Kapitel 17
Heute Abend wird er zu ihr kommen... Er wird wieder draußen auf sie warten und sie zu sich locken. Zehn Schritte... Sie stellt den Staubsauger zurück in den Schrank und streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
Ihr Kopf sagt ihr, dass es falsch ist, ihn wieder zu sich zu bitten, wieder seine Nähe zu suchen. Aber ihr Bauch... Sie beißt sich auf die Lippen. Für ihren Bauch hat sich überhaupt nichts geändert. Sie fühlt sich noch immer zu ihm hingezogen.
UndGabrielle sagt, dass er sie auch mag. Mehr als diese Starlets, die sonst hierher kommen... Die er verführt hat, währender sich ihr,Julie, nie in irgendeiner unangenehmen Weise genähert hat.
Sie wirft einen flüchtigen Blick in den Spiegel.
"Du bist verrückt!" sagt sie laut.
Ruhig nimmt er das Katana von der Wand, hängt sich seinen Umhang um und greift nach der Sturmlaterne. Vielleicht muss er nur lernen, mit dem Schmerz zu leben. Er kann Julie nicht haben, niemals, und er hat bei dem Versuch, sie wieder auf Abstand zu bringen, zuviel investiert, als dass er sich die Hoffnung erlauben dürfte, dass ihre Beziehung jemals mehr als eine lose Freundschaft oder ein Verhältnis oberflächlicher Begehrlichkeiten sein könnte.
Dabei ist Julie die erste Frau, die er wirklich und wahrhaftig liebt, die er nicht einfach nur begehrt, sondern... ja, was? Er will sie bei sich wissen, sie halten, beschützen, sie ganz kennen. Sie lieben... Ihre Stimme anbeten...
"Du bist verrückt." sagt er leise zu sich selbst. Dann dreht er sich um und verlässt sein Zimmer.
Als es endlich an der Tür klopft, legt Julie hastig ihr Buch zur Seite. Ein prüfender Blick. Die ganze Wohnung blitzt und blinkt. Sie hat sich auf nichts konzentrieren können, bis es endlich dunkel geworden ist, und so hat sie den ganzen Nachmittag damit zugebracht, die Wohnung zu putzen und aufzuräumen.
Sie dreht den Schlüssel im Schloss und öffnet die Tür.
"Guten Abend, Erik."
"Guten Abend, Julie. Ich... hoffe, du hast deine Meinung nicht geändert."
"Nein, natürlich nicht." Sie wirft einen Blick auf die Sturmlaterne in seiner Hand. "Wieder deine alte Tranfunzel?"
"Wieder meine alte Tranfunzel. Ich sehe keinen Stuhl in deinem Flur."
Julie schüttelt den Kopf.
"Es geht ohne, glaub ich. Wollen wir?"
"Zehn Schritte?"
"Wie immer." Sie lächelt unsicher und beobachtet, wie er sich von ihr entfernt. Ängstlich beißt sie sich auf die Lippe und schiebt einen Fuß nach vorne. Sie keucht.
Zögernd hebt Erik seine behandschuhte Hand und streckt sie ihr entgegen.
"Komm zu mir, Julie." befielt er leise und heiser "Noch neun Schritte..."
"Geh... geh nicht weg!" Sie kneift die Augen zusammen und macht einen weiteren Schritt. "Versprich mir, dass du da stehen bleibst und auf mich wartest!"
"Ich werde die ganze Nacht hier auf dich warten, wenn es sein muss." seine Stimme zittert leicht "Nur noch acht Schritte..."
Julie streckt ihre Hand aus, doch sie ist noch viel zu weit von ihm entfernt, um ihn zu berühren. Noch einen Schritt, noch einen. Sie stöhnt und ballt die linke Hand zur Faust. Nur noch sechs Schritte. Schließlich berühren ihre Fingerspitzen dieseinen. Sie greift seine Hand, zieht sich an ihn und bleibt einen Moment zitternd an ihn gedrückt stehen.
"Du bist sehr tapfer, Julie. Ich habe gewusst, dass du es schaffen würdest." flüstert er gegen ihr Haar. Dann reicht er ihr die Laterne und breitet seinen Umhang auf der Wiese aus. "Leg dich hin. Auf den Bauch."
Gehorsam tut sie, was er gesagt hat. Sie lässt den Kopf auf seinen Umhang sinken. Ein schwacher Duft geht davon aus. Erik... Sie schließt die Augen und versucht, an etwas anderes zu denken.
Erik atmet tief durch, ehe er ihren Rücken berührt. Langsam verlagert sein Gewicht auf seine Hände. Dann beginnt er zu summen, während sich seine Zähne in seine Unterlippe graben.
Julie verzieht das Gesicht. Er klingt heute anders als sonst, wenn er für sie singt.
"Ist alles in Ordnung?"
"Nein." antwortet er leise "Aber das macht nichts. Entspann dich, Julie."
"Wenn du nicht magst..." Ihr Mundwinkel zuckt traurig "Wir könnten auch aufhören."
"Nein!... Nein, ich bin froh, dass... du wieder an deiner Angst arbeiten willst. Mach dir keine Gedanken."
"Ich kann mich nicht immer darauf verlassen, dass mich jemand begleitet. Und wenn ich wieder in Québec bin..." sie stockt und richtet den Blick auf die Flamme der Sturmlaterne "Lucas wird dann wohl wichtigeres zu tun haben, als sich um meine Angst zu kümmern..."
"Sprich jetzt nicht mehr. Hör auf den Wald und meine Stimme."
Julie legt ihren Kopf wieder auf den Umhang, schließt die Augen und schweigt.
Nach einer langen Weile lässt Erik seine Hände sinken und verstummt. Nachdenklich betrachtet er Julies Gesicht, doch als sie die Augen öffnet, hat er seinen Blick schon wieder abgewendet.
"Willst du Schluss machen für heute?" fragt sie leise und richtet sich auf.
"Ja."
"Aber du bringst mich noch zurück?" Ängstlich steht sieauf und reicht ihm den Umhang.
"Wenn du möchtest." Er schiebt sein Katana zurecht und wirft sich den Umhang über.
Julie nickt mit zusammengepressten Lippen. Zögernd tastet sie nach Eriks Hand und klammert sich daran fest. Nur zehn Schritte bis zum Haus...
'Sie hat nur Angst.' denkt er müde, während er sich halb von ihr vorwärts ziehen lässt 'Angst vor der Angst.' Nur deshalb hat sie ihm gewährt, sie zu berühren. Sie benutzt ihn wieder. Stumm schüttelt er den Kopf.
Als sie das Haus erreichen, tastet Julie nach dem Lichtschalter und tritt dann erleichtert aufatmend in den Flur. Unsicher mustert sie den Blick in Eriks Augen.
"Magst du... magst du noch kurz mit reinkommen?"
"Nein. Heute Abend nicht. Gute Nacht, Julie."
Sie verzieht das Gesicht und nickt.
"Gut. Dann sehen wir uns morgen um neun?"
"So ist es." Damit wendet er sich ab und kehrt ins Hauptgebäude zurück.
Sie schließt die Tür erst, als er in der Dunkelheit verschwunden und seine Laterne nur noch ein schwach leuchtender Punkt ist.
"iScheiße/i!"flucht sie dann und schlägt wütendmit der Faust gegen die Tür. Wenn er sie doch nicht für eines dieser leicht zu habenden Starlets gehalten hat, wird er es spätestens jetzt tun. Sie hätte es bei der Massage belassen sollen. Nichts weiter sagen, ihm einen schönen Abend wünschen und sich ins Bett legen...
Und wieder hat er eine Gelegenheit, sich ihr zu nähern, nicht genutzt. Vielleicht hat Gabrielle bei seinen Bettgeschichtenübertrieben... Vielleicht waren es irgendwann mal ein oder zwei Frauen, die er... Sie schüttelt den Kopf.Er ist einfach gegangen...
Blicklos starrt er auf das dunkel gemusterte Tuch an der Decke über seinem Futon. Neben ihm, zusammengerollt wie ein Embryo, liegt Gabrielle und zuckt im Schlaf leicht mit den Fingern.
Chaos. Schieres Chaos.
Er legt seine Hände über die Augen. Sie hat ihn in ihr Haus eingeladen. Wie lange wird es dauern, bis sie sich wieder auf ihrem Sofa an ihn heranmacht? Hat er sich in ihr getäuscht und sie will sich doch hoch schlafen? Und wie verzweifelt muss sie ihren Freund... iEx/i-Freund vermissen, um sich an ihm, Erik, dem Mörder, schadlos zu halten? Oder überinterpretiert er alles, was sie tut, und sie will nicht mehr als Freundschaft und ein gutes Arbeitsklima?
Er seufzt und schüttelt den Kopf. Einmal, ein einziges Mal verliebt er sich tatsächlich, und dann muss diese Frau ein undurchschaubares Rätsel sein.
Langsam steigt Gabrielle aus der Badewanne und betrachtet kurz die etwas aufgeweichte Naht an ihrem rechten Handgelenk. Dann trocknet sie sich ab und stellt sich, nackt wie sie ist, vor den Spiegel. Blass und mager sieht sie aus. Ihre Hände streichen über kleine Brüste und einen Bauch, der vorsteht, wenn sie sich anstrengt, ihn heraushängen zu lassen. Sie stellt sich aufrecht hin und mustert ihr Gesicht. Das ist hübsch, auf jeden Fall. Ein bisschen ausgemergelt vielleicht, aber hübsch. An ihrem linken Schlüsselbein fängt es dann an. Eine kleine halbrunde Narbe von einem offenen Bruch. Auf ihren Armen die Male von kleinen und großen Verletzungen, die sich entzündet haben, in ihrer Leistenbeuge die Spuren einer lang vergangenen Blinddarmoperation. An ihrem rechten Bein sind die wächsern wirkenden Narben einer großflächigen Verbrennung zu sehen, und auf ihrem Hinterkopf und ihrem Rücken die Spuren einer Verätzung. Sie war so ungeschickt als Kind, so anfällig. Und Roseanne hat immer bis drei gezählt, ehe es weh tat... Eins... zwei...
Als Erik das Bad betritt, löst sie den Blick von ihrem Körper und lächelt schief.
"Findest du, dass ich hässlich bin?" fragt sie leise.
"Nein. Komm von dem Spiegel weg, dann schmier ich dir den Rücken ein."
Gehorsam geht sie zu ihm.
"Sieh mich doch an. Überall hab ich Narben und Flecken und ich bin viel zu dünn und meine Brüste sind zu klein. Und meine Arme sehen aus, als wäre ich ein Junkie."
"Du bist schön, Gabrielle."
Sie lacht leise.
"Wenn du das sagst, klingt es so überzeugend. Du trickst mit deiner Stimme rum, gibs zu!"
"Du weißt, dass das nichts mit meiner Stimme zu tun hat." er quetscht sich etwas Creme auf die Hand und beginnt, sie vorsichtig in die Verätzung zu massieren. "Du denkst mal wieder über ein rückenfreies Oberteil nach, hab ich recht?"
"Letztens hatte ich ein T-Shirt an... Julie trägt immer so Dinger mit Spaghettiträgern. Ich will das auch können."
"Du musst es nur tun. Zumindest auf dem Grundstück wird dich niemand schief ansehen."
Gabrielle verzieht den Mund.
"Aber wenn Kunden da sind, muss ich langärmelig gehen."
Erik verdreht die Augen und seufzt.
"Ich habe dir nie verboten, T-Shirts oder sonst etwas in der Art zu tragen, wenn du mit Kunden zu tun hast. Wenn sie davon abgeschreckt werden, schön, für solche Leute will ich ohnehin nicht arbeiten." Trotzig wischt er seine Hände an einem Handtuch ab und gibt Gabrielle einen Kuss auf den Nacken. "Du bist schön, und dabei bleibt es."
Mit einem Lächeln dreht sie sich zu ihm, um ihn zu umarmen.
"Wenn du das sagst..."
Noch zehn Schritte zurück. Sie klammert sich an ihn und drückt seine Hand etwas fester. Er scheint es überhaupt nicht wahrzunehme, bleibt genauso abwesend, wie bei ihrer Massage. Ärgerlich kräuselt sie die Nase.
"Also, was ist los?"
"Nichts."
"Du gehst mir aus dem Weg. Schon seit ... " Sie knurrt "Ich habe dich doch gefragt, ob du mir helfen willst. Du hättest bloß nein sagen müssen, wenn es dir etwas ausmacht."
"Es macht mir nichts aus." er zieht seine Hand zurück, um Julie in den Flur eintreten zu lassen.
"Da habe ich aber einen ganz anderen Eindruck." brummt sie und mustert ihn ernst "Was habe ich dir getan?"
Erik runzelt die Stirn.
"Was du...? Julie, ich brauch auch meine Zeit, um..." er bricht ab.
"Um was?" entfährt es ihr "Ich habe dir nichts getan, Erik. Ich habe fast eine Woche gebraucht, um wieder Unterricht bei dir zu nehmen, ich frage dich immer wieder, ob du wirklich kein Problem mit mir hast. Ich habe sogar eine Zeit lang darauf verzichtet, Gabrielle zu besuchen, damit wir uns nicht begegnen. Was habe ich denn falsch gemacht?" Sie starrt ihn an und beißt sich auf die Lippe "Du... du denkst ich bin eins von diesen... karrieregeilen Flittchen..." murmelt sie schließlich und senkt den Blick.
Gereizt schaut Erik in ihr Gesicht.
"Nein, ich denke nicht, dass du dich von mir in die Berühmtheit ificken/i lassen willst."
"Denkst du nicht? Aber dass ich Ersatz für Lucas brauche und dass du mir grade recht kommst?" Wütend ballt sie die Hand zur Faust.
"Was soll ich sonst denken?"
"Danke... genau das hab ich hören wollen! Du hältst mich wirklich für so eine." Sie schluckt "Ich hab in meinem ganzen Leben wahrscheinlich nicht so viel mit dem einzigen Mann, mit dem ich je zusammen war, gevögelt wie du mit deinen... was auch immer." Sie stöhnt und stützt sich am Türrahmen ab. "Und auf den Gedanken, dass ich dich wirklich mag, bist du nicht gekommen?"
"Wa..." er bricht ab und hält in seinem gereizten Herumlaufen inne "Hat mich Gabrielle zum Weiberfresser hochstilisiert, ja?" Einen Moment lang würgt er an Julies letztem Satz herum, dann schleudert er mit voller Wucht die Sturmlaterne zu Boden "Und iob/i ich auf die Idee gekommen bin, dass du mich magst! Ich habe mich auch darüber gefreut, bis zu dem Moment, als..." wieder bricht er ab und starrt nur auf den Flecken brennenden Grases, der das Ergebnis seines Ausbruches ist.
"Als was?" Sie folgt seinem Blick und kämpft mit den Tränen. "Ich hab wirklich gedacht, dass wir... Willst du denn, dass ich jetzt Angst vor dir habe und gehe?"
"Ja!... Nein!... Ich... " er presst seine Handballen gegen die Stirn seiner Maske "Ich weiß es nicht, Julie! Ich weiß gar nichts mehr!"
Sie schüttelt den Kopf.
"Dann versuch doch wenigstens... Erik, ich..." Sie schließt die Augen. "Egal was du von mir denkst, ich mag dich wirklichsehr... Vielleicht vertraust du mir ja irgendwann."
"Nein! Nein, Julie, das... Geh jetzt ins Haus, du hast morgen frei. Gute Nacht." Damit wendet er sich ab und hastet zum Haupthaus zurück.
"Achleck mich doch!" schluchzt sie und knallt die Tür zu. Sie hats verbockt. Nach den Aufnahmen wird er sie nicht weiter unterrichten. Sie wird abreisen, zurück nach Québec fahren und wahrscheinlich nie wieder etwas von Gabrielle oder Erik hören. Und sie hat so gehofft, dass da vielleicht doch irgendeine winzig kleine Sympathie für sie wäre.
Verzweifelt vergräbt ihr Gesicht in den Kissen und schreit auf.
"Scheiße! iVerdammte Scheiße/i!" Wutschäumend drischt er mit seinem Katana auf den Baumstamm ein, als Gabrielle das Zimmer erreicht und ihn blass vor Schreck anstarrt.
"Was... was ist passiert?"
"Ich habe verdammtnochmal keine Ahnung, was passiert ist!"
"Du hast dich nochmal mit Julie gezankt?"
"Was sonst?"
Gabrielle nickt ruhig und wendet sich ab.
"Ich rede mit ihr."
"Nein, das tust du nicht!" er schmeißt das Katana von sich und folgt Gabrielle, um sie am Oberarm zurückzureißen "Du wirst ihr nicht noch mehr Bettgeschichten von mir erzählen!"
Erschrocken duckt sie sich.
"Das ist mir rausgerutscht! Es tut mir leid, Erik, wirklich, es tut mir leid!"
"Du bist so eine verdammt blöde Kuh, Gabrielle!" er schubst sie von sich, so dass sie mit Wucht gegen die Flurwand prallt.
"Mann, hau den Baumstamm, dem tuts nicht weh!" flucht sie und reibt ihren Arm.
Mit einem entnervten Stöhnen lehnt sich Erik ihr gegenüber neben die Tür und vergräbt seinen Kopf in den Händen
Gabrielle presst die Lippen aufeinander, dann geht sie zu ihm.
"Was ist los, Erik?" sie streicht über seinen Arm "Was passiert hier? Warum zankst du dich so mit Julie, dass sie nicht zum Unterricht kommt und dass du so traurig wirst, dass du dir das Methadon spritzt?"
"Ich habe keine Ahnung, was passiert, ich kann nicht mehr klar denken, ich... Scheiße." murmelt er tonlos und lässt seinen Kopf gegen Gabrielles Schulter sinken. "Ich verstehe Julie nicht, ich verstehe mich nicht, ich... habe keine Ahnung, was..." er seufzt. "Schlag mich bitte tot, Gabrielle."
"Du bist ja so doof." sie nimmt ihn in den Arm und zerrt ihn dann in Richtung Futon. "Lass mich mit Julie reden. Bitte. Sie ist meine Freundin, ich..."
"Ach mach doch, was du willst." mit einem Stöhnen lässt er sich auf den Futon fallen, legt seine Maske ab und reibt sich die Augen. "Ich hasse es. Was immer es ist."
Gabrielle öffnet die Augen, als sich Erik am nächsten Morgen neben ihr aufrichtet und gähnt. Sie bewegt sich nicht und atmet ruhig weiter. Die halbe Nacht lang hat sie ihn zum Reden gezwungen. Eine Freundschaft, das hat sich schließlich herauskristallisiert. Es ist wegen einer Freundschaft und dem Vertrauen und der Offenheit, die sie verlangt.
Sie spürt seine Hand, die im Dunkeln nach ihr tastet und kurz ihren Knöchel streichelt. Dann steht Erik auf, kramt blind seine Kleider aus dem Schrank und verlässt das Zimmer.
Alles passiert nur, um einer einzigen Frage auszuweichen.
'Was ist hinter deiner Maske?'
Die Wiese zwischen Haupt- und Gästehaus ist noch etwas feucht vom Tau, als er hinübergeht. Vor Julies Tür liegt noch die Sturmlaterne in einem Flecken aus verkohltem Gras. Erik schließt die Augen und presst die Lippen zusammen.
Wenn er es nicht versucht, wird es nie klappen. Das war alles, was Gabrielle nach seinem endlosen Gestammel von Lügen und Halbwahrheiten noch zu sagen hatte.
Er senkt den Blick. Dann klopft er an.
Julie reibt sich die Augen. Kurz nach acht! Sie hat kaum geschlafen und fühlt sich, als hätte sie ein Bus überrollt. Ihr Kopf dröhnt. Langsam tapst sie die Treppe nach unten.
'Nur Gabrielle.' denkt sie. Die einzige, die sie vermissen wird, wenn sie nicht zur Stunde erscheint. Als sie den Schlüssel umgedreht und die Tür geöffnet hat, ist sie umso erschrockener, Erik zu sehen.
"Was willst du?"
Automatisch kreuzt er die Arme vor der Brust.
"Ich... ich habe eine Scheißangst, Julie." sagt er dann leise.
Sie runzelt die Stirn und öffnet die Tür ein Stück weiter.
"Komm rein, ich frier."
Zögernd folgt er ihr, lehnt sich im Wohnzimmer an die Wand und klammert sich weiter an sich selber fest. Den Blick hält er gesenkt, um nicht Julies zu begegnen.
Dei beobachtet ihn angestrengt und stützt sich mit den Fäusten auf die Lehne eines Sessels.
"Wovor hast du Angst?" fragt sie dann tonlos.
Er stößt leise die Luft aus.
"Vor dir."
"Vor mir? Warum?"
"Weil..." er schüttelt den Kopf "Weil ich dich sehr... sehr gern habe. Ich weiß, wie schwachsinnig das klingt."
Sie setzt sich aufs Sofa, zieht die Knie bis unters Kinn und atmet tief durch.
"Warum sollte das schwachsinnig klingen?"
"Weil es schwachsinnig ist."
Sie legt den Kopf auf ihr Knie und sieht ihn an.
"Und was ist so schrecklich daran,dass du mich gern hast?"
"Ich habe Angst davor, dass es... eines Tages mehr sein könnte, als nur 'gern haben'. Nicht... nicht nur von meiner Seite aus."
"Und das wäre schlimm?" Sie schließt die Augen.
"Katastrophal."
"Warum? Bist... bist du krank oder sowas?"
"Nein." Seine Stimme versagt einen Moment, dann presst er hervor: "Ich trage nur meine Maske nicht zum Spaß."
Die Maske...Julie zuckt mit den Schultern.
"Vielleicht solltest du dir nicht so viele Gedanken über solche Dinge machen. Lass es doch einfach auf dich zukommen... Ich weiß doch selbst nicht, was mit mir los ist oder mit dir... oder mit... uns..."
"Es wird wieder kaputtgehen und wir werden beide leiden." murmelt er heiser.
Julie schüttelt den Kopf und sieht ihn eine ganze Zeit lang schweigend an. Dann seufzt sie.
"Nur, wenn du es dir einredest und schon vorher den Teufel an die Wand malst. Und siehst du, selbst wenn man Ewigkeiten zusammen ist, heißt das noch lange nicht, dass so eine Beziehung hält." Sieben Jahre Lucas... Und sie hat sie einfach so weggeworfen, ohne wirklich darum zu kämpfen.
"Glaubst du wirklich, ich hätte es in meinem Leben noch nie versucht?" In seiner Stimme klingt eine Spur Wut mit, die ihn seine Finger in seine Arme krallen lässt.
"Ich weiß es nicht... Vielleicht schon. Aber ich finde es unfair, egal wem gegenüber, wenn du gleich davon ausgehst, dass dich alle Frauen gleich behandeln."
"Nicht Frauen, Julie, Menschen."
"Egal wer. Es ist... engstirnig." Sie richtet sich auf und legt den Kopf schief. "Nicht jeder will dich verletzen, wenn er dich mag."
"Engstirnig? Julie, mein ganzes verdammtes Leben lang, haben..." er bricht ab und beginnt, unruhig vor dem Wohnzimmertisch auf und ab zu laufen "Mein Gesicht in keine Kleinigkeit! Und kannst du dir vorstellen, dass es mir sehr schwer fällt, in irgendeiner Form auf irgendetwas zu vertrauen? Ich... ich habe das nie lernen können. Und ich will auch keinen Schmerz mehr aushalten müssen!"
"Natürlich kann ich mir das vorstellen! Aber..." Sie presst die Hand gegen ihre Stirn und schluckt ein paar Mal "Ich will doch nichts böses. Ich will dir nicht wehtun. Wenn du nur zulassen würdest, dass..." Sie lässt den Kopf wieder auf ihr Knie sinken. "Erik, ich mag dich wirklich sehr. Ich würde dir so gern zeigen, dass du mir vertrauen kannst... obwohl ich dachte, dass hätte ich schon längst."
"Würdest du heute Nacht mit mir in den Wald gehen? Mit einer kleinen Kerze in der Hand?"
"In den Wald? Heute iNacht/i?" keucht sie erschrocken und sieht ihn an.
Erik nickt leicht und wendet sich zum Gehen.
"Wir sehen uns morgen beim Unterricht."
"Wenn ich es tue... glaubst du mir dann?"
"Nein. Aber du würdest dann vielleicht verstehen, was idu/i von imir/i verlangst."
"Wann kommst du vorbei?" presst sie hervor.
Er dreht sich zu ihr zurück und sieht sie unsicher an.
"Julie, ich würde nie von dir verlangen, das zu tun."
"Ich werde es trotzdem machen." Vielleicht kann sie ihn wirklich nur so davon überzeugen, dass sie ihn nie mutwillig verletzen wird. Vielleicht muss sie den ersten Schritt machen...
"Das ist verrückt!"
"Ich weiß. Wann kommst du mit deiner Kerze?"
Er will noch einmal protestieren, aber dann gibt er auf und zuckt mit den Schultern.
"Ruf mich an, wenn du nach Sonnenuntergang immer noch so mutig bist."
Julie nickt.
'Du wirst dich noch wundern.'
Ängstlich kuschelt sie sich in die Kissen des Sofas und starrt die Decke an. Auf was hat sie sich da nur eingelassen? Sie hätte den Mund halten sollen. Oder zumindest nicht noch einmal anrufen, um ihm zu versichern, dass sie es wirklich will. Die Sturmlaterne wird er wohl nicht mehr mitbringen, aber vielleicht tauscht er wenigstens die Kerze gegen eine Fackel aus.
Sie schiebt beiden Hände in die Ärmel ihres Pullovers. Sie friert immer noch. Erik hat gesagt, dass er sie mag, ihr aber nicht vertrauen kann, und das, obwohl sie nichts böses getan hat. Aber nach diesem Abend muss er einfach einsehen, dass sie es ernst meint. Sie lässt den Kopf zurückfallen und schließt die Augen.
Draußen wird es langsam dunkel. Dunkel und windig. Noch mehr unheimliche Geräusche.
'Scheiße. Verdammte Scheiße!'
Er hebt das Teelicht aus dem Wasserglas und zündet es an. Dann tastet er noch einmal nach dem Beutel über seiner Schulter. Darin befindet sich alles, was er bräuchte, um Julie bei einer Panikattacke helfen zu können.
Er schaut in den Himmel hinauf. Hoffentlich beginnt es zu regnen, dann hat sie einen guten Vorwand, nicht mitzugehen oder früh zurückzukommen.
Angespannt wartet Juliehinter dem Fenster, während Erik langsam näher kommt. Eine große dunkle Gestalt mit einem Teelicht.
"Scheiße!" Sie schließt die Augen. Warum keine große Kerze, warum ein Teelicht? Da kann sie auchgleich ganzim Dunkeln rausgehen.
Als es klopft, greift sie nach ihrem Mantel und öffnet die Tür.
"Hey." macht sie mit bebender Stimme.
"Guten Abend, Julie." er reicht ihr das Teelicht. "Wir können jederzeit wieder umkehren."
"Ich weiß." Sie betrachtet das winzige Flämmchen. Am liebsten würde sie gar nicht losgehen. Mit einem kräftigen Ruck schließt sie die Tür in ihrem Rücken. "Also dann."
Erik geht zwei Schritte voraus. Dann dreht er sich nach Julie um und wartet.
"Ich weiß nicht... kannst du erstmal meine Hand..." Sie bricht ab. Zwei winzige Schritte. Sie atmet tief durch, um die Übelkeit, die sich langsam in ihr ausbreitet, zu verdrängen.
"Komm." er streckt ihr seine Hand entgegen. "Sollen wir zum Fluss hinuntergehen oder auf den Hügel?"
"Auf den Hügel." flüstert Julie und tapst mit kurzen schnellen Schritten zu ihm.
"Du hast in deinem Leben noch nicht oft gelitten, nicht wahr?" fragt er leise, während sie sich an seinen Arm klammert.
"Also mir hats gereicht." murmelt sie und lässt sich mitziehen. Ihre Hände sind schweißnass und sie zittert am ganzen Körper.
"Deine Fähigkeit, dich immer wieder selber zu quälen, ist jedenfalls erstaunlich."
"Tatsächlich." sie keucht und wirft einen flüchtigen Blick zurück zum Haus "Ich finde, ich mache mich ganz gut."
"Du stirbst gleich vor Angst." er hält an "Lass uns zurückgehen."
"Nein! Nein, ich will... das jetzt."
"Aber es wird nichts ändern."
"Vielleicht doch."
'Kommt nurdarauf an, was man ändern will.'
"Du lässt dich dieses 'vielleicht' eine Menge kosten..."
Julie versucht, mit den Schultern zu zucken und zu lächeln, aber es gelingt ihr nicht.
"Mir ist schlecht." murmelt sie.
"Das kann ich mir vorstellen."
"Ich will die Sterne sehen. Du hast gesagt, auf dem Hügel sieht man den Sternenhimmel am besten." Sie presst die Lippen wieder zusammen und bemüht sich, ganz ruhig zu atmen, während sich ihre Hand in Eriks Ärmel krallt.
"Es ist bewölkt, Julie."
"Ich will Sterne sehen!" entgegnet sie trotzig, ohne die Augen zu öffnen. "Ich will... warte..." Sie lässt ihn los, macht ein paar Schritte von ihm weg und übergibt sich.
Hastig schlägt Erik seinen Umhang hinter seine Schultern, streicht Julies Haare zurück und hält ihr den Kopf.
"Es geht gleich wieder." murmelt sie "Mir ist nur... schlecht"
"Das merke ich." Er streichelt ihr den Rücken. "Ich würde sagen, dieser Spaziergang ist hiermit beendet."
"Aber... aber ich wollte dir doch zeigen, dass ich..." Sie bricht ab und würgt. "Bringst du mich nach Hause? Mir ist kalt."
Er zieht ein Tuch aus dem Beutel über seiner Schulter und reicht es Julie.
"Wenn du fertig bist."
"Hmm." Sie tastet blind nach dem Tuch und reibt sich das Gesicht. "Dabei hab ich überhaupt nichts gegessen." murmelt sie, als sie sich langsam wieder aufrichtet.
Erik schüttelt den Kopf, gibt Julie das Teelicht zurück und nimmt sie auf den Arm.
"Du bist unglaublich."
Julie schweigt eine ganze Weile, klammert sich nur wieder an das Teelicht und schließt die Augen.
"Ich wollte es wirklich schaffen, bis zum Hügel."
"Das glaube ich dir. Aber du hättest wissen müssen, dass es unmöglich ist."
"Warum? Ich... brauch nicht mal mehr den Stuhl unter der Tür..."
"Ich habe auch keinen Stuhl unter meiner Tür. Aber ich weiß, dass ich es trotzdem nicht zu irgendwelchen düsteren Hügeln schaffen werde. Deshalb versuche ich es gar nicht erst. Das Resultat ist, dass ich nicht mitten auf einer ebenfalls düsteren Wiesen brechen muss. Ich hätte auch niemanden, der mich zurück nach Hause trägt." Er öffnet die Tür, schaltet das Licht an und trägt Julie auf die Galerie hinauf. Auf ihrem Bett setzt er sie ab und kniet sich hin, um ihr die Schuhe auszuziehen.
Julie beobachtet ihn, wie er ihre Stiefel nach unten trägt und mit einem Glas Wasser zurückkommt. Vorsichtig stellt sie das Teelicht auf den Nachttisch neben sich und versucht, sich in den Kissen aufzurichten.
"Mir ist immer noch schlecht." knurrt sie ärgerlich "Dabei bin ich jetzt im Hellen."
"Wirst du krank?" er setzt sich neben ihr auf die Bettkante und mustert sie besorgt.
"Nur wenn ich heute noch mal raus muss." sie versucht zu grinsen, verzieht aber gleich wieder das Gesicht "Ich hab es wenigstens versucht. Und beim nächsten Mal schaff ich es bestimmt."
"Eine sehr optimistische Einschätzung." bemerkt Erik ruhig. "Für wen machst du das eigentlich?"
Sie antwortet nicht, sondern versucht noch einmal, sich aufzurichten und zum Nachttisch zu drehen.
"Mir ist kalt." Sie lässt die Hand sinken und sieht ihn an. "Kuckst du mal bitte in der Schublade... da muss irgendwo mein Seidenschal sein."
"Die Heizung springt an, sobald die Außentemperatur unter fünfzehn Grad fällt, aber ich kann sie manuell einschalten, wenn du willst." erklärt Erik, während er den Schal unter Haargummis, einer zerfledderten Kay-Ausgabe, einer Schachtel Anti-Baby-Pillen und seinem Brief herauszieht. "Den Brief solltest du verbrennen. Wenn Gabrielle ihn durch irgendwelche unglücklichen Umstände in die Hände bekommt, wird das ein SuperGAU."
"Deshalb hab ich ihn hier oben eingeschlossen." murmelt sie "Ich hatte nicht erwartet, dass irgendjemand mal an meine Schubladen geht." Sie blinzelt. "Aber ich kann ihn morgen auch verbrennen."
"Das wäre gut." Er streicht sich über die Oberschenkel "Ich werde jetzt gehen, wenn du nichts mehr brauchst."
Sie verzieht das Gesicht.
"Okay. Dann sehen wir uns morgen um neun?"
"So ist es." er erhebt sich "Schlaf gut, Julie."
"Du auch." Sie lächelt. Dann fallen ihre Augen zu.
