Kapitel 15
"Kommt Julie nicht?" Gabrielle setzt sich auf der Chaiselongue auf "Es ist doch bestimmt schon halb zehn."
"Vielleicht möchte sie eine Pause." antwortet er ohne sich umzudrehen "Wir... haben uns gestritten, bevor ich mit dir ans Grab gefahren bin."
"Gestritten? Warum denn?"
"Das ist ziemlich kompliziert..."
"Hm." Gabrielle steht auf und geht neben ihn, um ihn zu umarmen "Ich glaube, ich lege mich auf die Terrasse und schlafe ein bisschen. Und nachher besuche ich Julie. Sie hat gesagt, sie hat mich vermisst."
"Ja, mach das. Aber frag sie nicht nach dem Streit."
"Na gut." Sie streichelt ihm über den Rücken, dann wendet sie sich ab und verlässt das Zimmer.
Nachdenklich schaut Erik auf das Gästehaus. Ob sie 'Fille noire' überhaupt rechtzeitig werden aufnehmen können? Im Zweifelsfalle muss Gabrielle es einsingen...
Seit ein paar Stunden hockt sie schon an dem kleinen Bachlauf und wirft Steine ins Wasser. Im Gästehaus fällt ihr langsam die Decke auf den Kopf und sie hat sich auch nach zwei Tagen noch immer nicht getraut, zu ihrer Gesangsstunde zu gehen. Gabrielle hat bei ihren Besuchen kein Wort darüber verloren. Seufzendgräbt Julie nocheinen kleinen Stein aus der Wiese.
"Guten Tag, Julie. Du erschreckst die Fische."
Erschrocken fährt sie um und starrt ihn an. Verflucht...
"Es gibt hier Fische?" fragt sie tonlos.
"Stichlinge." er streicht sich über den Nacken "Wenn du nicht mit mir reden willst, ist das in Ordnung, dann gehe ich wieder."
Julie legt die Stirn in Falten und sieht ihn nachdenklich an.
"Nein... nein, bleib ruhig."
Langsam lässt er sich ein gutes Stück von ihr entfernt im Gras nieder und kreuzt die Arme über seinen Knien.
"Du musst mich für ein Arschloch halten..." sagt er nach einer Weile leise.
"Weil du deiner Schwester wahrscheinlich das Leben gerettet hast und dich um sie kümmerst und immer für sie da bist, egal wie schwierig sie ist?" Sie schaut wieder auf den Bachlauf und versucht angestrengt, Fische zu erkennen "Ich habe genug Zeit zum Nachzudenken gehabt, Erik, und glaub mir, ich hab mehr als einmal die Nummer der Polizei gewählt... Aber ich konnte es nicht... Gabrielle... Wusstest du, dass drei bis neun Prozent der Kinder von Münchhausen-Stellvertreter-Kranken nicht überleben?"
Er nickt langsam.
"Die Dunkelziffer liegt noch höher."
Julie verengt die Augen zu schmalen Schlitzen und konzentriert sich auf die Wasserbewegung.
"Sie redet sich eure verdammte Mutter noch heilig."
"Und sie versucht, sich umzubringen, weil sie sich manchmal die Schuld an ihrem Tod gibt." ergänzt er kaum hörbar.
"Das konntest du damals nicht wissen. Hast... hast du Gabrielle nie mitgenommen, wenn du abgehauen bist?" Sie presst die Lippen fest aufeinander.
Hilflos zuckt er mit den Schultern.
"Sie ist doch so oft krank geworden... vor allem dann, wenn ich unterwegs war."
"Du hättest sie einfach mitnehmen sollen." flüstert sie "Hattet ihr denn keinen Freund oder... irgendjemand nettes, der sich um euch hätte kümmern können? Der euch geglaubt hätte?"
"Dass unsere Mutter schuld an Gabrielles Krankheiten war, habe ich erst an dem Abend begriffen, als ich... Ich dachte immer, sie verletzt nur mich. Und Freunde... wie will man Freunde oder Verwandte haben, denen man vertraut, wenn man kaum jemand anderes zu Gesicht bekommt, als die eigene Schwester und ein paar Krankenpfleger?"
Julie verzieht traurig das Gesicht.
"Ich... ich weiß nicht... Das mit dem Mord... Ich bewundere dich dafür, dass du es schaffst, das so lange vor Gabrielle zu verheimlichen, und ihr die Illusion von der netten Mutter lässt.Ich... ich schaff es ja kaum, ihr in dieAugenzu sehen, wenn sie davon anfängt." Sie blinzelt und versucht, die Tränen zurückzuhalten.
Erik schüttelt er den Kopf.
"Ich habe versucht, es ihr zu erklären, ich habe sie angeschrieen, dass Roseanne uns beide noch umgebracht hätte, dass sie froh sein soll. Es hat ihre Welt zerstört, dass ich so schlecht über unsere gute, liebe Mutter denke. Am Abend ist sie aus dem Fenster im vierten Stock gesprungen... Und dass ich der Täter bin... Sie würde es mir nicht glauben... oder es wäre ihr Todesurteil."
Julie schluchzt leise.
"Ich würde ihr so gerne helfen... Aber wahrscheinlich hilfst du ihr am meisten, wenn du ihr weiter ihren Glauben lässt. 'Schlafwandler soll man nicht wecken', sagt Aimée immer." Sie schluckt schwer und wischt sich mit dem Arm über die Augen "Und... und wenn man sie wenigstens zu einem guten Therapeuten schickt? Irgendjemandem, der ihr helfen kann, einigermaßen über... das, was sie gesehen hat, wegzukommen?"
"Sie hat vier Jahre in der geschlossenen Psychiatrie gesessen. Die haben sie nicht in den Griff bekommen. Aber jetzt geht es ihr gut, Julie. Die meiste Zeit des Jahres geht es ihr beinahe so gut wie jedem anderen Menschen. Ich höre ihr zu, ich halte sie, sie vertraut mir bedingungslos... mehr könnte kein Therapeut für sie tun."
"Das war einer der Gründe, warum ich immer wieder aufgelegt habe, wenn ich die Polizei angerufen habe." Sie kaut auf ihrer Lippe herum.
"Und wenn Gabrielle könnte, würde sie dir dafür um den Hals fallen."
Julie nickt steif.
"Gut..." Dann dreht sieden Kopf ein wenig und beobachtet Erik aus dem Augenwinkel. "Das mit den Gesangsstunden... Ich würde 'Fille Noire' gerne nochmal üben, bevor wir es aufnehmen..." flüstert sie sehr leise.
"Wäre dir morgen früh um neun recht?"
"Wie immer?"
"Wie immer." Erik erhebt sich und klopft sich ein paar Grashalme von der Hose "Ich lasse dich jetzt wieder allein. Bis morgen, Julie."
"Bis morgen. Ich hoffe, ich enttäusche dich nicht." Sie wendet sich wieder dem Wasser zu und pult einen Stein aus der Wiese.
"Ich habe großes Vertrauen in deine Stimme." Damit verschwindet er zwischen den Bäumen.
Betont langsam geht Julie an der Rezeption vorbei, winkt Gabrielle kurz zu und klopft dann an die Tür des Musikzimmers.
"Guten Morgen, Erik."
Er schaut von seinen Händen auf und legt die Feder bei Seite.
"Guten Morgen, Julie."
Sie lächelt kurzgegen ihren Willen, als sie seine angemalten Hände sieht, wirft ihre Jacke auf die Chaiselongue und geht zum Flügel.
iWie immer/i.
"Hast du alleine geübt, oder müssen wir deine Stimme erst wieder wecken?"
Sie runzelt die Stirn.
"Ich habe nur einmal geübt." gesteht sie ihm. "Aber du wirst ja beim Einsingen hören, wie schlimm es um mich bestellt ist."
"Gut. Wärme dich mit Tonleitern auf." Er gibt einen Ton vor. "Achte schon jetzt auf dein Becken, deine Stütze und deinen Kiefer."
"Wie immer." murmelt sie und beginnt, zu singen.
Erik lauscht ihrer Stimme sehr aufmerksam, während er spürt, wie sich in seinem Innern ein sonderbares Gefühl der Leere einstellt, das zunimmt, je näher das Ende der Stunde rückt.
"Ich denke, wenn du gut mitarbeitest, können wir die Aufnahmen in anderthalb bis zwei Wochen machen." er klappt den Deckel über die Klaviatur, legt seine Hände locker auf seine Oberschenkel und ergänzt ruhig: "Damit hast du deinen Vertrag erfüllt und bist frei, zu gehen."
Julie schiebt die Unterlippe nach vorne und lässt sich auf der Chaiselongue nieder.
"Nach den Aufnahmen... das heißt, du hast nicht mehr vor, mich weiterhin zu unterrichten?" meint sie nachdenklich.
Erstaunt blickt Erik sie an.
"Das hängt einzig davon ab, was du willst."
Sie zuckt mit den Schultern und sieht ihn an.
"Ich dachte, vielleicht möchtest du mich nicht mehr..."
"Warum?"
"Weil... weil du wieder deine Ruhe haben willst. Weil du es vielleicht bereust, dass ich hier bin... Dass du mir die ganzen Sachen anvertraut hast." Sie schüttelt den Kopf und seufzt.
"Nein, Julie." er erhebt sich und geht unschlüssig vor dem Flügel auf und ab. "Ich... ich vertraue dir."
Sie senkt den Blick und spielt mit ihren Händen.
"Dann... dann ist ja gut. Dann bleibt also alles so wie wir es verabredet haben?"
"Und wir sehen uns morgen um neun Uhr wieder." er nickt.
Sie steht auf, sucht ihre Sachen zusammen und wirft Erik noch einen kurzen Blick zu, bevor sie geht.
"Bis morgen."
"Wir haben gar nicht gefeiert, dass ich noch da bin." stellt Gabrielle mit Schmollmund fest, als Erik am Rezeptionstresen vorbei in sein Zimmer gehen will.
"So gut fühlst du dich schon wieder?" er lehnt sich gegen den Tresen und mustert sie.
"Ja, ich glaube, ich bin wieder auf der Null-Linie angekommen. Und ich möchte das feiern. Ich will kochen, mit dir und mit Julie."
"Oh..."
Gabrielle verengt die Augen zu Schlitzen und stützt ihre Fäuste in die Hüften.
"Erik, nur weil du dich mit Julie gezankt hast, werde ich nicht darauf verzichten, meine beste Freundin zu meinem zweiten Geburtstag einzuladen!"
"Ist ja gut." gibt er nach. "Solange ich nicht mit euch essen muss..."
"Nein, du darfst vorher gehen. Und ich fahre jetzt die Kiste runter und lade Julie für morgen Abend ein!" Sie grinst zufrieden.
Als es klopft, legt Julie das Strickzeug zur Seite und schaltet die Musik aus.
Sie lächelt, als sie Gabrielle vor der Tür entdeckt.
"Na, was führt dich hierher?" Sie winkt sie ins Wohnzimmer.
"Der Plattenweg. Ich will dich einladen." auf nackten Füßen tapst Gabrielle zum Sofa, wirft sich darauf und beginnt, an ihren Verbänden herumzuspielen "Ich will kochen, mit dir und Erik. Und guck gar nicht erst böse, nur weil ihr euch gezankt habt, werde ich noch lange nicht auf meine Feier ver... ups..." sie schlägt sich beide Hände vor den Mund, als ihr wieder einfällt, dass ihr Erik verboten hat, Julie auf den Streit anzusprechen.
Julie runzelt die Stirn. Streit... so hat er Gabrielle also erklärt, dass sie sich so lang nicht mehr hat blicken lassen.
"Wann willst du kochen?"
"Morgen Abend um sieben."
Julie seufzt.
"Ich weiß nicht. Klar feiern wir beiden... Aber ich glaube nicht, dass dein Bruder..." Sie bricht ab und lehnt sich zurück.
"Erik, er heißt Erik." murrt Gabrielle und presst die Lippen zusammen "Ich fühle mich wie ein Scheidungskind."
Julie schüttelt den Kopf. Was solls? Erik wird sowieso nicht kommen, wenn sie da ist, oder er geht gleich wieder, so wie beim letzten Mal, als Gabrielle und sie zusammen Bouillabaise gemacht haben. Jedenfalls werden sie nicht gemeinsam essen.
"Ist ja gut, ich bin morgen um sieben bei dir und dann kochen wir zusammen."
"Wir drei."
Julie starrt angestrengt auf die Kartoffel in ihrer Hand, dann wieder auf die in Eriks. Wie hat Gabrielle ihn bloß überzeugen können, tatsächlich mit ihnen zu kochen? Sie war sich so sicher ... Sie legt die Stirn in Falten, als Erik seine Kartoffel in einem einzigen Stück schält und dann in den Topf mit Wasser fallen lässt. Gabrielle steht irgendwo am Spülbeckenununterbrochen redend und Julie hofft, dass sie ihr keine Fragen stellt, denn bisher hat sie kein Wort wirklich verstanden.
"Ein Internetforum ist nicht anders als eine Gesprächsgruppe." antwortet Erik auf Gabrielles Geschichte, ohne seinen Blick von der Arbeit zu nehmen.
"Und wie es das ist!" widerspricht Gabrielle missmutig "In einer Gesprächsrunde kann man den anderen wenigstens vors Schienbein treten, wenn er nicht zuhört. Aber diese Blödmänner lassen sich ja nichts zu Schulden kommen, was einen Rausschmiss rechtfertigen würde; sie nehmen sich ungestraft inicht/i die Zeit, anderleuts Posts zu lesen oder zu verstehen... und dann verfassen sie unsinnige Antworten. Ist doch unhöflich sowas! Oder, Julie?"
"Hm." macht Julie und versucht, sich zu erinnern, über was die beiden überhaupt gesprochen haben. Sie lässt die fertigeKartoffel ins Wasser fallen und beobachtet einen Augenblick lang gebannt, wie Erik eine weitere Kartoffel ohne abzusetzen schält.
"Siehst du." Gabrielle stellt die Flamme unter dem Topf kleiner und setzt sich neben Julie, um eine Zucchini zu schneiden. "Nun tut wenigstens so als hättet ihr Spaß." beschwert sie sich dann leise. "Ihr seid zum Kotzen, wenn ihr euch anschweigt."
"Wir schweigen uns nicht an, wir schälen konzentriert unsere Kartoffeln. Und ich bekomme meine partout nicht so perfekthin wie dein Bruder." sie lächelt Gabrielle aufmunternd an.
"Er heißt Erik. Und mit sowas hat er mich schon als Kind in den Wahnsinn getrieben." sie steckt sich ein Stück rohe Zucchini in den Mund und verzieht angewidert das Gesicht, ehe sie zur Biomüll-Schüssel eilt, um es wieder auszuspucken.
Julie schüttelt den Kopf und wirft Erik einen flüchtigen Blick zu.
"Entschuldige."
"Absolvo te in nunc et semper." antwortet Gabrielle großherzig. "Das ist griechisch und bedeutet: 'Ich möchte jetzt die Kartoffeln aufsetzen, also werdet fertig.'"
Julie legt das Messer zur Seite und grinst schief.
"Okay, fertig."
Erik legt sein Messer ebenfalls auf den Tisch und betrachtet den Haufen Schalenschlangen vor sich.
"Ich verstehe nicht, was man daran kompliziert finden kann." meint er dann leise.
Julie deute auf die kleinen Schalenabschnitte vor ihr.
"Machst du Witze? Spätestens ab der Hälfte reißt die Schlange bei mir."
"Du musst dich einfach mit dem Messer auf die Form der Kartoffel einlassen." entgegnet Erik und bemüht sich, ernst zu bleiben, als ihm auffällt, wie albern das klingt.
Julies Mundwinkel zuckt belustigt, während sie aufsteht und Gabrielle den Topf mit den Kartoffeln bringt.
"Und jetzt?"
"Jetzt darf Erik zugunsten von Sauce und Salat weinen." antwortet Gabrielle und legt zwei Zwiebeln vor ihm auf den Tisch "Und du und ich, wir machen weiter Zucchini und Tomaten klein."
Mit dem entsprechenden Gemüse bewaffnet setzt sich Juliewieder an den Tisch. Sie hat den ersten Schnitt kaum gemacht, da ist Erik schon mit beiden Zwiebeln fast fertig. Erstaunt zieht sie die Augenbraue hoch, als sie in seinen Augen keine einzige Träne sieht.
"Wie machst du das? Schnelligkeit?"
"Auch. Das Wichtigste ist allerdings, dass man nicht durch die Nase atmet."
Gabrielle lässt ihr Messer sinken und starrt ihn einen Moment lang entgeistert an. Dann beginnt sie zu kichern, schließlich zu lachen und kriegt sich nicht mehr ein.
Irritiert wirft ihr Julie einen Blick zu, dann Erik, dann wieder Gabrielle.
"Es funktioniert also nicht?"
"Nee... Bei ihm nicht..." keucht Gabrielle schwach. "Das ist ein Insider... den kann man... nicht erklären..." ergänzt sie mühsam, als Eriks warnender Blick sie trifft.
"Okay... dann werd ich wohl damit leben müssen." Julie schüttelt den Kopf und wendet sich wieder ihrer Zucchini zu.
"Und ich werde eure kleine Feier nicht weiter stören. Wenn es dir recht ist, Gabrielle." Erik wischt sich die Hände an einem Küchenhandtuch ab und schaut seine Schwester mit einem flehenden Ausdruck an.
Die seufzt und verdreht die Augen.
"Na gut. Zieh Leine."
"Dann... Bis morgen, Julie."
Sie nickt ihm zu.
"Bis morgen." Als er geht, dreht sie sich nicht um, sondern schneidet konzentriert weiteran ihrer Zucchini.
"Ihr seid gerade sehr anstrengend für mich." sagt Gabrielle leise. "Wann wollen wir zusammen nähen? Morgen Abend?"
Julie zuckt mit den Schultern.
"Klar, warum nicht. Soll ich irgendwas mitbringen?"
"Ich weiß nicht... Hast du deine Tunika hier? Die will ich mir mal angucken."
"Die hab ich immer dabei." Julie grinst "Lucas hasst sie und ich trage sie meistens, wenn ich allein zuhause rumsitze und fernsehe oder so."
"Fein. Dann nehm ich deine Maße und... ja, was nähen wir für dich? Oh, wir müssen in die Stadt und einen schönen Stoff aussuchen, ich hab zwar einiges da, aber wenn du was Materialintensives willst, muss ich passen."
"Ich habe keine Ahnung von sowas. Ich hab einfache, weiße Baumwolle für die Tunika genommen und dann die Kantenmit grünem Garn ein wenig bestickt. Aber wenn du willst, können wir auch erst nach Brüssel fahren, Stoffe besorgen, da etwas essen und dann hier nähen."
"Find ich gut. Ich muss hiereh nochmal raus, und zwar gutgelaunt. Irgendwie kriege ich einen Käfigkoller, wenn ich immer am selber Ort sein muss." Sie mustert Julie kurz "Ich bin für einen blauen oder einen beigen Stoff, irgendwas richtig edles... Seide oder Brokat..."
"Zu teuer." Julie kratzt die Zucchini von ihrem Schneidebrett in die Schüssel vor sich und steht auf.
"Quatsch. Ich will, dass du ein richtig schönes Kleid hast. Eins, unter dem du dein Korsett anziehen kannst." Gabrielle grinst breit.
"Fragt sich, wofür ich so ein Kleid brauche." murmelt Julie.
"Um es anzuziehen. Wir gehen fein ausstaffiert in die Stadt und verwundern die Leute. Oder so."
"Oder so." Mit der Schüssel in der Hand geht Julie zum Spülbecken. "Und dann zeig ich dir endlich, wie man Socken strickt. Passen dir deine überhaupt?"
Gabrielle zieht ihr Kleid hoch und streckt Julie ihre besockten Füße entgegen.
"Sie sind perfekt."
Julie grinst zufrieden.
"Das freut mich. Also, das ist jedenfalls auch ganz einfach. Das schlimmste sind die Zehen und die Ferse. Hast du schonmal irgendwas gestrickt?"
"Topflappen. Topflappen ohne Ende. Ich war oft bettlägrig und aufs Lesen konnte ich mich als Kind nicht gut konzentrieren."
"Gut, dann hast du den Bogen bestimmt schnell raus." Julie setzt sich wieder an den Tisch.
"Zwei rechts, zwei links... Oh..." Gabrielle kichert "Ich habe einmal einen Schal gestrickt. Der war am Ende drei Meter lang und ich musste ihn wieder aufmachen."
"Ich mag Schals... Ah, ich hab mal eine ganze Zeit lang Seidenmalerei gemacht und unter anderem aucheinen Schal bemalt. Irgendwann muss ich dir den mal zeigen."
"Okay. Und jetzt... Rosmarin."
Mit besorgt verzogenem Gesicht lehnt sich Gabrielle Stunden später an die Terrassentür.
"Soll ich nicht doch Erik holen?"
Julie presst die Lippen aufeinander.
"Ich weiß nicht. Er hat sicher irgendwas besseres zu tun, als mich zu begleiten."
"Nein, hat er nicht." Gabrielle stützt ihre Hände in die Hüften "Er liegt jetzt in seinem Zimmer und starrt die Decke an, so wie gestern und vorgestern auch, und er wird mich anfauchen, wenn ich reinkomme, und dann tun was ich will."
"Du hast ihn ganz gut unter Kontrolle." bemerkt Julie mit einem schwachen Lächeln.
"Hm. Entweder du entscheidest dich jetzt doch, bei mir zu schlafen, oder du sagst mir endlich, ob ich ihn holen soll, oder ob du dich quälen willst. Ich bin wirklich müde, ich mag nicht mehr hier rumstehen."
"Dann hol ihn." zwingt Julie sich zu sagen. Ihre Hände umklammern den Türrahmen, gegen den sie sich nun lehnt.
Gabrielle nickt zufrieden und schlurft davon. Es dauert eine ganze Weile, ehe sie mit Erik zurückkommt.
"Also... gehen wir?"
Julie stößt sich vom Türrahmen ab.
"Gut." Sie blickt unsicher zwischen Gabrielle und Erik hin und her. Normalerweise hätte sie sich jetzt bei beiden untergehakt. Zögernd nimmt sie erst Gabrielles und nach einiger Zeit dann auch Eriks Hand.
Der schließt für einen kurzen Moment die Augen, ehe er die Terrassentür aufschiebt. Es liegt ihm auf der Zunge, etwas beruhigendes zu sagen, doch er verbeißt es sich, genau so wie den Impuls, Julies Hand zu drücken.
"Hundert Meter." sagt er leise und schaltet die Taschenlampe ein.
"Das sind... fünfundneunzig mehr als sonst." murmelt Julie zwischen zusammengebissenen Zähnen.
"Du schaffst das schon."
"Ja, vielleicht sollten wir... dann jetzt auch mal anfangen zu gehen." bemerkt Gabrielle kopfschüttelnd, hakt sich bei Julie unter und zieht sie hinter sich her "Keine Angst, meine Schöne, Tante Gabrielle passt auf dich auf."
Willenlos und heftig atmendlässt sich Julie in die Dunkelheit hinaus zerren. Sie schluckt ein paar Mal und blinzelt. Nur ein paar Schritte. Sie hat doch in der letzten Woche so große Fortschritte gemacht.
"Kann mir... irgendjemand mal was nettes erzählen?" keucht sie schließlich.
"Oh..." Gabrielle runzelt die Stirn "Also, da war dieser Frosch in dem Tümpel, und der war ziemlich tief getaucht, um der Prinzessin ihre goldene Kugel zu holen, die sie blöderweise ins Wasser hatte fallen lassen. Der Frosch wollte einen Kuss dafür, und die Prinzessin hatte auch eingewilligt, aber als der grüne Kerl... Und schon sind wir da." Gabrielle bleibt stehen und streicht Julie gönnerhaft über die Wange "Den Rest erzähl ich dir morgen."
Hastig stößt Julie die Tür auf, tastet nach dem Lichtschalter und dreht sich dann noch einmal um. Ob sie die beiden fragen sollte, ob sie noch kurz reinkommen wollen? Gabrielle würde sicher noch etwas trinken. Sie lehnt sich gegen die Tür und blickt unentschlossen vom einen zum anderen.
Gabrielle legt den Kopf schief und lehnt sich an Erik an.
"Ich würde sagen: Gute Nacht, Julie."
Julie wirft Erik einen kurzen Blick zu und nickt dann in Gabrielles Richtung.
"Ja.Gute Nacht. Wir sehen uns dann morgen. Brüssel und so." Sie lächelt "Lass schonmal deinen Ferrari warmlaufen."
"Mach ich." Gabrielle winkt und zieht dann Erik hinter sich her zum Haupthaus zurück. "Wir können ja gleich nach dem Unterricht gehen."
Die Hände über seine Augen gepresst liegt er im Dunkeln auf dem Futon in seinem Zimmer und beißt die Zähne zusammen.
Er hat Julie von sich fort getrieben. Das war es, was er wollte. Sie wird ihn nicht mehr verletzen können, weil sie nicht mehr in seine Nähe kommt. Er sollte zufrieden sein. Doch alles, was er spürt, ist eine dumpfe Leere.
Als es an der Tür klopft, zuckt er zusammen. Langsam nimmt er die Hände vom Gesicht und schaltet das Licht neben dem Futon ein.
"Ja. Was ist?" ruft er müde.
"Das frag ich dich." antwortet Gabrielle, nachdem sie den weiten Raum durchquert und sich neben Erik gesetzt hat "Warum bist du so traurig und gereizt?"
"Ich bin nur erschöpft. Du warst nicht leicht um den 27. herum."
Sie schüttelt den Kopf.
"Du lügst. Es ist wegen dem Streit."
Er antwortet nicht.
"Dein Brief war eine Entschuldigung, oder?"
"So etwas in der Art."
"Aber Julie hat dir trotzdem nicht verziehen." sie beginnt, seine Wange zu streicheln.
"Offensichtlich nicht." ärgerlich schiebt er Gabrielles Hand weg. "Lass mich."
"Warum redest du nicht mit ihr?"
Erik verdreht die Augen.
"Weil ich mich nicht aufdrängen will! Ich habe bereits alles gesagt, was es zu sagen gibt."
"Dann werde ich mit ihr reden und..."
"Nein, das wirst du nicht!" wütend setzt er sich auf "Du wirst ihr kein Wort sagen!"
Gabrielle weicht erschrocken zurück.
"Warum bist du denn gleich so sauer?"
"Weil das verdammtnochmal eine Sache ist, die Julie mit sich selber ausmachen muss! Und jetzt lass mich bitte in Ruhe, ich will schlafen."
Sie presst die Lippen zusammen und rutscht vom Futon.
"Ich werd ihr nichts sagen." sie zögert "Du schläfst heute hier unten, oder? Hm, ich werd dich schon nicht brauchen."
Julie starrt die Tür eine ganze Weile lang unschlüssig an. Irgendwie hat sie keine Lust auf diese verkrampfte Atmosphäre, die seit Eriks Geständnis während des Unterrichts herrscht. Am Ende ringt sie sich dann doch durch und klopft.
"Guten Morgen." sie hebt nur kurz den Blick und wirft ihre Jacke auf die Chaiselongue.
"Guten Morgen." Erik lächelt breit "Ich hoffe, du hast gut geschlafen und wir können am Ende der heutigen Stunde einen ansehnlichen Fortschritt verzeichnen." Mit einer eleganten, fließenden Bewegung rutscht er vom Flügel und nimmt auf der Klavierbank platz, um Julie von dort aus erwartungsvoll anzusehen.
Ihre Augenbraue zuckt überrascht. Na, wenigstens scheint es ihm besser zu gehen als ihr... Erstaunlich viel besser. Sie geht zu ihm an den Flügel.
"Dann sing ich mich jetzt ein... wie immer?"
Erik nickt.
"Wie immer. Danach üben wir 'Fille noire'. Es wäre gut, wenn wir die Aufnahmen spätestens nächste Woche über die Bühne gebracht hätten. Die Leute vom Film sitzen mir zwar nicht im Nacken, aber ich möchte meinen guten Ruf nicht aufs Spiel setzen."
Julie kräuselt die Nase. Er redet heute so viel, wie in den ganzen letzten Tagen zusammen.
"Erik?"
"Julie?"
"Ich brauch den Ton."
"Natürlich." er betrachtet einen Moment lang die Tastatur und schlägt dann ein A an. "Kammerton. Und bitte."
Julie mustert ihn verunsichert, wagt aber nicht, ihn zu fragen, was los ist. Stattdessen singt sie sich ein, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Fußnoten:
Absolvo te in nunc et semper Ich vergebe dir, jetzt und immerdar.
