Kapitel 14
Julie hetzt aus der Küche, als das Telefon klingelt. Rasch trocknet sie sich die Hände an ihrer Hose und hebt ab.
"Ja, hallo?"
"Guten Morgen, Julie."
"Erik!" Sie zieht überrascht die Luft ein. "Was ist los?"
"Der Unterricht muss heute leider ausfallen. Gabrielle ist schon den ganzen Morgen... Hey!... Entschuldige mich kurz..." der Hörer wird hastig bei Seite gelegt, dann dringt aus dem Hintergrund Eriks angstvoll drängende Stimme, vermischt mit Weinen und Geschrei, das wohl von Gabrielle kommen muss.
Julie hält erschrocken die Luft an und nimmt den Hörer ein Stück von ihrem Ohr. Eigentlich sollte sie gar nicht zuhören, was da drüben vor sich geht. Es muss wirklich schwierig für Erik sein im Augenblick.
Als er nach einiger Zeit nicht wieder an den Apparat zurückkommt, hängt sie auf. Keine Stunde heute.
Als es endlich bei Einbruch der Dunkelheit klopft, legt sie hastig ihr Honigbrot zurück auf den Teller und läuft zur Tür.
"Alles okay bei dir?"
"Nein." mit hängenden Schultern geht er an ihr vorbei ins Wohnzimmer. "Gabrielle hat heute Morgen als ich dich anrief, versucht, sich die Arme aufzuschneiden. Ich war den Tag über damit beschäftigt, sie zu verbinden und wieder zu beruhigen. Jetzt ist sie sediert und fixiert und ich erlaube mir die Hoffnung, dass sie morgen zu erledigt ist, um noch ans Grab fahren zu wollen." mit einem Seufzen hockt er sich vor dem Fernseher nieder, um ihn für die Überwachungskameras einzustellen.
Julie kräuselt die Nase.
"Ich hab mir Sorgen gemacht... Du bist nicht mehr zurück ans Telefon gekommen und Gabrielle hat gebrüllt. Ich wusste nicht, ob ich vielleicht nachsehen sollte." Sie kniet sich neben ihn und legt ihm eine Hand auf den Arm "Glaubst du wirklich, dass sie sich davon abbringen lässt, morgen zu fahren?" fragt sie zweifelnd. "Ich hatte das Gefühl, dass es ihr sehr wichtig ist."
Er schnaubt.
"Sie hat sich noch nie davon abbringen lassen. Aber man wird doch wohl noch träumen dürfen."
Ihr Mundwinkel zuckt traurig.
"Wie kommst du damit klar?"
"Beschissen."
Sie nickt.
"Setz dich." sagt sie, als er den Fernseher wieder ausgeschaltet hat. "Möchtest du etwas trinken?"
"Nein. Die Überwachungskameras sind von Kanal 26 aufwärts." er lässt sich auf das Sofa fallen und schließt erschöpft die Augen.
Julie setzt sich neben ihn und greift wieder zu ihrem Honigbrot.
"Erzähl!"
"Was soll ich erzählen?"
"Was du willst. Was dich bedrückt..." Sie zuckt mit den Schultern und sieht ihn an. "Dir gehtdas bestimmt ziemlich nah... die ganze Sache mit dem Todestag und dass Gabrielle so schlecht drauf ist." Vorsichtig legt sie ihre Hand wieder auf seine.
Er lacht bitter.
"Oh ja, das geht mir nah. Du kannst dir gar nicht vorstellen iwie/i nah."
Sie rutscht näher und sucht seinen Blick.
"Erzähls mir. Vielleicht geht es dir besser, wenn du es bei irgendwem loswerden kannst."
"Julie, glaub mir, du willst es nicht hören." Mit einem Ruck steht er auf und beginnt, vor den bodentiefen Wohnzimmerfenstern auf und ab zu laufen. Er muss es ihr erzählen. Es kann so einfach nicht weitergehen!
Irritiert folgt Julie ihm mit den Augen.
"Doch, bitte, erzähl es mir."
Erik starrt sie eine Weile stumm an, dann kreuzt er die Arme vor der Brust, lehnt sich mit dem Rücken gegen das Fenster und schließt die Augen. Er muss es beenden.
"Ich kam dazu, als unsere Mutter Gabrielle den Rücken mit Säure verätzte." erklärt er ruhig "Sie muss gedacht haben, ich würde wieder wochenlang weg sein, deshalb hatte sie das Bad nicht abgeschlossen. Ich hörte Gabrielle schreien. Ich hörte, wie meine Mutter auf sie einredete. Ich habe gesehen, wie sich die Säure in Gabrielles Haut fraß... Ich hatte immer gedacht, unsere Mutter würde nur mich verletzen weil sie mich hasst, aber an dem Abend begriff ich, dass Gabrielles Unfälle und Krankheiten auch iihr/i Werk waren. Und ich wurde so unsagbar iwütend/i... Als Gabrielle schlief, kam ich zurück. Ich schlug Mutter mit dem Nudelholz nieder, fesselte sie an einen Stuhl und klebte ihr den Mund zu." Er zögert, ehe er weiterspricht. "Dann ging ich ins Bad und holte die Flasche mit der Säure. Gabrielle stand plötzlich in der Tür. Sie hat mich nicht erkannt, sie wollte mich nicht erkennen. Ich bin weggelaufen, als sie zusammenbrach."
Julie starrt ihn mit aufgerissenen Augen an, ohne etwas sagen zu können. Er hat seine Mutter getötet? Seine eigene Mutter... UndGabrielle geht es wegen ihm so schlecht?
Sie deutet mit einer zitternden Hand auf die Tür.
"Bitte geh jetzt." sagt sie so ruhig sie kann.
Erik öffnet die Augen und nickt langsam. Dann verlässt er geräuschlos das Haus und schließt die Tür hinter sich.
Mit einem gedämpften Aufschrei schleudert Julie den Teller, auf dem ihr Honigbrot gelegen hat, hinter ihm her. Hinter ihren Schläfen beginnt ein dumpfes Pochen, während sie langsam wieder auf das Sofa zurücksinkt und ihr Gesicht in den Händen vergräbt. Erik ist ein Mörder. Er hat seine eigeneMutter gefesselt und mit Säure übergossen. Seine Schwester musste alles mit ansehen. Und sie hat sich noch Sorgen um ihn gemacht, weil ihn Gabrielles Zustand so sehr belastet. Dabei hat er ihn selbst zu verantworten! Wie konnte sie sich nur so in ihm täuschen? Wieso hat sie nicht früher gemerkt, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt... Die ganze Beziehung zu seiner Schwester... das alles macht er nur aus Schuldgefühlen heraus?
Sie beginnt, erst leise, dann immer lauter, zu schluchzen. Wenn nur Lucas hier wäre! Hätte Lucas sich nur durchgesetzt und ihr verboten, hierher zu kommen. Dann hätte sie all das nie erfahren und sie hätte sich nie nie nie in Erik verliebt...
Julie erwacht früh am nächsten Morgen. Sie hat fast gar nicht geschlafen und nun dringen von draußen Motorengeräusche zu ihr. Nachdem siesich einen Pullover übergeworfen hat, tapst sie zur Haustür. Irgendetwas ist am Haupthaus los. Langsam nähert sie sich dem Gebäude über den Plattenweg.
Auf dem Kiesplatz vor dem Haupteingang steht eine schwarze Limousine. Die Fahrertür öffnet sich, ein livrierter Mann steigt aus und geht über den Kiesweg zur Tür des Hauptgebäudes. Aus dem Foyer kommt ihm Erik mit zwei großen Koffern entgegen, die er in den Kies stellt, damit der Fahrer sie zum Wagen bringt. Erik verschwindet noch einmal im Gebäude, und als er eine ganze Weile später wieder herauskommt, trägt Gabrielle auf seinem Arm.
Sie wirkt sonderbar klein und jung in ihrem schwarzen Trauerkleid und dem bodenlangen Schleier, der über ihre Schulter auf ihren Schoß fällt und dort einen großen Bausch bildet. Mit der einen Hand umklammert sie einen Strauß ihrer Blutstropfenrosen, die andere hat sie auf Höhe seines Mundes über Eriks Maske gelegt. Die weißen Bandagen an ihren Handgelenken leuchten grell gegen ihr Kleid und Eriks schwarzen Pullover.
Im Vorbeigehen wirft Erik Julie einen langen Blick zu, den sie nicht erwidert.
Wortlos setzt er Gabrielle in die Limousine und steigt hinterher.
Dann schließt sich leise die Tür, der Wagen fährt an und schließlich kehrt auf dem Grundstück wieder Stille ein, während sich das Haupttor zuschiebt.
Julie starrt der Limousine eine ganze Weile nach und geht dann langsam zurück ins Gästehaus.
Wieder ertappt sie sich dabei, wie ihre Hände das Telefon umfassen. Aber wen will sie anrufen? Lucas bestimmt nicht, und Aimée - nein, die auch nicht. 'Ich hab es dir gleich gesagt. Mit dem Mann stimmt was nicht.' Sie starrt die Tasten an. Und wenn sie doch die Polizei ruft? Immerhin verjährt Mord nicht und ein Verbrechen zu decken, macht sie irgendwie mitschuldig, selbst, wenn das ganze dreißig Jahre zurückliegt. Mit zitternden Händen lässt sie das Telefon auf das Sofa fallen und lehnt sich zurück.
Gabrielle sah so verletzlich aus. Wenn sie jetzt die Polizei ruft... Man würde Gabrielle auch noch den Bruder wegnehmen, das letzte Familienmitglied. Vielleicht würde sie in ein Heim kommen... einer Pflegeperson anvertraut werden, die überhaupt keine richtige persönliche Bindung zu ihr aufbauen kann oder will.
Julie seufzt tief. Sie imuss/i die Polizei rufen.
Ihre Hände sind schweißnass, als sie langsam 1-0-0 in das Telefon tippt. Es dauert kaum drei Sekunden, bis es am anderen Ende der Leitung knackt.
"Polizeilicher Notruf. Sie sprechen mit Lambert Devireaux." sagt eine monotone Stimme am anderen Ende der Leitung "Bitte nennen Sie mir Ihren Namen und den Ort von dem Sie uns anrufen."
Julie presst die Lippen aufeinander.
'Julie Deniaud. Ich rufe aus dem Gästehaus des Komponisten Erik an.'
"Hallo? Bitte nennen Sie mir Ihren Namen!" Selbst jetzt klingt die Stimme noch ruhig und gelangweilt.
'Erik hat am 27.8.1976 seine Mutter mit Säure übergossen und sie damit getötet. Seine Schwester hat damals alles mit angesehen.'
"Hallo? Kann ich Ihnen helfen?"
Julie legt auf und schleudert das Telefon weit von sich.
"Scheiße, was mach ich nur?"
"Kommst du?" fast unhörbar leise klingt Gabrielles Stimme von der Zimmertür zu ihm. Ihr geisterhaft blasses Gesicht scheint über ihrem schwarzen Kleid zu schweben.
"Natürlich."
Auf der Fahrt zum Grab starrt Erik stumm aus dem Fenster, während sich Gabrielle an seine Schulter schmiegt. Sein Magen revoltiert, am liebsten würde er aussteigen und sich übergeben.
Es ist vorbei. Er hat es beendet. Julie hat ihn aus ihrem Haus geschmissen, und er zweifelt ernsthaft daran, dass sie nach diesem Geständnis noch 'Fille noire' aufnehmen, geschweige denn sich von ihm unterrichten lassen wird. Vielleicht ist sie längst wieder in Québec, wenn er zurückkommt. Vielleicht erwartet ihn die Polizei auf seinem Grundstück.
Müde lehnt er seinen Kopf an Gabrielles und zieht sie an sich. Was mit ihm selbst geschieht, ist ihm vollkommen egal. Doch er wird nicht zulassen, dass man Gabrielle von ihm trennt. Die Perversion ihres Vertrauens und seiner Fürsorge ist ihm voll bewusst, aber er weiß auch, dass sie sich umbringen wird, wenn er sich nicht mehr um sie kümmern kann, weil er für etwas im Gefängnis sitzt, an das Gabrielle nicht glauben will. Und er kann nur hoffen, dass Julie das versteht. Er hat alles nur getan, um Gabrielle zu rächen und zu beschützen...
Vorsichtig hilft er ihr beim Aussteigen, nachdem die Limousine vor dem Friedhof von Briare gehalten hat. Auf dem Weg zum Grab kommen ihnen vereinzelt andere Menschen entgegen, doch Erik beachtet ihre starren neugierigen Blicke nicht, spürt nur die Kälte und das Zittern von Gabrielles Hand in seiner.
"Sie ist tot..." flüstert sie leise "Sie ist tot..." immer wieder.
Er beißt sich auf die Lippe bis er Blut schmeckt, und schweigt.
"Sie ist tot..."
"Da sind wir." Er breitet eine Decke vor dem Grab aus, damit Gabrielle sich setzen kann.
"Roseanne Triffaut. 23.2.1940 bis 27.8.1976. Hier ruht unsere liebende Mutter. Möge sie Frieden finden." liest Gabrielle leise vor und rollt sich auf der Decke zusammen.
Erik kniet sich neben sie und nimmt ihre Hände.
"Wie fühlst du dich?"
Sie wimmert leise.
"Nicht gut... Sie ist tot... Der... der Fremde mit der Maske, er... Und es... es hat so gestunken..." Ihre letzten Worte sind unter ihren Tränen kaum zu verstehen. "Sie ist tot und ich konnte ihr nicht helfen! Ich... ich bin umgefallen und.. dann war ich... im Krankenhaus und... Mama war... sie war nicht mehr da! Sie ist itot/i, Erik!"
Wortlos beugt er sich über sie und erstickt sein eigenes Schluchzen an ihrer Schulter.
Sie hat keinen Appetit. Nichtmal ein Honigbrot kann sie essen. Sie wirft dem leicht lädierten Telefon einen Blick zu. Nicht nochmal... Sie hat zweimal versucht, die Polizei anzurufen, und jedesmal hat sie panisch wieder aufgelegt, wenn die Stimme am anderen Ende nach ihrem Namen gefragt hat. Das kann sie Gabrielle nicht antun. Sie braucht Erik. Julie schüttelt sich bei dem bloßen Gedanken daran, was aus Gabrielle werden würde, wenn man sie von ihrem Bruder trennt. Ohne Freunde... ohne Familie.
Sie schließt die Augen. Sofort sieht sie eine Frau vor sich, mit Eriks langen dunklen Haaren und Gabrielles Gesicht. Die Frau will vor Schmerzen schreien, sich wehren, aber ihr Mund ist verklebt und ihre Hände sindgefesselt. Und eine jüngere Ausgabe von Gabrielle steht daneben... Julie keucht und öffnet die Augen. Erik hat sie getötet. Er war gerade einmal elf Jahre alt und hat seine Mutter getötet. Eine Frau, die ihre Kinder gequält hat, um dann das Mitleid der anderen auf sich zu ziehen. Eine Frau, die vor nichts zurückgeschreckt ist und ihre eigene Tochter verätzt hat. Eine Frau, die es wirklich verdient hat, bestraft zu werden. Julie ballt die Hände zu Fäusten. Nein, das darf sie nicht denken! Was Erik getan hat, lässt sich nicht schönreden.
Hastig wählt sie Aimées Nummer.
"Ja?" brummt eine verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung.
"Habe ich dich geweckt?"
"Julie? Es ist vier Uhr morgens! Was ist passiert?" Aimée klingt plötzlich hellwach.
"Nichts, ich hab die Zeitverschiebung ganz vergessen. Ich ruf dich später noch mal an." murmelt Julie.
"Halt! Bleib wo du bist und leg nicht auf." Decken rascheln "Ich muss nur kurz... warte, ich will Quentin nicht wecken. Schlaf weiter, Bärchen. Ich telefonier draußen." Eine Tür fällt zu "So und jetzt erzähl mir was los ist!"
"Ich hab doch schon gesagt, ich wollte nur quatschen..." Julie lässt sich auf das Sofa fallen und starrt die Decke an.
"Nur quatschen. Selbst wenn ich die Zeitverschiebung berücksichtige... Zehn Uhr ist verdammt ungewöhnlich für dich. Hast du keine Gesangsstunde oder Aufnahmen? Oh, da fällt mir ein... danke für die CD. Die ist toll. Was immer er mit dir gemacht hat, deiner Stimme tut es gut. Du klingst vollkommen anders."
"Erik ist nicht da."
"Was? Wo ist er?"
"Familienangelegenheiten..." presst sie hervor.
"Ach Julie, zum Teufel mit der Geheimniskrämerei. Jetzt raus mit der Sprache, was ist los? Warum rufst du mich an, was ist mit dieser Schwester und was ist mit dem Typen los? Ich hör doch, dass da was nicht stimmt." Aimée räuspert sich und zieht sich einen Stuhl zurecht.
"Ich kann es dir nicht sagen, wirklich. Gabrielle ist sehr krank, weißt du. Mehr kann ich echt nicht... "
"Julie, manchmal find ichs echt zum Kotzen. Du hörst dir den ganzen Müll von anderen Leuten an, und wenn du nicht damit zurechtkommst, erzählst dus trotzdem nicht weiter!" flucht Aimée.
"Es ist nichts schlimmes." lügt Julie und schließt die Augen.
"Das hör ich!"
"Nein, wirklich. Ich war nur allein letzte Nacht und konnte kaum schlafen, weil es so dunkel ist und... dann hab ich... nen komischen Film gesehen und hatte Angst."
"Erzähl... Vielleicht kenn ich ihn!"
"Ich glaub nicht. Irgendein belgischer Fernsehfilm. Grottenschlechte Schauspieler... ich glaub nicht mal, dass der jemals wiederholt wird."
"Erzähl schon."
"Es ging um eine Frau... eine psychisch kranke Frau. Hast du schon mal was von einem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom gehört?"
"Nee, was ist das?" Aimée gähnt.
"Die Frau macht ihre Kinder absichtlich krank, um dann bei Ärzten oder Verwandten oder anderen Leuten Mitleid zu erregen. So ganz grob..."
Aimée zieht die Luft scharf ein.
"Du solltest so einen Scheiß echt nicht gucken, wenn du nachts allein im Dunkeln bist. Okay, wie gings weiter?"
"Diese Frau hatte zwei Kinder... zwei Jungen... Und die hat sie richtig heftig gequält... So richtig mit Nase und Mund zuhalten, damit die Kinder fast ersticken... vorhandene Wunden infizieren..." zählt sie tonlos auf, was sie vor ein paar Stunden im Internet recherchiert hat.
"Und was ist dann passiert? Hat es jemand gemerkt?"
"Die Kinder haben es nicht mehr ausgehalten. Eines hat die Mutter schließlich ziemlich brutal umgebracht."
"Wie?"
"Ich weiß nicht, ich hatte zu große Angst und hab mir das Kissen vor die Augen gehalten, als er die Mutter niedergeschlagen hat. Ich hab nur die Schreie gehört..."
"Und dann?"
"Der Bruder hat es gesehen. Und er hat es nicht der Polizei gemeldet..."
Aimée seufzt tief.
"Wegen so einem Müll schläfst du nicht? Armes Ding."
"Findest du das richtig?"
"Dass Mütter so was tun können? Nein, ganz sicher nicht."
"Nein, dass der Bruder nichts gesagt hat." antwortet Julie.
"Ich hätte vielleicht anders versucht, die Mutter loszuwerden. Abhauen oder so..."
"Sie hat die Kinder irgendwie immer wieder zurückbekommen."
"Und keiner hat den Kindern geglaubt? Hmm, vielleicht... ich weiß nicht. Das sagt sich immer so leicht, wenn man nur über Filme redet. Ich könnte beides verstehen. Aber wenn ich der Bruder wäre, hätte ich vermutlich dichtgehalten, wenn ich den anderen wirklich gern habe. Und du?"
Julie zuckt mit den Schultern.
"Ich hab drüber nachgedacht. Ich glaub ich halte auch dicht... ich meine, ich würde es an seiner Stelle tun."
"Hm..." Aimée gähnt wieder "Geht es dir jetzt wieder besser?"
"Nein, aber ich lass dich jetzt weiterschlafen und geh ein bisschen spazieren."
Am nächsten Morgen lässt sich Gabrielle klaglos Blut abnehmen und ihre Wunden versorgen - eine gelegentlich wieder erwachende Angewohnheit aus der Zeit, als ihre Mutter noch ihre Knochen brach und ihr die Haut vom Leib ätzte.
Erik reibt sich die Augen und unterdrückt ein Gähnen. Er hat die ganze Nacht an ihrer Seite gewacht, obwohl nichts sie aus ihrem Drogenschlaf hätte wecken können.
"Ich lebe noch." flüstert sie, als Erik ihr eine Jeans überzieht.
Hastig setzt er sie auf und nimmt sie in den Arm.
"Ja, du lebst noch." antwortet er ruhig "Und das ist sehr schön. Ich habe dich sehr lieb, Gabrielle."
"Ich will ein Eis zum Frühstück." piepst sie gegen seine Schulter.
"Du willst Frühstück?"
"Eis und Pfannekuchen."
"Jaja, und eine Torte." er lächelt schief. Was soll er nur tun, wenn Julie die Polizei benachrichtigt hat? Er spürt überdeutlich, dass er zugelassen hat, dass sein Leben und das Gabrielles seinen Händen entgleitet; und der Zustand des freien Falls dreht ihm den Magen um.
Er hätte Julie nie davon erzählen sollen. Was hat ihn nur geritten? Wie konnte er so ein egoistisches dummes iArschloch/i sein! Um sie wegzutreiben und sich Schmerz zu ersparen, setzt er alles aufs Spiel, was ihm auf dieser Welt etwas bedeutet!
Mit einem eigens gekauften tragbaren Fernsehgerät zapft er die Überwachungskameras auf dem Grundstück an. Es ist ein verzweifelter Versuch, doch die Hoffnung, dass die Polizei, sofern eingeschaltet, nicht auf den Gedanken gekommen sein könnte, dass er sein Überwachungssystem verwenden wird, ist die einzige, die ihm bleibt.
Wenn er Polizeikräfte entdeckt, wird er mit Gabrielle fliehen. Ohne Vorbereitung und entsprechende Helfershelfer wird er nicht weit kommen, darüber ist er sich im Klaren, doch er wird seine Schwester nicht kampflos aufgeben.
"Warum haben wir angehalten?" fragt Gabrielles müde Stimme vom Sitz gegenüber.
"Schlaf weiter, es ist alles in Ordnung." Aufmerksam schaltet er durch die Kanäle. Nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Noch einmal schaltet er durch, dann holt er tief Luft und gibt das Zeichen zur Weiterfahrt.
Julie hebt den Kopf. Die Limousine kommt zurück, sie hört das mechanische Knarren des Tores. Als sie den Fernseher einschaltet und einen Blick auf die Bilder der Überwachungskameras wirft, sieht sie, wie Erik Gabrielle zurück ins Haus trägt. Sie ist heute schon wieder in Jeans gekleidet, nicht in Schwarz, und sie umklammert Eriks Hals. Julie schaltet den Fernseher wieder aus und versucht, sich auf ihr Buch zu konzentrieren. Es war richtig, die Polizei nicht zu rufen. iEs war richtig./i
Aufgeregt von einem Fuß auf den anderen tretend klopft Gabrielle abends an die Tür des Gästehauses. In der Hand hält sie ein Glas Honig und einen versiegelten Brief.
Julie braucht einige Zeit, um sich dazu durchzuringen, die Tür zu öffnen. Sie hat nicht die geringste Ahnung, wie sie mit Erik umgehen soll, wenn sie ihm nochmal begegnet. Als sie schließlich doch aufmacht, stellt sie erleichtert fest, dass es Gabrielle ist. Sie sieht noch immer sehr blass und krank aus, undan ihren Handgelenken leuchten die weißen Verbände. Julie zwingt sich zu einem Lächeln.
"Schön, dass du mich mal wieder besuchst. Komm... rein!" Sie macht eine einladende Handbewegung.
"Julie!" Gabrielle quietscht und umarmt sie vorsichtig "Guck mal, ich lebe noch! Und hier das..." sie streckt ihr Honig und Brief entgegen "Ist für dich. Das süße Zeug von mir, das Gekrakel von Erik. Keine Ahnung, er hat gesagt, ich darf ihn nicht aufmachen. Als würde ich anderleuts Briefe lesen!" sie schüttelt den Kopf.
Stirnrunzelnd nimmt Julie den Brief und legt ihn unter das Honigglasauf die Arbeitsplatte in der Küche.
"Den les ich irgendwann später. Jetzt komm erst mal mit ins Wohnzimmer und erzähl mir was." Sie verzieht traurig das Gesicht. "Möchtest du... was trinken?"
"Oh, ja bitte! Wie war die Nacht? Hattest du viel Angst?" Gabrielle lässt sich auf das Sofa fallen und legt den Kopf schief.
"Ach." Julie geht zur Küche "Die Dunkelheit war nicht das Problem... Tee, Kaffee, Milch, Saft?"
"Saft. Das versteh ich jetzt nicht, du hast doch Angst vor der Dunkelheit."
"Hab ich auch... aber gestern hatte ich mehr Angst vor irgend so einem dummen Film..." Sie lächelt gezwungen und kommt mit Saft und Gläsern zurück "Dafür hab ich dann auch gleich meine Agentin aus dem Bett geklingelt und mich bei ihr ausgeheult."
Mitleidig zieht Gabrielle eine Schnute.
"Worum gings in dem Film?"
Julie schüttelt den Kopf, völlig damit beschäftigt, Saft in die Gläser zu füllen.
"Irgend so ein Horrorfilm. Programmänderung, keine Ahnung warum. Aliens überfallen die Erde. Das übliche halt. Aber wenn man so im Halbschlaf was davon mitkriegt..."
"Igitt. Arme Julie. Und was hast du gestern den ganzen Tag gemacht, als wir weg waren?"
"Gestrickt... spazierengegangen... So Zeug halt." Sie setzt sich zu Gabrielle. "Schön, dass es dir wieder besser geht."
"Oh ja, das ist es. Ich lebe noch..." zufrieden trinkt Gabrielle ein paar Schlucke "Ich kann aber nicht so lange bleiben, ich muss früh ins Bett, sonst gehts morgen gleich wieder abwärts."
"Das ist okay. Hauptsache, du kommst bald wieder vorbei und lässt dir nicht mehr soviel Zeit wie in den letzten Tagen. Ich hab dich richtig vermisst. Und ich hab mir Sorgen gemacht." Julie knabbert lustlos an einem Keks. Die erste feste Nahrung seit... seit Erik hier war.
"Hm, du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Erik ist doch da." Gabrielle lächelt verschmitzt "Wenn der mich nicht durchbringt, schafft es keiner."
"Ja, Erik hat dich sehr lieb. Er ist ein toller kleiner Bruder." Julie würgt den Keks herunter und spült mit einem kräftigen Schluck Saft nach.
Gabrielle nickt. Dann seufzt sie leise.
"Er hat diesmal mehr geweint als ich..." murmelt sie und schüttelt den Kopf "Und auf der Fahrt zurück war er ziemlich komisch."
Julie versucht, desinteressiert mit den Schultern zu zucken.
"Ihm geht das alles bestimmt auch ganz nah."
"Ich weiß nicht... Er hasst es, zum Grab zu müssen, er macht das nur wegen mir, nicht wegen... Ich werd nie verstehen, warum er sie nicht leiden kann. Sie war immer so lieb zu uns..."
Julie steht auf.
"Ich mach mir einen Tee. Irgendwie hab ich grade Lust auf einen Tee mit ganz viel Honig. Magst du auch einen?"
"M-hm." Gabrielle nickt.
Hastig gehtJulie in die Küche, lehnt die Tür an und schlägt dann ein paar Mal mit der Faust auf die Arbeitsplatte ein.
"Scheiße!" Sie kann es kaum ertragen, dass Gabrielle von dieser Frau spricht als sei sie ein Unschuldsengel... eine Bilderbuchmutter. Sie starrt den Brief unter dem Honigglas an. Nein, nicht jetzt. Erik wird seine Gründe gehabt haben, ihn zu versiegeln. Sein Inhalt wird nicht für Gabrielle bestimmt sein, und sie wird ihn erst später öffnen... allein.
Mit zwei Teegläsern, dem Tee und einem Honigglas auf dem Tablett kehrt sie zurück ins Wohnzimmer und beißt sich auf die Zunge.
"Wann arbeitest du wieder?"
"Mal sehen, wie ich mich fühle. Aufträge sind erst für nächsten Monat wieder vorgesehen." Gabrielle nimmt sich ein Glas Tee "Was war los? Hast du den Honig nicht aufgekriegt?"
"Warum?" Julie bemüht sich um eine Unschuldmiene.
"Na, du hast Scheiße gerufen und irgendwo draufgehauen." Gabrielle grinst schwach. "Vielleicht solltest du eine Aggressionsbewältigungstherapie machen."
"Ja, wahrscheinlich sollte ich auch ein paar Baumstämme enthaupten" stöhnt Julie und verzieht traurig den Mund bei der Erinnerung an den Morgen, an dem sie Erik beobachtet hat. Es hätte so schön sein können. Wenn sie ihn bloß nicht gebeten hätte, ihr alles zu erzählen!
"Oh, du hast Erik tanzen gesehen? Das ist schön, oder? An meinem Geburtstag macht er immer einen Tanz nur für mich."
"Wann hast du Geburtstag?" fragt Julie und lehnt den Kopf gegen ein Kissen.
"Im Juni. Und du? Erik ist ein Dezemberkind, eigentlich müsste er ganz krumme Knochen haben..."
"Im Februar."
"Ah." Gabrielle nickt "Auch im Winter. Hast du krumme Knochen?"
"Nein, warum sollte ich?" erkundigt sich Julie verwundert.
"Naja, wenn Kinder im Winter geboren werden, kriegen sie erstmal kaum Licht und ihre Körper produzieren zu wenig Vitamin D, das gebraucht wird, um die Knochen zu härten. Rachitis heißt das dann."
"Oh." macht Julie "Das wusste ich nicht. Nein, ich glaub bei mir ist alles normal."
"Noch ein Glückspilz." lächelnd trinkt Gabrielle ihren Tee aus "Ich glaub, ich geh jetzt mal. Ich mag noch baden, und da muss Erik mir helfen wegen meiner Handgelenke."
Julie nickt und wirft einen flüchtigen Blick auf die Verbände. Es muss wirklich schlimm gewesen sein, mit anzusehen, wie Gabrielle versucht, sich das Leben zu nehmen. Aber Erik konnte es verhindern. Wahrscheinlich wiederholt sich das ganze seit dreißig Jahren und er hat sich darauf eingestellt. Sie wäre restlos überfordert gewesen.
Langsam steht sie auf.
"Wir sehen uns ja bestimmt... morgen oder so."
"Mal sehen. Machs gut."
"Ja, du auch!" Julie winkt kurz und schließt dann die Tür.
Der Brief... Sie geht zurück in die Küche und dreht ihn eine ganze Weile in den Händen. Versiegelt mit richtigem Siegelwachs. Was er ihr wohl zu sagen hat?
Langsam erbricht sie das Siegel und faltet den Brief auf.
In erstaunlich krakeligen, ungelenken Buchstaben steht dort:
iJulie,
ich kann nicht in Worte fassen, wie dankbar ich dir dafür bin, dass du nicht die Polizei gerufen hast. Gabrielles Leben lag in deinen Händen.
Ich kann dich nicht bitten, mir zu vergeben, was ich getan habe, aber ich hoffe, dass du eines Tages willens bist, es zu verstehen.
Ich werde dich jeden Tag um neun Uhr im Instrumentenraum erwarten. Komm, wenn du bereit dazu bist.
Erik/i
Julie beißt sich auf die Unterlippe und geht mit dem Brief nach oben. Nur für den Fall, dass Gabrielle zurückkommt, lässt sie ihn in ihrer Nachttischschublade verschwinden. Es war richtig, nichts zu sagen.
Aber wann wird sie ihm wieder begegnen wollen? Will sie es überhaupt? Sie starrt auf die Schublade mit dem Brief.
"Ich hab das nicht für dich gemacht." murmelt sie und wirft sich auf das Bett, so dass die Federn lautstark ächzen. "Aber Gabrielle braucht dich..."
