, deutet Connor auf die Statue.
"Die Tänzerin."
Bewundernd streift
Deirdremit
den Fingerspitzen über die feinen Züge der Figur und
betrachtet sie von allen Seiten.
"Sie ist
wunderschön. Woher nehmt Ihr die Ideen dafür?"
Connor mustert kurz
den Himmel über der Lichtung.
"Sie fliegen
mir zu." antwortet er "Es wird Regen geben."
Sie hebt kurzden Blick und runzelt die Stirn.
"Dann sollte
ich wohl besser aufbrechen."
"Es wird noch
eine Weile dauern." er deutet auf die Bank vor dem Haus. "Setzt
Euch."
Sie tut, was er ihr
gesagt hat und lässt ihn nicht aus den Augen.
"Lebt Ihr schon
lange hier?"
Connor verschwindet
kurz im Haus und kehrt mit einem Messer und einem Teller zurück.
"Zwölf
Jahre." antwortet er. Dann macht er sich daran, den Fisch
auszunehmen und zu entschuppen.
"Und niemand
hat euch bisher hier entdeckt?" fragt sie verwundert.
"Oh... Doch.
Aber sie kamen alle nicht wieder." Er betrachtet einen Moment
lang nachdenklich den abgetrennten Kopf des Fisches, ehe er ihn in
den Eimer neben dem Tisch fallen lässt.
"Warum das? Es
ist doch schön hier..." Sie wirft dem Himmel einen
besorgten Blick zu, bleibt aber neben Connor sitzen.
"Schön und
einsam. Ich habe sie verjagt."
"Ihr?"
fragt sie ungläubig. "Wenn... wenn Euch meine Anwesenheit
stört, sagt es mit nur."
"Ich habe Euch
eingeladen, Deirdre..." er schaut auf, als ihm etwas einfällt
"Möchtet Ihr Milch oder Wasser? Oder ein Stück Brot?"
Abwehrend hebt sie die Hände.
"Nein, danke.
Macht Euch keine Umstände. Ich habe euch noch nie im Dorf
gesehen... wie kommt ihr an Euer Essen?"
"Ich besitze
ein paar Ziegen, ich habe den See, der Wald gibt einem viel, wenn man
es zu sehen versteht..." er stößt leise die Luft aus.
"Ich könnte
Euch vielleicht etwas zu essen bringen, wenn Ihr etwas benötigt.
Mittwochs gehe ich meist auf den Markt und verkaufe dort die Wolle
und dieMilch,
die unsere Schafe geben."
"Ich habe
nichts, das ich Euch im Tausch dafür könnte."
"Das ist nicht
schlimm. Wenn ich mich irgendwann wieder für ein paar Stunden
bei Euch ausruhen kann, reicht das vollkommen. Und mein Mann wird
nicht merken, wenn etwas von der Wolle oder der Milch fehlt."
Sie lächelt zufrieden und sieht ihm zu, wie er den Fisch
ausnimmt.
Connor lächelt
mit einem Mundwinkel.
"Ich dürft
Euren Mann nicht bestehlen."
"Das tue ich
nicht. Die Schafe gehören uns beiden, ich spinne die Wolle und
stricke den Kindern ihre Kleider. Er wird nichts merken, und wenn
doch..." Sie zuckt gleichgültig mit den Schultern. Jaimie
liebt sie viel zu sehr, um wegen solcher Dinge laut zu werden.
Wahrscheinlich würde er nurmissbilligend eine Augenbraue hochziehen, tief seufzen und
sich dann mit seiner Pfeife in den Garten zurückziehen. In all
ihren Ehejahren haben sie noch nie ernsthaft Streit gehabt.
Connor wirft ihr
einen kurzen Blick zu.
"Warum wollt
Ihr einen Mann beschenken, den Ihr nicht kennt?"
Deirdre schürzt
die Lippen.
"Ich weiß
es nicht. Einfach so. Im Augenblick sehne ich mich ein wenig nach
Ruhe. Nehmt es als Entschädigung dafür, dass ich Euch ein
paar Stunden von Eurer Tätigkeit abhalte."
"Mein Werk ist
vollendet, Ihr haltet mich von nichts ab."
"Was werdet Ihr
jetzt tun? Ein weiteres Kunstwerk schaffen?"
Er beginnt, die
Gräten aus dem Fisch zu suchen.
"Ich werde
darauf warten, dass mir eine neue Idee zufliegt."
Deirdre lächelt.
"Da wünsche
ich Euch Glück." Sie wirft einen weiteren Blick zum Himmel
und verzieht das Gesicht. Tatsächlich hat er Recht gehabt. Am
Horizont ziehen allmählich dunkle Regenwolken auf. Widerwilligerhebt sie sich.
"Ich denke, ich
werde mich auf den Rückweg machen müssen. Morgen ist
Markttag, ich könnte übermorgen wiederkommen und Euch etwas
bringen." überlegt sie laut.
"Bitte,
Deirdre..." er legt sein Messer bei Seite und schaut sie an "Ich
habe alles, was ich brauche."
Sie nickt und wendet
sich zum Gehen.
"Gut."
"So ist es.
Beannachd leat."
Aulays Fieber ist
beinahe ganz verschwunden. Trotzdem verbietet sie sich, donnerstags
wieder in den Wald zu gehen und Connor zu besuchen. Sie kann nicht
schon wieder fürStunden von zuhause fort bleiben, obwohl die Kinder groß
genug sind, um sich selbst zu versorgen. Sie versteht nicht, was sie
immer wieder zu Connor treibt, was sieseine Nähe suchen lässt. Er ist seltengesprächig, aber es ist nicht die Ruhe allein, die
sie sucht, wenn sie den zugewucherten Weg einschlägt. Nun, was
immer es ist, es muss aufhören. Vielleicht sollte sie nie wieder
zu ihm gehen. Die Gefahr ist auchviel zu groß, dass Jamie es am Ende erfährt.
Doch es dauert nur
zwei weitere Tage, bis sie ihren Entschluss vergisst und sich wieder
auf den Weg zu ihm macht.
"Failte! Ist
Euch schon etwas zugeflogen?"
"Failte..."
er schaut kurz von seiner Arbeit auf und tunkt dann seine metallene
Zeichenfeder in den Becher mit der Tinte.
"Darf ich mich
zu Euch setzen?"
"Wenn Ihr
schweigen könnt."
Deirdre lächelt
und lässt sich neben ihm nieder. Stumm kramt sie ein Knäuel
Wolleaus
ihrer Leinentasche und beginnt, an den Socken für Jaimie zu
stricken, die sie am Vorabend begonnen hat.
Mit einem leisen
Schnauben beugt sich Connor dichter über die Holzscheibe, auf
der er zeichnet, doch seine Konzentration ist dahin. Immer wieder
schleicht sich sein Blick auf Deirdres Gesicht.
"Euer Kind..."
sagt er schließlich leise, lehnt sich wieder auf der Bank
zurück und beginnt, seine Hände mit der schwarzen Tinte zu
bemalen "Ist es wieder gesund?"
"Ja.Er wird schnell krank, aber ebenso schnell wieder gesund."
murmelt sie ohne aufzusehen. Sie hätte nicht kommen sollen...
"Weiß er,
dass Ihr vor Euren Pflichten flieht?" Connors Stimme klingt
gutmütig.
"Wer? Aulay
oder mein Mann?" Sie versucht krampfhaft, sich auf die Maschen
zu konzentrieren, obwohl sie Strümpfe selbst im Schlaf stricken
könnte.
"Beide."
Sie hebt kurz den
Blick und beobachtet aus dem Augenwinkel, wie er seine langen, dürren
Hände mit kunstvollen Ornamenten verziert.
"Die Kinder
sind alt genug und Jaimie nimmt meist eins von ihnen mit sich aufs
Feld. Sie vermissen mich sicher nicht, wenn ich ab und an für
einen Nachmittag fort bin."
"Ihr habt Eure
Familie im Griff." er lächelt verschmitzt.
"Wohl eher sie
mich." Deirdres Mundwinkel zucken kurz, während sie die
Nadel wechselt. "Nur was man selbst strickt, hält wirklich
warm." murmelt sie gedankenverloren.
"Ein schönes
Muster strickt Ihr da. Gehört es Eurer Familie?"
"Der meines
Mannes." antwortet sie. Warum möchte sie nur nicht über
Jaimie sprechen, wenn sie mit Connor zusammen ist? Sie presst die
Lippen aufeinander und zählt angestrengt die Maschen.
Langsam nickend
beugt sich Connor wieder über seine Arbeit.
Nachdem Deirdre eine
Weile schweigend neben ihm gestrickt hat, steht sie auf.
"Ich muss
gehen, bevor es zu spät wird. Meine Familie..." Sie
verzieht das Gesicht und steckt ihre Strickarbeit zurück in die
Leinentasche.
"Beannachd
leat."
Nachdenklich
beobachtet Connor sie.
"Wann sehe ich
Euch wieder?" fragt er schließlich.
Deirdre denkt an
Jaimie und die Kinder. Sie kann nicht häufiger als einmal in der
Woche verschwinden, ohne dass es zu sehr auffällt. Und wenn
Jaimie jemals erfährt, dass sie sich hier im Wald mit einem
anderen Mann trifft... Sie schüttelt traurig den Kopf.
"Ich fürchte,
dass ich frühestens in zehn Tagen wiederkommen kann. Die
Schafschur beginnt und meine Familie braucht jede helfende Hand."
Sie nimmt die
Leinentasche auf und hebt die Hand zum Gruß. Zehn Tage... sie
wird ihn zehn Tage lang nicht sehen...
Leise summend legt
Connor seine Maske ab und geht zu der fast vollendeten Statue
hinüber. Sechs Tage arbeitet er nun daran, und wenn Deirdre in
zwei Tagen wieder zu ihm kommt, soll sie perfekt sein. Deshalb darf
ihn nichts ablenken, während er mit dem feinsten seiner
Holzmesser die winzigen Kerben zu ihren Lippen hinzufügt, die
kaum sichtbaren Linien, die Arbeit und Sorgen in ihr schönes,
immer noch sehr jugendliches Gesicht gegraben haben.
Er ist beinahe
fertig, als ihn ein lautes Keuchen vom Rande der Lichtung den Kopf
drehen lässt.
Entsetztpresst Deirdre die Hand vor den Mund. Das
ist Connor? Der Mann, mit dem sie so gerne die Nachmittagsstunden
verbracht hat? Die Leinentasche entgleitet ihrer Hand, doch sie
zittert zu sehr, um sich nach ihr zu bücken. Hastig wendet sie
sich ab, als sich ihre Blicke treffen. Sie muss zurück nach
Hause, zu Jamie und den Kindern, und vergessen, dass sie jemals hier
gewesen ist!
Stumm geht Connor in
die Knie und starrt auf den Fleck, an dem sie eben noch gestanden
hat. Dann lehnt er seinen Kopf an die Knie der Statue und rammt das
Holzmesser in seinen Oberschenkel.
"Au!"
Erschrocken mustert sie die Wunde, aus der ein einzelner dicker
Blutstropfen hervordringt. Mit dem Fingernagel versucht sie, den
Holzsplitter herauszupulen, und setzt sich dann auf den Waldboden.
Sie hat mit Erik
Walzer getanzt, ganz ohne Musik. Wenn Lucas das gesehen hätte!
Sie schüttelt den Gedanken ab. Lucas ist im Augenblickviel zu beschäftigt mit seiner Arbeit, um sich über
solche Dinge den Kopf zu zerbrechen. Und er hasst Walzer. Zufriedenlegt sieden
Kopf ins Gras, starrt in den Morgenhimmel und grinst.
Fußnoten
Failte – Hallo
Beannachd leat –
Auf Wiedersehen
Tapadh leibh -
Danke
