Kapitel 13

Sex... wie lange ist das her? Fünf Jahre? Nein, sechs. Dann hat er mit dem Methadon angefangen. Seitdem hat er keine ernsthafte Erregung mehr gespürt.

Nachdenklich schaut er an sich hinunter und nimmt sein Glied in die Hand. Ob er überhaupt noch wirklich erregt sein kann? Rein physisch gesehen ist jedenfalls noch alles in Ordnung. Seine gelegentlichen morgendlichen Erektionen sorgen immer wieder für große Erheiterung bei Gabrielle.

Er schließt die Augen und hält seinen gesenkten Kopf unter das kühle Wasser. Im Geiste sieht er die Gesichter all der Prostituierten und Starlets vorbeiziehen. Er hat sie gezeichnet, jede einzelne, mit ihren unsichtbaren Masken. Gekünsteltes Lächeln, gespieltes Interesse, kokette Fragen nach seinem versteckten Gesicht, die er mit einem Hinweis auf seinen Geldbeutel oder seinen geschäftlichen Einfluss zum Schweigen brachte.

Er schüttelt den Kopf. Die Entscheidung, ganz auf diese Gefühle zu verzichten, war gut und begründet.

Doch Julie... Sie bringt sie ins Wanken. Wenn sie es zuließe, würde er das Methadon absetzen und mit ihr schlafen. Aber sie würde es nicht zulassen. Erst recht nicht, wenn sie sein Gesicht kennen würde. Und sie ganz zu nehmen, unwissend...

Sein Nasenloch mit einer Hand verschließend wäscht er sein Gesicht. Warum gibt es keine Droge, die sein Herz abschaltet wie das Methadon seine Libido? Die ihm ermöglicht, Julie zu verführen, mit ihr zu schlafen wie er mit diesen immer wieder auftauchenden karrieresüchtigen Starlets geschlafen hat, und dann einfach weiterzumachen wie bisher. Aber eine solche Droge gibt es nicht, und was er von Julie will, ist und bleibt wesentlich mehr als Sex; und es widerstrebt ihm zutiefst, diese Empfindung derart... zu entweihen.

Er stellt die Dusche ab und zieht das Handtuch von der Trennwand.

Ihre Stimme... ihre Schönheit... ihr freundliches Wesen...

Mit zusammengebissenen Zähnen trocknet er sich ab. Er hat nie so für eine Frau fühlen wollen, hat es immer erfolgreich unterdrückt. Bis Julie auf der Wiese für ihn sang.

Ihre Beine zittern, als sie sich Studio 3 nähert. Der Tag der Aufnahmen; wenn sie bloß keinen Fehler macht. Vor ihr taucht Eriks hochgewachsene Gestalt auf, und sie versucht, tapfer zu lächeln, um sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.

Er lacht leise.

"Keine Sorge, ich werde dir keine Flüche an den Kopf werfen, wenn etwas nicht funktioniert."

"Ich hab trotzdem ne Scheißangst." platzt es aus ihr heraus "Das ist das erste Mal, dass meine Stimme auf CD gebannt wird. Und da du die Musik geschrieben hast, werden das bestimmt ein paar... hundert Leute kaufen und hören." Sie verzieht das Gesicht.

"Meine Soundtracks erreichen normalerweise weltweite Absatzzahlen in Millionenhöhe." er räuspert sich "Ihr Sprungbrett, Mademoiselle Deniaud."

Sie zieht die Luft ein.

"Jetzt hab ich noch mehr Angst. Das heißt, wenn ichs jetzt versaue, machst du Verlust."

"Du wirst wunderbar sein, Julie." er hält ihr die Tür zum Studio auf. "Denk einfach an alles, was ich dir beigebracht habe."

Mit einem verkrampften Lächeln betritt sie das Studio.

"Ich schaff das." murmelt sie und schluckt schwer, als sie den leeren Raum mit dem Mikrophon sieht.

"Setz die Kopfhörer auf." Damit lässt Erik die Tür zufallen und begibt sich in die Aufnahmekammer. Durch das Fenster nickt er Julie aufmunternd zu und drückt auf die Sprechtaste seines Mikrophons. "Als erstes stellen wir die Lautstärke ein, mit der du dich selber hörst..."

Julie vertippt sich dreimal, bevor es ihr gelingt, die Nummer ihrer Agentin richtig einzugeben. Schon als es in der Leitung knackt, setzt sie sich auf und beginnt, ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch zu klopfen.

"Aimée?"

"Julie?" Die Stimme am anderen Ende klingt müde, wie immer. "Na, du hast ja Nerven! Ich warte schon seit Wochen darauf, dass du mich anrufst und mir endlich erzählst, was in Belgien so los ist."

"Ich brauche mein Kissen!"

"Dein... Julie, komm schon. Du machst Karriere und ich als deine Agentin erfahre als letztes wie es dir geht. Nun erzähl schon. Wie ist es so? Ist Erik nett?"

"Ja..." Julie kuschelt sich in die Sofakissen und schließt die Augen.

"Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Lucas tut auch schon so geheimnisvoll... Habt ihr Stress?"

"Pause."

"Oh." Aimee seufzt "Schieß los, was macht ihr die ganze Zeit?"

"Wir haben Walzer getanzt."

"iWalzer/i?"

Julie grinst bei der Vorstellung, wie sich Aimees Nase in diesem Moment bis zur Stirn in kleine Falten legt.

"Ich verstehe kein Wort."

"Auf der Lichtung... heute Morgen. Oh, und Tango."

"Wer ist 'wir'?"

"Erik und ich..."

Aimée grunzt.

"Und ich dachte, ich gebe mein Okay für Gesangsstunden. Wieso tanzt ihr?"

Julie grinst und schüttelt den Kopf.

"Keine Ahnung. Nur so. Mir war danach."

"Dir war... Julie... Nein!" Aimée zieht besorgt die Luft ein. "Weißt du, wie du klingst?"

"Sags mir. Wie kling ich?" fragt Julie unschuldig.

"Als wärst du vierzehn und total verknallt!"

"Hm."

"Hm?" äfft Aimee sie nach "Wie 'Hm'? Ich will jetzt sofort alles hören! Von Anfang an. Ist er der Grund dafür dass du und Lucas..."

"Nein." unterbricht Julie sie hastig "Das mit Lucas war... irgendwie hat es nicht mehr gepasst. Und seit ich hier bei Erik bin... ich fühle mich so wohl in seiner Nähe..."

"Und wie sieht er aus?"

Julie überlegt kurz. Nein, sie wird lieber nichts von der Maske erzählen.

"Er ist groß. Bestimmt eins-neunzig. Und schlank, sehr schlank. Lange, schwarze Haare und große schlanke Hände. Oh, und er hat so schöne Augen... bersteinfarben. Hast du sowas schon mal gesehen?"

"Mh, nicht übel." Julie kann Aimées Grinsen förmlich hören "Und sonst? Ich meine, er muss doch irgendwelche Makel haben. Schlechte Zähne, einekrumme Nase oder so was..."

Julie presst die Lippen aufeinander. Sie hasst es, zu lügen, aber sie hat auch keine Lust, dass Aimée Erik gleich aburteilt, nur weil er sein Gesicht nicht zeigt. 'Mit dem stimmt was nicht.' würde sie sagen.

"Nein, gar nicht. Er... er ist der attraktivste Mann, dem ich je begegnet bin."

"Hm. Aber...Julie, ich weiß nicht... Was... was genau läuft da zwischen euch?"

Julie schüttelt den Kopf.

"Eigentlich gar nichts. Ich weiß nicht mal, was er über mich denkt. Aber ich glaub, ich möchte nicht mehr zu Lucas zurück. Egal, was Erik fühlt..."

"Verrenn dich da bloß nicht in irgendwas. Du kennst den Mann ja fast gar nicht."

"Ich weiß... Aber... aber..." Julie seufzt"Ich fühl mich irgendwie igut/i."

"Das freut mich für dich." Aimee macht eine kurze Pause bevor sie fortfährt: "Dein Kissen schick ich dir nach. Was machen die Aufnahmen?"

"Oh, 'Belong' haben wir heute gemacht und 'In the Dark'... Ich glaub, es ist ganz gut geworden. Ich werde Erik bitten, dir Kopien zu schicken, dann kannst du reinhören."

"Soll ich Lucas irgendwas sagen, wenn ich ihn sehe?"

Julie schüttelt den Kopf.

"Nein, ich werd mich wieder bei ihm melden. Irgendwann."

Mit einer großen Sturmlaterne in der Hand klopft Erik wenig später an Julies Tür.

Verschlafen richtet sie sich vom Sofa auf. Draußen ist es schon dunkel... Sie hat den Stuhl unter der Tür vergessen. Schwerfällig stapft sie in den Flur, öffnet und blinzelt Erik entgegen.

"Schon wieder Zeit zur Angstbekämpfung?"

"So ist es. Und heute darfst du ganze zehn Schritte allein zurücklegen... Sofern du nicht zu müde dazu bist."

Mühsam reißt Julie die Augen auf.

"Ganz allein? Mit deiner Tranfunzel? Das ist viel zu dunkel..." jammert sie.

"Nein, schau..." er hebt die Laterne an und lässt die Flamme darin heller aufglühen.

Julie verzieht unsicher das Gesicht.

"Ich glaub nicht, dass ich ganze zehn Schritte allein schaffe."

"Dann gehe ich nur fünf." Er drückt ihr die Laterne in die Hand "Du kannst das, Julie."

Sie schluckt schwer.

"Ich hab Angst. Wenn die Laterne ausgeht, ist es ganz dunkel."

"Sie wird nicht ausgehen. Jetzt komm." er streckt ihr seine Hand entgegen.

Langsam schiebt sie einen Fuß vor und schließt die Augen. Noch einen Schritt.

"Geh nicht weg!"

"Ich bleibe die ganze Nacht hier stehen, wenn es ein muss."

Julie schiebt die Unterlippe vor. Ein Fuß vor den nächsten, noch mal. Sie streckt die Hand aus.

"Ich bin fast da..." Ein letzter stolpernder Schritt, dann kann sie nach seiner Hand greifenund sich zu ihm ziehen. "Geschafft."

"Du bist wirklich tapfer." er legt kurz einen Arm um sie und breitet dann seinen Umhang aus. "Leg dich hin. Auf den Bauch."

Sie tut, was er ihr gesagt hat, und blickt einen Moment lang in die Flamme, ehe sie die Augen schließt und zufrieden ausatmet.

"Julie?" sanft stößt er sie an. Als sie nicht reagiert, dreht er sie vorsichtig auf den Rücken und hebt sie auf, um sie ins Haus zu tragen.

Sie erwacht, als er das Licht im Flur anknipst.

"Was ist los?" murmelt sie träge.

"Du bist eingeschlafen." Erik schiebt die Tür mit dem Fuß hinter sich zu "Ich trage dich in dein Bett, wenn es dir recht ist."

"Nein." sie blinzelt "Noch nicht, ich mag noch nicht ins Bett. Wir müssen doch noch die ersten beiden Aufnahmen feiern."

"Gefeiert wird, wenn alle Aufnahmen abgeschlossen sind." verfügt Erik streng "Außerdem bist du seit fünf Uhr heute Morgen wach."

"Ach komm, sei kein Spielverderber. Ich trinke und du... du sitzt dabei oder so."

Er schüttelt den Kopf, stellt Julie wieder auf die Füße und lässt sich auf dem Sofa nieder.

"Ich soll dir von Gabrielle schöne Grüße ausrichten und dir das hier geben..." er hebt seine geöffnete Handfläche auf Mundhöhe an seine Maske und pustet. "Ein Glückwunschkuss. Sie ist sehr sehr stolz auf dich, sagt sie."

Julie lächelt.

"Danke. Grüß sie zurück. Es geht ihr also heute besser?" Sie gähnt verhalten.

"Sie ist manisch. Im Moment tanzt sie wahrscheinlich noch im Instrumentenraum. Leider wird sich das morgen im Laufe des Tages wieder ändern." er seufzt.

"Hm." macht sie und stützt sich mit der einen Hand auf die Armlehne des Sofas. "Ich kenn die Antwort, aber weil dus so gern hörst: Möchtest du was trinken?" Sie wartet gar nicht erst ab, sondern lässt sich gleich an seiner Seite auf dem Sofa nieder und schiebt sich die Kissen zurecht.

"Nein, danke." Er schaut sie von der Seite an. "Hast du der Welt bereits von deinen heutigen Großtaten berichtet?"

"Ja, ich hab Aimée angerufen. Sie schickt mir auch mein Kissen nach." brummt sie undeutlich.

"Deine Agentin?"

"Achso, ja... und eine gute Freundin mittlerweile." Sie gähnt.

"Und sonst hast du es noch niemandem gesagt?"

"Lucas kann ich es irgendwann mal erzählen, wenn es ihn interessiert. Und mein Vater..." sie schüttelt den Kopf "Nein, der erfährt es noch früh genug."

"Das ist eine karge Ausbeute." er verzieht mitleidig den Mund.

"Ach, mich freuts und Aimée freuts. Das ist genug. Und wenn du auch noch zufrieden bist..." Sie blinzelt.

"Ich bin sehr zufrieden."

Julie lächelt glücklich und drückt ein Kissen zwischen sich und Eriks Schulter, an das sie ihren Kopf lehnt.

"Meinst du ich schaffe 'Fille Noire' bald so richtig gut?" sie gähnt noch einmal und murmelt dann: "Oh, und ich würde gerne mal die fertige Version von 'In the Dark' hören... mit dir im Background... Wenn ich schon nicht das Vergnügen hatte, es mit dir persönlich einzusingen... Ach, wäre es möglich dass Aimée ein Tape mit den zwei Aufnahmen bekommt?... Sie wollte es so gern mal hören." Langsam fallen ihr die Augen zu.

"Ich werde deiner Agentin eine CD mit den Tracks zukommen lassen." antwortet er und wendet den Kopf, um in Julies Gesicht zu sehen.

"Hm." Wie durch einen dichten Nebel dringt seine Stimme zu ihr durch.

"'Fille noire' werden wir auch bald aufnehmen. Die Spitzentöne hast du bei der letzten Probe ja schon ganz gut erreicht, jetzt müssen wir nur noch zusehen, dass wir sie stabilisieren und füllen." Als Julie nicht antwortet, rückt er vorsichtig bei Seite, zieht ihr die Hausschuhe aus und legt ihre Beine aufs Sofa. Sie murrt, wacht jedoch nicht auf. Leise holt er ihre Decke vom Bett auf der Galerie und deckt sie zu; danach kniet er sich für eine Weile neben sie, um ihr schlafendes Gesicht zu betrachten. Zögernd streicht er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und stützt sein Kinn in die Hand. Sie ist wunderschön. Seine Handflächen kribbeln, doch er verbietet sich, sie noch weiter zu berühren. Schließlich seufzt er und wendet sich zum Gehen.

"Musst du schon weg?" murmelt Julie ohne die Augen zu öffnen

Ertappt bleibt er stehen.

"Ich kann auch hierbleiben und dich weiter anstarren." antwortet er trocken.

"Hast du... mich angestarrt?"

Er zögert kurz, dann antwortet er probeweise: "Nein..."

"Aber das holen wir morgen alles nach..."

Erik nickt. Sie redet im Schlaf.

"Natürlich."

"Morgen bin ich fleißig, aber jetzt... schlafen."

"Träum schön, Kleines."

Als Julie am nächsten Morgen das Musikzimmer betritt, liegt Gabrielle wieder in Decken gewickelt auf der Chaiselongue. Sie kniet sich zu ihr, streicht über Gabrielles bleiches Gesicht und lächelt, doch sie zeigt kaum eine Reaktion

"Guten Morgen, Gabrielle."

Erik klappt die Tastatur auf.

"Können wir anfangen?"

Julie nickt und geht zu ihm. Er hat sie letzte Nacht zugedeckt, geht es ihr durch den Kopf. Wann er wohl gegangen ist? Sie wirft ihm einen unsicheren Blick zu.

"Das mit Gabrielle... das ist das, was du erwartet hast?" fragt sie leise.

Er nickt stumm.

"Fang mit Tonleitern an."

Sie dreht sich noch einmal besorgt zu Gabrielle um, bevor sie beginnt, sich einzusingen.

"Ich möchte heute und in den kommenden Stunden den Fokus auf deine Höhen legen." er reibt sich über den Nacken "Dass deine Stimme genug Umfang hat, haben wir in einer der letzten Stunden bereits festgestellt. Nun müssen wir Kraft und Volumen in diese Töne bekommen. Es gibt mehr als eine Technik, um das zu erreichen, und wir werden sämtliche ausprobieren, bis wir die finden, mit der du am besten zurande kommst."

Sie legt den Kopf schief und mustert ihn nachdenklich.

"Wenn du dich heute lieber ganz um Gabrielle kümmern willst... ich könnte auch allein ein wenig üben und wir machen die Stunde, wenn es ihr wieder besser geht." schlägt sie vor.

"Nein. Mir tut die Ablenkung auch gut." er klappt die Tastatur wieder zu und erhebt sich. "Wärm dich weiter auf, ich habe das Tape in meinem Büro vergessen."

Julie kräuselt die Nase und sieht ihm nach. Dann fährt sie fort, die Tonleitern hoch und runter zu singen, während sie Gabrielle immer wieder kurze Blicke zuwirft.

Vorsichtig setzt er Gabrielle in einem der Liegestühle auf der Terrasse ab und lässt sich dann in den direkt daneben sinken.

"Was glaubst du, Julie, wirst du die Nacht allein überleben?"

"Ich glaube schon." Sie setzt sich den beiden gegenüber auf einen Stuhl. "Du hast mich ja lange genug abgehärtet."

"'Abhärten' ist aber eine strenge Bezeichnung. Ich beschere dir angenehme Erlebnisse als Gegenkonditionierung zu deinem schrecklichen Erlebnis."

Julies Mundwinkel zucken.

"Danke... auch für die Decke."

"Oh... Du hast es also doch mitbekommen?"

"Nein, aber irgendwie muss sie gestern auf wundersame Weise die Treppe zu mir nach unten aufs Sofa gekommen sein. Und ich hatte keine Schuhe mehr an den Füßen." Sie grinst ihn schief an.

"Gut..." er kann nicht verhindern, dass er erleichtert klingt.

Julie entgeht sein Tonfall keineswegs und sie schmunzelt belustigt.

"Hast du was Schlimmes gemacht? Meine Kekse aufgegessen, oder meinen Honig entführt?"

Er wendet den Blick ab und beißt sich heftig auf die Zunge.

"Ich habe dir beim Schlafen zugesehen." gesteht er schließlich.

Julie errötet.

"Unsinn. So was merk ich doch immer... Hast du wirklich...?"

Schulterzuckend mustert er Gabrielles griesgrämig Gesicht.

"Ich kann auch lügen, wenn du dich dann wohler fühlst."

Julie schüttelt den Kopf.

"Schon gut. Hat mich nur gewundert, dass ichs nicht gemerkt habe." Sie folgt seinem Blick und hebt die Augenbrauen. "Gabrielle... wir müssen unbedingt noch die Sache mit dem Nähen machen. Ich glaube, ich hab vollkommen verlernt, mit einer Nähmaschine umzugehen. Und stricken lernen wolltest du ja auch noch." Sie versucht, aufmunternd zu lächeln.

Gabrielle vergräbt für einen Moment ihr Gesicht in ihrer Decke, dann steht sie auf und lässt sich mit dem Rücken zu Julie auf Eriks Schoß fallen.

Der wirft Julie einen entschuldigenden Blick zu.

Ein wenig verunsichert erhebt sie sich und nickt ihm zu.

"Ich geh dann mal rüber. Ich müsste spülen und Staub wischen. Die beste Gelegenheit, um noch ein bisschen zu üben." Es gelingt ihr nicht, ihre Irritation völlig zu überspielen. "Also, nur falls mich jemand sucht..." Sie hebt die Hand, um zu winken.

Erik seufzt und heißt Julie mit einem Blick, zu warten.

"Gabrielle, es ist nicht in Ordnung, deine Laune an unserem Gast auszulassen." Er legt seine Arme um sie und drückt sie kurz an sich.

"Ich bin nur müde." kommt die leise Antwort.

"Dann schlaf."

"Ich kann nicht schlafen, wenn ihr redet."

Er wendet sich wieder Julie zu.

"Dann gehst du wohl wirklich besser. Ob ich dich morgen unterrichte, hängt von Gabrielle ab."

"Ist okay."

Ein 'Kommst du heute Abend?' liegt ihr auf der Zunge, doch sie wagt nicht, diese Frage laut zu stellen. Vielleicht ist es Gabrielles ablehnendes Verhalten, das sie davon abhält.

Sie liegt auf der Couch und spielt gedankenverloren mit dem Telefon. Hier muss sie gelegen haben, und er... Sie dreht den Kopf und sieht sich um. Er muss irgendwo ganz in ihrer Nähe gesessen haben. Vielleicht hat er sie beobachtet, nachdem er sie zugedeckt hat... vielleicht auch vorher...

Ob sie wohl doch mehr für ihn sein könnte als nur irgendeine gute Freundin seiner Schwester?... Wenn er bloß heute Abend kommt!

Als das Telefon in ihrer Hand klingelt, fährt sie zusammen.

"Ja, hallo?"

"Hallo, Julie... Aimée hier. Ich wollte dir nur sagen, dass ich das Kissen auf die Reise geschickt habe."

"Danke." Sie nimmt eine Locke und zwirbelt sie in ihren Fingern. "Die CD für dich schick ich nachher los. Erik hat sie mir eben gegeben."

"Erik! Das Top-Thema. Erzähl schon. Und zwar alles und sehr ausführlich, ich hab Zeit. Was istseit unserem letzten Gespräch passiert?" Julie hört, wie Aimée es sich gemütlich macht und Papiere vom Schreibtisch schiebt, um ihre Füße darauf zu legen.

"Ich bin eingeschlafen..."

"Davor oder danach?"

"Was? Nein... nicht so... Erik hat sich in den Kopf gesetzt, mich von meiner Dunkelangst zu befreien. Und jetzt kommt er jeden Abend mit Fackel, Umhang und Katana vor meine Tür und zwingt mich, fünf Schritte zu gehen. Danach muss ich mich ins Dunkle legen und er massiert mich."

"Hm, Massagen... Das ist ja... süß."

"Süß? Kleine Kinder sind süß. Erik ist alles andere als das." protestiert Julie schmunzelnd.

"Von mir aus. Erzähl weiter!"

"Jedenfalls kommt er nachher immer mit rein. Naja, gestern bin ich wohl eingeschlafen, als er neben mir saß; und als ich wieder aufgewacht bin, lag meine Decke auf mir und er war weg."

"Und...?" macht Aimée erwartungsvoll.

"Und eben hat er mir gestanden, dass er mir beim Schlafen zugesehen hat."

"Nein!"

"Doch! Meinst du, das hat was zu bedeuten? Vielleicht macht er das ja immer, weil er es von Gabrielle so gewohnt ist. Sie ist manchmal krank und..."

"Gabrielle?"

"Seine Schwester. Eine ganz liebe."

'Meistens jedenfalls.' fügt sie in Gedanken hinzu.

"Du hast mit ihr telefoniert."

"Ach, die Assistentin, ja ich erinnere mich."

"Also, was meinst du?"

"Julie, ich kenne ihn nicht." seufzt Aimée in den Hörer. "Ich weiß nicht, wie er mit Frauen umgeht, wie viele er hat oder gehabt hat. Ich kann dir keine Ferndiagnose stellen."

Julie schiebt die Unterlippe vor.

"Er hatte keine Frauen."

"Er ist schwul?"

"Nein."

"Impotent?"

"Woher soll ich das wissen..."

"Was soll sonst mit ihm los sein? Na komm, du willst mir nicht ernsthaft weismachen, dass ein Mann wie er mit vierzig noch keine Frau hatte! Der ist doch mindestens einmal geschieden..."

Julie schüttelt den Kopf.

"Nein. Gabrielle sagt, es gab keine Frauen, er macht sich nichts mehr daraus."

"Dann iist/i er schwul oder impotent oder beides. Und wenn nicht, rat ich dir, lass die Finger von ihm. Irgendwas stimmt da nicht. Vielleicht ist er pervers oder so."

"Ist er nicht. So was... merkt man doch, oder?"

Aimée atmet tief durch.

"Ich weiß nicht. Sei auf jeden Fall vorsichtig, okay?"

"Versprochen. Sonst alles in Ordnung?"

"Ja, das wollte ich dir noch erzählen: In eurer Wohnung sah es etwas chaotisch aus. Lucas scheint doch nicht so gut mit der Trennung klarzukommen. Überall lag deine Wäsche herum."

Julie schüttelt mit dem Kopf.

"Ich werde mit ihm telefonieren. Nur nicht jetzt..."

"Ist okay. Aber bei mir meldest du dich bald wieder, ja?"

Sie nickt.

"Versprochen. Ich muss mich ja mit irgendwem austauschen über... ihn"

Erschöpft lehnt er sich an die Wand neben Julies Tür und klopft. Er hat weder Fackel noch Katana noch Umhang dabei.

Mit einem erleichterten Lächeln öffnet sie ihm.

"Du bist doch gekommen." Sie wirft einen Blick hinter ihn. "Wo ist Gabrielle?"

"In ihrem Bett. Sediert. Sie schläft die nächsten paar Stunden wie ein Stein. Darf ich reinkommen?"

"Oh." Sie mustert ihn von oben bis unten. "Ich hoffe, du hast heute nicht vor, mich rauszulocken... so ganz ohne Licht..." ängstlich verzieht sie das Gesicht.

Er schüttelt den Kopf.

"Heute nicht. Ich bin zu müde. Gabrielle macht mich wahnsinnig."

Julie schließt die Tür hinter ihm.

"Was ist los? So schlimm?"

"Ach..." er geht ins Wohnzimmer, lässt sich aufs Sofa fallen und streckt die Beine von sich "Sie wird langsam agitiert und ist noch besitzergreifender als sonst." er wirft Julie einen kurzen Blick zu "Sie ist eifersüchtig, weil ich mehr Zeit als unbedingt nötig mit dir verbringe, hat aber gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, weil du ihre einzige Freundin bist."

Julie setzt sich zu ihm und reibt nachdenklich an ihrem Ring. Warum trägt sie den eigentlich noch, jetzt, da sie beschlossen hat, dass Lucas, egal was Erik über sie denkt, keine Chance mehr hat? Sie dreht ihn langsam vom Finger und legt ihn auf den kleinen Beistelltisch neben sich.

"Das klingt wirklich nicht gut. Aber... in zwei oder drei Tagen geht es ihr doch wieder besser, oder?"

"Das bleibt zu hoffen." Erik mustert den Ring auf dem Tisch, dann lässt er seinen Kopf zurück auf die Lehne des Sofas sinken. "Ich wäre jetzt gern irgendwo am Meer. An irgend einem einsamen Strand..."

"Kann ich verstehen. Eine einsame Insel, auf der ich Schiffbruch erleide, ohne Telefonanschluss, und mein Handy hab ich auch noch verloren. Das wär wirklich was." Sie legt den Kopf schief und sieht ihn an. "Mein Angebot gilt immer noch. Wenn du Ruhe brauchst, oder dich um Gabrielle kümmern willst, könnten wir morgen auch die Stunde ausfallen lassen."

"Wir werden sehen... Eigentlich müsste ich dich heute auch noch massieren... Ich könnte das Licht im Wohnzimmer ausmachen und dir den Rücken kraulen." Er gräbt einen seiner Eckzähne in die Innenseite seiner Unterlippe.

Julie versucht vergeblich, ihre Freude über dieses Angebot zu verbergen.

"Das würdest du wirklich tun? Obwohl du so müde bist?"

"Ich habe Übung darin." Er zündet die Kerzen auf dem Wohnzimmertisch an, dann geht er zum Lichtschalter hinüber. "Bereit?"

Julie verkrampft ihre schweißnassen Finger in einem der Sofakissen und nickt.

"Du kannst das Licht ausmachen."

"Entspann dich. Ich werde nicht weggehen, ohne das Licht wieder anzumachen." Damit legt er den Schalter um, streift seine Schuhe ab und kniet sich hinter Julie aufs Sofa.

Die schließt die Augen und atmet tief durch.

"Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal in einer so dunklen Wohnung war."

"Hm." Erik beginnt, sacht ihre Schultern zu kneten "Die Dunkelheit hat aber auch Vorteile dem Licht gegenüber."

"Hat sie?" Sie seufzt zufrieden, als sie spürt, wie seine Finger langsam die Verspannung in ihrem Nacken lösen.

"Wenn es dunkel ist, kann man sich besser auf sich selbst konzentrieren, weil die Umwelt weniger Ablenkung bietet. Man kann leichter die Augen schließen und träumen."

"Vorausgesetzt man hat keine Angst und hört jedes Geräusch." Sie verzieht das Gesicht. "Wovon träumst du?"

Erik überlegt einen Moment.

"Ich träume von der Musik, die ich komponieren will, von Bildern, die ich male, Bewegungen, die ich ausprobieren möchte... Und du?"

Julie versucht, mit den Schultern zu zucken.

"Nachts hab ich immer noch Alpträume. Irgendwer lauert mir ständig im Dunkeln auf, verfolgt mich, und egal in welches Zimmer ich fliehe, er ist schon da." Sie schluckt und schüttelt den Gedanken ab. "Tagträume... hm. Mein Vater würde mir jetzt einreden, dass ich von meiner Karriere träume, aber eigentlich sind es eher irgendwelche banalen Dinge. Ein Buch, das ich gelesen habe, und ich gehe in Gedanken Orte ab, die mich dort besonders fasziniert haben." Sie lacht "Oder ich tanze auf einer Lichtung..."

Erik lächelt.

"Unser Tanz war aber kein Traum."

"Nein, zum Glück war er das nicht..." murmelt sie.

"Ich stelle mich gern zu weiteren Gelegenheiten als dein Tanzpartner zur Verfügung." Er streicht erneut ihr Haar bei Seite und beginnt, sich mit seinen Daumen an ihrer Halswirbelsäule emporzuarbeiten.

"Schön..." gurrt Juli und lächelt.

Erik schließt die Augen. Er würde sie jetzt gern umarmen... und wahrscheinlich hätte sie nicht einmal etwas dagegen einzuwenden.

Mit einem Kopfschütteln lässt er die Hände sinken.

"Genug für heute." sagt er leise.

Langsam dreht sich Julie wieder zu ihm, um ihn im schwachen, flackernden Licht zu betrachten.

"Schade. Langsam gewöhn ich mich dran."

"Du bist ja noch ein paar Wochen hier." Er stellt seine Füße vor sich auf die Sitzfläche und legt seine gekreuzten Arme auf seine Knie.

"Hm." Wochen... Und wie schnell die vergehen können, hat sie ja selbst gesehen. Wenn Gabrielle bloß nicht so krank wäre, vielleicht würde sie ihn dann bitten, heute nicht zu gehen... Irgendwann muss sie doch sicher wissen, was er für sie empfindet. Sie rutscht ein Stück näher zu ihm und starrt in die Kerzenflammen. "Wenn es hier nicht so dunkel wäre, würde ich sagen, es ist richtig schön."

"Du tust der Romantik kerzendurchschimmerter Nacht Unrecht."

Vorsichtig legt sie ihren Kopf an seine Schulter.

"Tu ich das? Okay... dann iist/i es schön."

Erik schließt die Augen und atmet tief durch.

"Wenn du müde bist, sollte ich jetzt besser gehen."

"Ich bin nicht müde." sagt sie rasch "Nicht so wie gestern. Wirklich nicht."

"Nun gut, dann bleibe ich noch ein Weilchen." gibt er nach; und wider besseres Wissen legt er seinen Arm um Julie.

Die lächelt nicht. Stattdessen schmiegt sie sich noch ein wenig enger an ihn und schließt die Augen.

"Gabrielle und ich werden am 27. schon sehr früh aufbrechen." bemerkt Erik, nur um etwas zu sagen "Ich werde vorher das Überwachungssystem auf das Gästehaus umlegen. Aber das sagte ich dir bereits, nicht wahr?"

"Hm." macht sie nur. Ihre Hand fährt langsam über seine langen Finger, was er mit wachsender Zerrissenheit beobachtet.

Schließlich macht er sich los.

"Ich glaube, ich sollte jetzt doch besser gehen."

Überrascht richtet sie sich auf und fängt seinen Blick. Ist er wegen Gabrielle so traurig? Will er vielleicht eigentlich bleiben?

"Wegen Gabrielle?" fragt sie leise.

"Ja... ja, ich... kann sie nicht so lange alleine lassen." Mit einem Ruck erhebt er sich, macht das Licht an und steigt wieder in seine Schuhe.

Julie blinzelt.

"Du hast Angst, dass sie doch noch wach wird und dich sucht?" Enttäuscht beißt sie sich auf die Unterlippe.

Er schüttelt den Kopf.

"Gute Nacht, Julie." Damit verlässt er das Haus, um irgendwo draußen im Walt lautstark zu fluchen.

Nachdenklich sieht Julie ihm durchs Wohnzimmerfenster nach. Offenbar hat er es doch nicht so eilig, wieder zurück nach Hause zu kommen.

Sie hätte ihm nicht so auf die Pelle rücken sollen. Er muss sie für eine dieser geldgeilen Möchtegernpromis halten, die alles tun würden, um ihre Karriere voranzutreiben. Oder für eine, die sich mit ihm über ihre gerade gescheiterte Beziehung trösten will. Wahrscheinlich hat sie ihn jetzt total abgeschreckt. Sie presst die Lippen zusammen

Oder hat Aimee am Ende Recht. Vielleicht... kann er nicht. Vielleicht ist er impotent und weicht ihr deshalb aus?

Sie schüttelt den Kopf; und während sie den Stuhl unter der Türklinke verkeilt und nach oben geht, versucht sie sich einzureden, dass sie diese Möglichkeit nicht deprimierend findet.

Wütend schlägt er mit der Faust gegen den nächsten Baum, lehnt sich dann dagegen und lässt sich auf den Boden rutschen.

"Verdammte Scheiße..." murmelt er leise und setzt seine Maske ab.

Er hat sich in Julie verliebt. Wenn irgend etwas außer Frage steht, dann das.

Was allerdings Julie für ihn fühlt, ist ihm weit weniger klar. Sie ist definitiv kein Starlet, das sich hochvögeln will. Viel eher soll er als Trost für ihre zerbrochene Beziehung zu Lucas herhalten.

Und was wird das Ergebnis all dessen sein? Sie wird weiterziehen, wenn ihr Unterricht vorbei ist, auf Bühnen weltweit singen und sich aus Reihen von Verehrern das Beste herauspicken. Und er wird nicht mehr als ein aufregendes Zwischenspiel gewesen sein. Der maskierte Gesangslehrer, der mit einem Katana tanzt und die Koloratur von 'Think of Me' herausbekommt...

Sie wird ihn verletzen, ohne böse Absicht, einfach aus jugendlicher Ignoranz und Abenteuerlust heraus. Und er wird sie verletzen, wenn er ihr sein Gesicht zeigt oder die ganze Geschichte des 27. August 1976 erzählt. Ohne böse Absicht. Einfach aus dem Bedürfnis heraus, sich zu schützen...