Kapitel 16

"Sag mal, was war heute mit deinem... mit Erik los?" fragt Julie, während sie verzweifelt versucht, ihr Eis abzulecken, bevor es ihr über die Hand auf die Hose tropft.

Gabrielle lehnt sich auf der Parkbank zurück und schaut einen Augenblick lang zögernd in Julies Richtung.

"Hm." macht sie dann "Er... er will glaub ich nicht, dass ichs dir erzähle, aber..." sie seufzt und beißt in ihr Eis "Erik nimmt... er nimmt Drogen, weißt du." nuschelt sie dann "Methadon. Und heute in der Stunde war er high."

"Aber ich dachte, das Methadon... das nimmt er doch immer." Julie runzelt die Stirn und knabbert an der Waffel "Wieso war er heute so... so anders?"

"Du wusstest, dass er...?" Gabrielle reißt die Augen auf "Oh... Dann hab ich ja nichts verraten... Im Unterschied zu sonst hat er sich das Methadon heute gespritzt. Intravenös macht es high. Euphorisch... und... und dazu muss ich dir was sagen..." Sie nimmt einen weiteren Bissen und knetet unruhig ihren Ellenbogen.

Julie lässt ihr Eis sinken und dreht sich zu Gabrielle.

"Erzähl schon!"

"Naja, er macht das ganz selten, nur wenn es mir gut geht und ihm schlecht. Richtig schlecht..." sie ringt mit sich "Er hat mir verboten, dir das zu erzählen, er ist richtig böse geworden, aber..." Gabrielle schüttelt hilflos den Kopf "Ich habe keine Ahnung, warum ihr euch gestritten habt, und ich weiß, dass Erik sehr verletzend werden kann, aber was auch immer passiert ist, es tut ihm leid, sehr leid. Er... er hat dich wirklich gern, Julie... und ich weiß, dass du ihn auch gern hattest, vor dem Streit... ich... ich bin etwas eifersüchtig, weil er so viel Zeit mit dir verbracht hat, aber nicht so eifersüchtig, dass ich gut finde, dass ihr jetzt überhaupt nicht mehr miteinander redet..." sie wirft Julie einen entschuldigenden Blick zu und schlürft an ihrem halbgeschmolzenen Eis herum.

"Hm." macht Julie nur und betrachtet Gabrielle aus dem Augenwinkel. "Ich rede doch mit ihm. Es ist nur..." Sie zuckt mit den Schultern. Erik hat sie gern? Sie hat immer gedacht, dass er sich einfach nur in den Kopf gesetzt hat, seine Schülerin von ihrer Angst zu befreien, um bessere Leistungen zu erzielen. "Das war ein ganz dummer Streit." murmelt sie "Aber ich weiß gar nicht mehr, wie ich noch mit ihm umgehen soll. Selbst wenn es ihm leid tut. Bei manchen Sachen hilft eine einfache Entschuldigung nicht, weißt du?"

"Aber... aber er ist doch nicht plötzlich ein anderer Mensch geworden, er ist immer noch Erik! Und Erik ist lieb. Guck doch, wie er sich um mich kümmert!" sie streckt Julie ihre verbunden Handgelenke entgegen "Ohne... ohne ihn wäre ich itot/i, oder immer noch eingesperrt, und er erträgt meine ganzen Launen und..." sie bricht ab "Er müsste das nicht tun. Er... er könnte mich wieder in eine geschlossene Anstalt stecken und seine Starlets vögeln, aber er tut es nicht. Weil er ein guter Mensch ist."

Julie kräuselt die Nase.

"Was für Starlets?" Vögeln? Erik... das würde bedeuten, dass er nicht impotent ist. Zu ihrer Verärgerung merkt sie, dass sie diese Tatsache irgendwie erleichtert.

Gabrielle grinst verschämt.

"Ach, ich hab dir doch von diesen karrieregeilen Tussis erzählt, die sich nur an Eriks Einfluss und sein Geld ranschmeißen wollen... Bis vor ein paar Jahren hat er jede einzelne von denen... naja, bis sie nicht mehr laufen konnte." sie räuspert sich "Nein, so schlimm wars nicht, aber ich hab sie immer gehört..." sie wirft den Kopf zurück "Ooh, ja, Erik, ooh, machs mir, jaa, das ist guut..." sie kichert ausgelassen "Das ist seine Rache an der Welt. Du bist die erste, die er seitdem massiert..." Gabrielle erstarrt "Aber ihr habt nicht... ich meine..."

Julie schluckt schwer.

"Ist das eine Frage?"

"Was? Natürlich ist das eine Frage! Hast du mit Erik geschlafen?"

"Gabrielle... Nein, hab ich nicht. Warum sollte ich mit Erik schlafen. Er... er ist mein Gesangslehrer und er ist dein Bruder und... ich hab doch grade erst mit Lucas..." Sie ballt die Hände zu Fäusten. Sie wird ihr nicht sagen, dass sie es sich gewünscht hat, in der Nacht, als er sie einfach so massiert hat, ohne sie nach draußen zu zerren. Und in der Nacht davor...

"Gut, das hätte mich nämlich auch verwundert." macht Gabrielle zufrieden "Dich mag er nämlich, wie gesagt. Und er hat dich schon... fünfmal massiert. Seine Schnitten waren immer gleich nach dem ersten Mal fällig. Und willig." sie verzieht den Mund zu einem triumphierenden Grinsen "Ich glaube, Erik ist verdammt gut in sowas."

Julies Kinnlade klappt nach unten und sie starrt angestrengt auf die beiden Einkaufstaschen mit den Stoffen. Massieren... Das ist seine Art, Frauen rumzukriegen? Und sie hat sich eingeredet, dass es etwas ganz besonderes ist. Etwas, dass er nur bei Gabrielle und ihr macht. Irgendetwas in ihr schnappt ein. Sie knallt die Serviette in den Mülleimer neben sich.

"Komm, lass uns gehen... Ich... ich müsste noch mal mit Lucas telefonieren. Ich hab mich ewig nicht mehr bei ihm gemeldet und ihn immer vertröstet, wenn er mir eine SMS geschrieben hat." Sie presst die Lippen aufeinander. Verdammt gut in sowas... Sie sollte froh sein, dass er nicht bei ihr geblieben ist. Sonst wäre sie auch nur eine auf seiner langen Liste gewesen.

"Lucas lebt noch?" Gabrielle stolpert hinter ihr her "Hey, warte doch, nicht so schnell..."

"Lucas?" Sie kuschelt sich in die Kissen auf dem Sofa.

"Du klingst gar nicht gut." meint er besorgt "Komm nach Hause. Ihr habt die Aufnahmen dochbestimmt in den nächsten Tagen fertig und dann kommst du zurück und wir... wir reden noch mal in Ruhe."

Julie schließt die Augen und schüttelt den Kopf.

"Nein. Nein, ich zieh das durch. Ich schlaf bloß nicht so gut in der letzten Zeit."

"Ich weiß. Aimée macht sich auch Sorgen. Hast du immer noch Nackenschmerzen?"

Julie setzt sich auf.

"Du hast mit Aimée gesprochen?" fragt sie und versucht, ihre Angst zu überspielen.

"Ich hab sie gestern getroffen." sagt er nur.

Julie hält die Luft an. Aimée würde nichts verraten. Sie ist ihre Freundin.

"Und?"

"Ach nichts. Sie... sie hat dein Kissen geholt, als ich nicht da war." Er macht eine Pause "Das hat sie dir erzählt, oder?"

Julie nickt.

"Ja, ich hab sie drum gebeten."

"Das hättest du mir auch sagen können. Ich... ich hab es nicht so gern, wenn andere Leute in meiner Wohnung rumlaufen wenn ich nicht da bin." murrt er.

Julie stöhnt.

"Das war doch nur Aimée... Du kennst sie genauso lang wie ich."

"Hat sie... hat sie irgendwas gesagt?"

"Hä?"

"Ihr habt doch sicher telefoniert, nachdem sie das Kissen geholt hat." Seine Stimme klingt gespannt. Der Arbeitsstress scheint ihn ziemlich mitzunehmen.

"Ja... sie meinte, dass es wohl etwas... unordentlich war oder so..."

"Julie, ich..."

"Ist schon okay. Solang keine Kakerlaken durch die Wohnung wandern." unterbricht sie ihn. "Wenn ich zurückkomme, setzen wir uns zusammen und regeln das mit der Wohnung und den Möbeln." Warum schafft sie es nur, so ruhig über die Aufteilung ihres Hausrates zu reden? Sie sind sieben Jahre zusammen gewesen. Sie haben seit ihrem neunzehnten Geburtstag eine gemeinsame Wohnung. Verwirrt über sich selbst schüttelt sie den Kopf.

"Dann... dann willst du also wirklich nicht mehr..."

"Lucas..."

"Du fehlst mir." flüstert er.

"Lucas, ich..."

"Bitte, komm zurück. Wir könnten es doch irgendwie noch mal versuchen. Bitte Julie, ich... ich brauch dich doch. Das weiß ich jetzt ganz sicher."

Sie beißt sich auf die Zunge.

"Ich muss rüber." presst sie dann heraus "Gabrielle wartet auf mich. Wir wollen zusammen nähen."

"Julie, hast du mir zugehört?"

"Ja, Lucas. Aber... lass uns ein andermal darüber reden. Nicht am Telefon, nicht heute. Ich muss zu Gabrielle."

Er atmet schwer.

"Es ist dieser Erik, oder?"

"Was?"

"Du hast was mit ihm!" stößt er aus.

"Nein! Lucas, wie kommst du darauf? Ich gehe zu Gabrielle und werde mit ihr einen netten Abend verbringen und... und irgendwann werde ich wieder zurückkommen und dann reden wir in Ruhe, okay?"

"Julie..."

Nicht schon wieder. Sie will es nicht hören.

"Julie, ich..."

"Ich weiß, Lucas." Sie hängt auf und macht sich mit ihrer Tunika über dem Arm auf den Weg zu Haupthaus.

"... und sechsundfünfzig. Nette Maße." murmelt Gabrielle und kritzelt die Zahl auf einen Zettel. "Und das Korsett steht dir wirklich gut. Lucas hat einfach einen schlechten Geschmack, was Reizwäsche angeht."

Julie zuckt mit den Schultern.

"Vielleicht... Er klang gar nicht gut eben am Telefon."

"Was heißt 'nicht gut'? Vermisst er dich?"

"Ich glaub schon." Sie lässt sich auf den Stuhl fallen.

"Wenn er wiederkommt, soll er bloß netter sein." Gabrielle wickelt das Maßband auf "Jetzt führ mir mal deine Tunika vor!"

"Lucas kommt nicht wieder." entgegnet Julie und steht auf. "Hilf mir mal aus dem Ding, du hast das zu fest geschnürt, ich kriegs nicht mehr auf."

"Dann lass es doch an. Hier wird dich bestimmt keiner dafür anmeckern. Und ich kann ja immer wieder verstohlen zu dir gucken, um deine schlanke Linie anzuhimmeln." Gabrielle grinst und zwinkert Julie verschmitzt zu.

"Ich dachte, du wolltest die Tunika sehen... da hab ich normalerweise kein Korsett drunter..."

"Normalerweise stehst du auch nicht halbnackt im Wohnzimmer deines Gesangslehrers rum."

Erschrocken dreht sich Julie und sieht sich im Raum um.

"Aber Erik kommt doch bestimmt nicht hoch, oder?"

"Nein... Und wenn doch, ist er garantiert zu high, als dass es ihn noch stören würde, dass du nichts anhast." ergänzt Gabrielle eine Spur säuerlich.

"Du magst nicht, wenn er das Zeug nimmt, oder?" Julie zerrt an dem Korsett, gibt es dann auf und streift ihre Tunika über, die sie auf die Sofalehne gelegt hat.

"Hm." Gabrielle zuckt mit den Schultern "Meistens verwendet er es sinnvoll, aber im Moment missbraucht er das Zeug als emotionale Hängematte..." sie senkt den Blick "Weil er gerade wirklich nichts anderes dagegen tun kann, dass es ihm schlecht geht..."

"Hm." Julie zieht die Tunika zurecht. "Fertig." Sie dreht sich um.

"Das sieht bequem aus. Und es steht dir gut! Passt irgendwie zu dir... Oh..." Gabrielle kichert "Ich weiß was, ich mach dir jetzt noch eine griechische Frisur! Warte hier, das geht ganz schnell..."

Julie lässt sich auf dem Stuhl nieder und sieht Gabrielle nach. Wenigstens ist sie Erik mit seiner seltsamen Laune nicht mehr über den Weg gelaufen. Sie streicht über das Korsett. Und Lucas... Vielleicht hätte sie einfach die Strapse weglassen sollen. Vielleicht hätte sie ihm dann gefallen. Aber jetzt ist es zu spät... Es ist vorbei. Vielleicht schon viel länger, als sie sich eingestehen will.

"So... Moment... Fertig." Gabrielle zückt einen Spiegel und hält ihn Julie hin.

Deren Mundwinkel zuckt überrascht.

"Das sieht... das ist richtig schön. Ich hätte nicht gedacht, dass man sowas mit meinen Haaren machen kann." Sie dreht sich zu Gabrielle. "Danke."

"Ich hab immer gesagt, dass du schön bist. Komm, steh mal auf und schreite ein bisschen." Gabrielle kichert. "Iulia von Athen."

Julie wirft einen letzten Blick in den Spiegel und schüttelt den Kopf.

"Das ist wirklich... hübsch." Sie steht auf und nimmt eine möglichst gerade Haltung an.

"Wen haben wir denn hier?" Erik betritt das Zimmer und umarmt Gabrielle von hinten "Mein liebes Schwesterlein und... die Tochter der Aphrodite. Hast du Julie frisiert, Gabrielle? Das sieht gut aus." er schließt für einen Moment die Augen "Ich gehe jetzt ein wenig spazieren. Habt noch viel Spaß!" Damit lässt er Gabrielle los und spaziert wieder hinaus.

Julie hält die Luft an und starrt auf die Tür, durch die er verschwunden ist. Dann setzt sie sich langsam wieder auf den Stuhl. Scheiße... Sie presst eine Hand auf ihren Bauch. Sie muss damit aufhören! Sie muss ein einziges Mal das tun, was ihr Kopf ihr sagt. 'Vergiss es!' Aber er hätte mehr als einmal die Gelegenheit gehabt, sie zu nehmen... und er ist jedes Mal gegangen.

"Wal, da fliegt er..." murmelt Gabrielle kopfschüttelnd. Dann mustert sie Julie besorgt "Ist alles in Ordnung?"

"Was?" Sie dreht sich hastig zu Gabrielle "Ja, klar... Er... ist mir nur ein bisschen unheimlich wenn... wenn er so drauf ist." Sie zwingt sich zu einem Lächeln.

"Unheimlich?" Gabrielle lacht leise "Aber high ist er wahnsinnig liebevoll; glaub mir, du willst ihm lieber so als in seinen irren zehn Minuten begegnen."

"Ich weiß nicht..." Julie reibt sich kurz über das Gesicht. "Naja, zeig mir einfach mal, was du für eine Idee für das Kleid hast."

"Gut." Gabrielle legt theatralisch ihren Skizzenblock auf den Tisch "Ich sehe ein Kleid, an den Stil der Belle Epoque angelehnt, hinten eine dezente Tournüre, vorne leicht gerafft mit einem schlichten Unterrock in einem etwas helleren Grün oder Blau. Wenig Schnickschnack, zu dir passen klare, schlichte Linien."

"Hm... Und sowas kannst du nähen?"

"Klar. Gib mir ein paar Tage. Ab morgen stehen wieder Aufträge ins Haus."

"Was Größeres?" Julie steht auf, geht zum Fenster und versucht, draußen etwas zu erkennen. Nichts... keine Spur von Erik.

"Nein, nur Kleinkram. Erik ist bei Kurzfilmmachern sehr beliebt, weil er, wenn er Lust auf einen Auftrag hat, sein Honorar danach festsetzt, wieviel voraussichtlich an dem Film verdient werden wird. Zum Glück ist er so gut, dass er gleichzeitig Großprojektler nach Strich und Faden ausnehmen kann."

Julie nickt ohne den Blick abzuwenden.

"Meinst du... meinst du ich könnte heute Nacht noch mal hier bleiben? Es ist so dunkel da draußen und... ich glaub ich schaff das nicht zurück."

Sie schluchzt. Er hat sie allein gelassen und sie kann sich nicht bewegen. Ihre Handgelenke schmerzen von den Fesseln.

"Erik. Bitte komm zurück. Lass mich nicht allein im Dunkeln."

"Lass mich nicht allein im Dunkeln!" äfft es sie von vor der Tür nach. Der Schlüssel dreht sich im Schloss, dann fällt ein breiter werdender Lichtstreifen ins Zimmer, in den bald Eriks Schatten bricht. "Christine, ich bin heute wirklich nicht in der Laune, auf deine kindischen Ängste Rücksicht zu nehmen."

"Die Fesseln tun mir weh, Erik." Sie schnieft "Wenn du mich wieder losmachst, verspreche ich dir, mir nichts anzutun."

"So?" er lehnt sich an die Wand neben der Tür und mustert sie scharf "Was von deinen Versprechen zu halten ist, meine Liebe, weiß mittlerweile die gesamte Oper."

"Sie werden schon nach dir suchen. Der Kronleuchter... Oh Gott... Bitte, Erik, wenn du mich wieder gehen lässt..." Sie bricht ab,presst die Lippen fest aufeinander und sieht ihn flehend an.

"Was? Was ist dann? Heiratest du dann deinen Vicomte de Chagny? Du musst verstehen, Christine..." er hebt eine Hand an seine Maske "... dass mich diese Perspektive nicht wirklich motiviert."

"iRaoul/i..." Siekeucht und klammert sich ängstlich an den Gedanken, dass er sich bestimmt schon längst auf die Suche nach ihr gemacht hat. Und vielleicht wird er einen Weg finden, sie zu befreien. "Was hast du mit mir vor, Erik?" fragt sie, um Fassung bemüht "Du kannst mich doch nicht für immer hier festbinden."

"Ja..." er nickt langsam "Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen." er stößt sich von der Wand ab und geht zu ihr hinüber "Glücklicherweise ist iRaoul/i ein hilfsbereiter junger Edelmann, der schon an einer Lösung für meine Misere arbeitet. Komm mit, ich zeige es dir..." Er packt den Stuhl, an der er Christine gebunden hat, mit einer Hand und zieht ihn wie ein Gepäckstück hinter sich her durch den Flur zum Wohnzimmer.

Christine schluchztauf und zerrt an ihren Fesseln - sinnlos... Plötzlich lässt Erik den Stuhl wieder los... vor einem riesigen, dunklen Vorhang. Christine runzelt die Stirn.

"Was... was ist das, Erik?"

"Der Dienstboteneingang." er lässt sich auf einer Chaiselongue in der Nähe nieder und faltet seine Hände über seinem Bauch. "Und nun funktionieren wir mein schlicht doch geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer zur Wartehalle um, bis sich der Retter in der Not dazu herablässt, an der Tür zu klingeln."

"Was meinst du damit?" Sie starrt aufden Vorhang. "Was ist dahinter?"

"Das, meine Liebe..." entgegnet er mit einem Lächeln "... wirst du noch früh genug erfahren."

"Erik, bitte, hör auf damit! Du machst mir Angst! Ich... ich tu doch alles, was du willst! Ich werde..." Sie zuckt zusammen, als plötzlichvon irgendwoher ein ohrenbetäubendes Klingeln ertönt. "Erik, was hast du vor?" schreit sie ihn an.

"Christine..." kopfschüttelnd erhebt er sich und legt einen Schalter am Kaminsims um "Schreien ist nicht gut für deine Stimme." Mit einer theatralischen Geste zieht er den Vorhang auf. Im selben Moment erstrahlt der Raum dahinter in gleißendem Licht. "Auftritt 'Der Held'."

Christine presst die Lippen aufeinander, um nicht laut aufzuschluchzen. In dem mit einer Glasscheibe abgetrennten Raum steht Raoul. Mit beiden Händen trommelt er gegen das Glas und brüllt, doch sie kann ihn nicht hören.

"Raoul!" siekeucht "Erik, bitte. Bitte, bitte, lass ihn gehen! Ich verspreche dir, ich werde alles tun, was du verlangst. Alles! Aber lass Raoul gehen!"

Mit einem missmutigen Grunzen lehnt sich Erik gegen die Scheibe.

"Ich könnte dich mit Raouls Leben kaufen?" er lacht bitter "Ich hätte nicht gedacht, dass du so billig zu haben bist."

"Ich flehe dich an! Tu ihm nichts! Binde mich einfach los und lass Raoul gehen. Ich werde bei dir bleiben und für dich singen, oder... oder was immer du von mir willst." Sie wirft Raoul einen angstvollen Blick zu und sieht, wie er mit gequältem Gesichtsausdruck am Kragen seines Hemdes zerrt. Wie sehr liebt sie ihn doch. Sie würde ihr Leben für ihn geben.

"Erbärmlich. Was ist nur aus dir geworden, stolze Königin der Nacht?" er verlässt seinen Platz an der Glaswand und beugt sich zu Raoul hinab, der - mittlerweile schweißnass - am Boden der Folterkammer kniet. "Und dieser jugendliche Held..." Mit einem Ruck wendet er sich ab und dreht Christine mitsamt Stuhl herum, so dass sie die Kammer nicht mehr sehen kann. "Du weißt, was ich von dir will, Christine... Und du weißt auch, dass du nicht zu betteln brauchst."

Sie schließt die Augen, um nicht in Eriks abscheuliches Gesicht sehen zu müssen.

"Ich kann nicht." flüstert sie.

Gereizt beugt er sich vor.

"Kannst du nicht oder willst du nicht? Christine? Du iweißt/i, dass du zu mir gehörst!" Er lässt sich vor ihr auf die Knie sinken und legt seine Hände auf ihre kleinen, in ihrem Schoß gefesselten Fäuste "Ich liebe dich, Christine. Ich liebe dich, seit deine Stimme das erste Mal zu mir gesprochen hat! Und meine Stimme hat zu dir gesprochen. Erinnere dich, Christine! ... Das war, bevor du mir meine Maske abgerissen hast..."

Sie verzieht das Gesicht und beißt sich auf die Lippen bis sie Blut schmeckt. Wenn sie nichts tut, wird Raoul sterben. Tränen pochen hinter ihren Augen.

"Erik, binde mich los." sagt sie so zärtlich sie kann "Ich schwöre dir, wenn du Raoul freilässt und mich losbindest, wirst du alles von mir bekommen. Ich werde deine Frau sein und ich werde nie wieder vor deiner Berührung zurückschrecken."

"Ich will kein Versprechen, keine leeren Worte!" Er springt auf und ringt hilflos die Hände "Warum, Christine? Warum... willst du mich nicht?"

"Binde mich los, Erik. Wenn ich deine Stimme lieben kann, dann werde ich auch lernen können, dich zu lieben." Sie schluchzt. "Bitte, Erik. Die Fesseln tun mir so weh!"

"Fesseln, ja, ich kenne das Gefühl." knurrt er kalt "Du bist zu wehleidig." Er wirft einen kurzen Blick durch die Glasscheibe hinter Christine und sein Blick hellt sich auf. Mit einer flotten Bewegung dreht er ihren Stuhl zurück zur Folterkammer "Sieh dir das an. Er ist wirklich kurz davor, sich umzubringen, der arme. Schnell, sag etwas, das mich dazu bringt, ihn herauszulassen, bevor er es tut!"

"Ich will bei dirbleiben, Erik, bei dir, für immer!" Raoul wird sterben.

"Technisch gut, aber am Gefühl hapert es." Erik seufzt. "Du musst noch viel üben." mit einer schwungvollen Geste betätigt er einen Schalter, der die Glaswände der Folterkammer beiseite gleiten lässt. Dann löst er vorsichtig Christines Fesseln.

Raoul sinkt keuchend vornüber in die kühle Luft des Wohnzimmers. Seine Hände klammern sich um den Griff seines Revolvers, doch sie zittern zu stark, als dass er auf Erik zielen könnte. Resignierend lässt er seine Waffe sinken.

"Christine... Christine, geht es dir gut?" murmelt er schwach und bemüht sich, sie mit seinem Blick zu fixieren.

Sie antwortet nicht, sieht ihn nur traurig an.

"Ich liebe dich." formen ihre Lippen stumm, bevor sie aufsteht und sich zu Erik dreht. Er hat Raoul frei gelassen und ihre Fesseln gelöst. Nun muss sie tun, was sie ihm versprochen hat.

Ihre Beine zittern vor Angst, als sie auf ihn zugeht. Haltsuchend klammern sichihre Hände an seine Schultern und ziehen ihn zu ihr.

"Ich danke dir." flüstert sie. Dann schließt sie die Augen, um ihn nicht ansehen zu müssen. Tränen strömen über ihr Gesicht, als sich ihre Lippen über seinen grotesk verformten schließen.

'Für Raoul...' denkt sie krampfhaft 'Um Raouls Leben zu retten...'

Erik keucht leise und zieht sie fester an sich.

"Christine..." flüstert er gegen ihren Mund und auch seine Augen füllen sich mit Tränen "Ich liebe dich, Christine..."

Sie antwortet nicht. Doch als er sie wieder loslässt, öffnet sie langsam die Augen und bleibt an Eriks Seite. Jetzt imuss/i er Raoul gehen lassen... Zögerlich hebt sie die Hand und streicht eine Träne von seiner eingefallenen Wange.

"Du wirst ihn stützen müssen auf dem Weg zum Boot." flüstert Erik heiser. "Und du wirst rudern müssen. Dein Verlobter kann nicht einmal mehr seine Waffe halten."

"Was... was sagst du?" verständnislos starrt sie ihn an. Rudern?

Erik atmet tief durch, dann wendet er sich ab.

"Ich lasse dich gehen, Christine. Wenn du Raoul mitnehmen willst, musst du ihn selber zum Boot schaffen." Er betätigt den Mechanismus, der die Tür des unterirdischen Hauses aufgleiten lässt, und deutet mit der Hand zum See hinaus. "Geh, Christine. iGeh weg/i!"

"Du lässt mich... ifrei/i?"

"Ja, verdammt!" brüllt er unter Tränen "Nun verschwinde schon! Verschwinde, bevor ich es mir anders überlege!"

Hastig wendet sich Christine ab und läuft zu Raoul. Es dauert einige Zeit, bis es ihr gelingt seinen Arm um ihre Schulter zu legen, ihn mit sich zu ziehen. Siedreht sich nicht mehr um, als sie durch die Tür in nach draußen gelangen. Sie sind frei. Erst, als sie die Ruder aufgenommen und ein paar mühsame Schläge gemacht hat, nimmt sie den Blick von Raoul und schaut auf die dürre schwarze Gestalt, die ans Ufer getreten ist und ihr mit bebenden Schultern nachschaut.

Als das Boot endgültig in den Weiten der Katakomben verschwunden ist, geht Erik stumm zum Schaltkasten und reißt sämtliche Kabel heraus. In der nachfolgenden absoluten Dunkelheit lässt er sich auf den kalten Steinboden sinken, um nicht wieder aufzustehen.

Dunkelheit... Julie fröstelt und dreht sich um.

"Es ist so schrecklich da draußen. Ich bin noch nicht soweit."

Gabrielle verzieht mitleidig das Gesicht und geht zu ihr hinüber, um ihr den Arm um die Schulter zu legen.

"Du solltest ihn bitten, dich wieder draußen zu massieren. Das hat dir doch geholfen, oder?"

Als Julie aufwacht, ist sie wieder allein. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr beschließt sie, sich anzuziehen und nach Gabrielle zu suchen. Sie findet sie auf Eriks Schoß, auf der Terrasse.

"Guten Morgen." Sie verbirgt ein Gähnen hinter der Hand und zieht sich einen Stuhl zurecht.

Gabrielle blinzelt kurz in die Sonne.

"Guten Morgen, Julie. Setz dich, iss was... ich bin gleich wieder weg, die Arbeit ruft."

"So früh?" Julie schüttelt sich und greift nach dem Honigglas "Das ist Körperverletzung." "Dafür hab ich abends früher Schluss." Gabrielle steht auf und reckt sich "Bis nachher."

"Ja, bis nachher." Julie öffelt etwas Honig auf ihr Brot. Dann wirft sie Erik einen kurzen, unsicheren Blick zu.

Der starrt einen Moment lang weiter in den Himmel, ehe er Julie den Kopf zuwendet.

"Guten Morgen."

Mit einem gezwungenen Lächeln konzentriert siesich wieder auf ihr Honigbrot.

"Wie... war dein Spaziergang?"

"Ich habe mir die ganze Nacht lang die Sterne angesehen und dem Wald gelauscht." antwortet er ruhig "Entschuldige, wenn ich dich gestern Abend mit meinem Auftritt schockiert haben sollte..."

Julie winkt ab und legt dann ihr Brot zurück auf den Teller.

"Darf ich dich was fragen?"

"Natürlich."

"Würde es dir etwas ausmachen... " Sie schluckt. "Kannst du wieder abends vorbeikommen und mir helfen?"

Er schließt die Augen.

"Bist du dir sicher, dass... du mir schon wieder vertrauen kannst?"

"Ich will es jedenfalls versuchen." Sie verzieht das Gesicht und spielt mit ihrer Teetasse.

"Dann helfe ich dir gern." antwortet er leise.

Zum ersten Mal seit langem gelingt ihr ein echtes Lächeln.

"Danke."