Kapitel 20
Fünfzehnter September sechzehn Uhr... Sie kringelt sich Datum und Uhrzeit auf ihrem Zettel ein.
Um sechzehn Uhr ist alles vorbei; sie wird Erik nie wiedersehen und alles wird sein, wie er und Gabrielle es gewohnt sind. Ohne sie, ohne Julie... Sie schließt die Augen, um ihre Tränen zurückzuhalten. Sie will die beiden nicht verletzen, aber wenn sie bleibt, wenn sie versucht, Erik doch wieder näher zu kommen, wird sie es tun.
Als es schließlich klopft, wischt sie sich über das Gesicht und öffnet die Tür.
"Was ist passiert, Julie? Als Gabrielle von dir zurückgekommen ist, war sie völlig apathisch. Ich konnte nichts aus ihr herausbekommen..."
Wortlosdreht sich Julieum und geht ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa kauert sie sich zusammen, ihr Gesicht in den Händen vergraben.
Erik setzt sich neben sie.
"Keine Sorge, sie erholt sich schon wieder." meint er, während er ihr zögernd über den Rücken streicht "Sie war sehr stabil in den letzten paar Tagen. Habt ihr euch gestritten?"
Julie macht sich los und reicht ihm den Zettel mit der Flugnummer.
"Was... Julie, was ist das?"
"Ich fliege morgen Nachmittag nach Québec zurück. Deshalb ist Gabrielle so unglücklich. Aber... es geht nicht anders." Sie wischt sich eine Träne vom Gesicht.
Entsetzt lässt Erik die Hände sinken und starrt sie an.
"Ist etwas passiert? Mit deinem Vater oder Lucas?"
"Ich kann nicht bleiben. Gabrielle... ich will ihr nicht noch mehr weh tun." Sie schluchzt. "Sie kann es nicht ertragen, dass ich dich mag und dass du so viel Zeit mit mir verbringst und sie... hat Angst, dass ich dich verletze, weil ich dich schonmal verletzt habe. Und das will ich doch auch nicht... Ich will dich ihr nicht wegnehmen und ich will sie nicht als Freundin verlieren."
Schockiert ringt Erik nach Worten. Julie will iabreisen/i!
"Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?"
"Was?"
"Gabrielle übertreibt. Das tut sie gern im ersten Moment."
"Aber... aber Erik, es ist bestimmt besser... Sie hat wirklich Angst..."
"Sie übertreibt."
"Nein, es war wirklich schlimm! Und ich fürchte, dass sie jetzt immer so reagiert, wenn wir uns treffen."
"Das wird sie nicht. Du... du hast kein Grund... deinen Unterricht vor der Zeit abzubrechen."
Julie sinkt zurück aufs Sofa und lehnt ihr Gesicht gegen seine Schulter.
"Ich will euch beiden nicht wehtun... Aber eigentlich will ich gar nicht fahren." Sie schluchzt.
"Dann bleib hier, Julie." er wischt ihr eine Träne von der Wange. "Ich habe dich vermisst, heute im Studio."
Eine Weile ringt Julie mit sich; schließlich schnieft sie und setzt sich auf.
"Erik?"
"Ja?"
"Zerreißt du bitte den Zettel... und bestellst Gabrielle ganz liebe Grüße und gibst ihr nen Kuss?"
Erik fischt das Papier vom Boden, reißt es in der Mitte durch, legt die beiden Hälften übereinander und zerreißt auch sie. Dann nimmt er Julie in den Arm.
"Das wegen heute Morgen..." Sie versucht, sich über die Augen zu wischen. "Tut mir leid."
Erik lacht leise.
"Ich fand es witzig."
"Ehrlich? Ich dachte, du wärst sauer..." Sie schnieft.
"Wie hätte ich noch vernünftig mit Miss Gawaine arbeiten können, wenn sie merkt, dass ich sie nervig finde?" Er mustert das ziemlich lädierte Telefon, das vor ihm auf dem Tisch liegt "Was hast du denn damit angestellt?" fragt er und lässt Julie los.
"Ach das..." Sie greift nach dem Gerät und dreht es in den Händen. "Das ist... gegen die Wand gefallen... " Sie lächelt unsicher. "Tut mir leid, ich hätte dir das längst sagen sollen."
"Gegen die Wand gefallen?"
"Mehrmals... immer wenn der Typ von der Polizei sich gemeldet hat." Sie faltet die Hände auf dem Schoß. "Ich kanns dir ersetzen."
"Nein. Julie, ich bin dir unendlich dankbar." sagt er ernst. "Du hättest auch Gabrielle und mich zerstören können."
"Ich weiß."
"Du bist wirklich ein Engel." er erhebt sich.
"Nein, bin ich nicht." Sie verzieht das Gesicht.
'Wenn ich einer wäre, hätte ich mich nicht überreden lassen, zu bleiben.'
"Aber trotzdem danke." Sie sieht auf "Ist die Tante noch da?"
"Wer? Shea? Ja, ihr Flieger geht nun doch erst morgen früh. Jetzt blockiert sie mein Wohnzimmer und schaut Hollywood-Romanzen."
"Shea..." Julie rümpft die Nase "Ich nehme an, du willst ihr noch etwas Gesellschaft leisten...?"
"Ich habe nicht vor, sie länger unbeaufsichtigt in meinen privaten Räumen herumsitzen zu lassen. Außerdem muss ich nach Gabrielle sehen. Sie hat sich daneben gehockt und trägt ihre schlechte Laune zur Schau."
"Und wenn Gabrielle gleich ins Bett geht?" fragt Julie mit leicht bebender Stimme.
Irritiert schaut Erik sie an.
"Dann werde ich das dankbar als Ausrede benutzen, Miss Gawaine ebenfalls ins Bett zu komplimentieren, und mitgehen. Gabrielle schläft nicht gern allein, wenn sie einen schlechten Tag hatte."
"Oh, gut." Sie schüttelt den Kopf "Ich... ich meine, dann schlaf gut. Und sag Gabrielle, es tut mir leid, dass ich sie so erschreckt habe."
"Das werde ich." er öffnet die Tür "Schlaf gut, Julie."
Ganz langsam verteilt sie den dunklen Honig auf ihrem Brot. Sie wird nicht fliegen. Vorerst... Aber wie soll es weitergehen? Gabrielle weiß jetzt, was sie über Erik denkt, und nun besteht die ständige Gefahr, dass es ihr in irgendeinem Streit doch mal herausplatzt. Und was, wenn Erik es erfährt? Er wird bestimmt nicht zulassen, dass sie danach noch in seiner Nähe bleibt.
iIch habe dich vermisst, heute im Studio./i Sie schließt die Augen. Warum sagt er ihr so etwas bloß, wenn er doch nicht einmal weiß, ob er sie als gute Freundin ertragen kann?
Als sie die Küche verlässt, fällt ihr Blick auf die Papierschnipsel.
iDann bleib hier, Julie./i
Er hat sie in den Arm genommen... vielleicht beginnt er, ihrer Zurückhaltung zu vertrauen... Und Shea Gawaine kann er genausowenig leiden wie sie.
Sie legt sich hin und bettet ihren Kopf auf die Stelle, an der er eben noch gesessen hat. Es wäre besser gewesen, zu fliegen. Aber sie will nicht. Nicht morgen und eigentlich auch nicht in fünf Monaten. Sie schließt die Augen. Wie kann sie nur so egoistisch sein... Sie wird ihn und Gabrielle verletzen...
"Julie wird nicht fliegen." sagt Erik leise, nachdem sich Gabrielle an ihn geschmiegt hat.
"Du... du hast mir ihr geredet?" sie richtet sich wieder auf und starrt ihn an. "Aber... aber sie..."
"Ich soll dir ausrichten, dass es ihr leid tut, dass sie dich so erschreckt hat."
"Aber sie..."
"Du weißt, dass ich dich sehr lieb habe, Gabrielle. Niemand könnte mich dir wegnehmen, und niemand wird mir je wichtiger sein als du... Und ich werde nicht zulassen, dass sie mich noch einmal verletzt." ergänzt er fest.
"Julie bleibt wirklich da?" unruhig streicht sich Gabrielle über ihr Stoppelhaar. "Das ist... das ist nicht gut, sie... sie..."
Erik seufzt. Er weiß selber, dass es nicht gut ist. Er hätte sie gehen lassen sollen. Aber seine erste, instinktive Reaktion war, sie festzuhalten. Und wenn er es recht bedenkt, sagt auch sein Verstand, dass es falsch von ihm wäre, zuzulassen, dass sie ihren Unterricht bei ihm vorzeitig beendet.
"Es ist in Ordnung, Gabrielle. Ich werde sie wie versprochen unterrichten und ihre Angst therapieren, mehr nicht. Ich werde ihr nie, niemals mein Gesicht zeigen. Hörst du? Egal was passiert."
"Eher schickst du sie weg?"
"Eher schicke ich sie weg."
Was für eine Nacht! Julie hebt den Kopf und reibt ihren steifen Nacken. Sie hat nicht mal gemerkt, dass sie auf dem Sofa eingeschlafen ist. Draußen herrscht herbstliches Grau. Sie braucht jetzt einen Tee... einen Tee mit viel Honig und irgendeine nichtssagende Fernsehsendung, um sich auf andere Gedanken zu bringen.
Als sie auf Socken aus der Küche kommt, schaltet sie im Vorbeigehen den Fernseher ein und kuschelt sich auf dem Sofa zusammen.
Kanal 1 - Müll.
Kanal 2 - Nachrichten... Wohnhausbrand in Brüssel.
Sie reibt sich die Augen, während sie weiter durch die Sender schaltet.
Kanal 26 - Eine Limousine hält vor dem Haupthaus. Stirnrunzelnd beugt sich Julie vor. Bilder der Überwachungskameras. Shea Gawaine, in knallenger Hüftjeans und knappem Oberteil mit Pelzbesatz, stöckelt über den Kiesweg - an Eriks Arm. Julie hält die Luft an, als er ihr die Tür der Limousine aufhält und beim Einsteigen hilft. Seine Hand ruht einen Augenblick - viel zu lange für ihren Geschmack - oberhalb von Sheas Kreuzbein. Shea lacht über etwasund richtet sich noch einmal auf. Vollkommen übertrieben wirft sie ihren Kopf zurück, dann zieht sie Erik an sich. Er sollte sich wehren. Julie hat gedacht, er könnte Shea nicht leiden, und nun lässt er sich immer näher an sie ziehen, während sie theatralisch Küsschen auf seine Maske haucht. Enttäuscht ballt Julie die Hände zu Fäusten und schaltet den Fernseher aus.
Und wenn er nun doch noch vor dem Schlafengehen bei Shea war...?
Als es abends klopft, legt sie das Messer neben das Honigglas auf der Arbeitsplatte und öffnet.
"Abend."
"Guten Abend, Julie." er schließt die Tür hinter sich und legt seinen Umhang ab "Es wird tatsächlich Herbst."
"So?" Sie geht zurück in die Küche, um ihr Honigbrot fertig zu bestreichen.
Erik runzelt die Stirn.
"Ist alles in Ordnung? Soll ich wieder gehen?"
"Nein, aber du könntest die Überwachungskameras wieder so einstellen, dass ich nicht alles sehe, was... da vorne so abgeht." Sie verlässt die Küche und setzt sich mit dem Teller und ihrem Honigbrot auf das Sofa.
Schulterzuckend schaltet Erik den Fernseher ein.
"Ich soll dich von Gabrielle grüßen. Sie lässt fragen, ob es dir recht ist, wenn sie dich morgen besucht."
"Klar. Geht es ihr wieder besser?"
"Ja. Ich habe heute Morgen noch einmal mir ihr geredet." er schüttelt den Kopf "Sie hat bei eurem Gespräch nur ein wenig den Überblick über die Situation verloren, denke ich."
"Hm." macht Julie und konzentriert sich auf das flimmernde Fernsehbild, während sie ihr Brot isst.
Als Erik den Fernseher wieder umgestellt und ausgeschaltet hat, mustert er Julie kurz.
"Wenn du mir nicht sagen willst, was los ist, gehe ich wieder. Ich glaube nicht, dass es viel Sinn macht, dich zu massieren, wenn du sauer auf mich bist."
"Ich bin nicht sauer." murmelt sie "Es ist bloß... ich versteh dich nicht."
"Was verstehst du nicht?" er lässt sich ein gutes Stück von ihr entfernt auf dem Sofa nieder.
"Shea Gawaine." Sie runzelt die Stirn und versucht, möglichst ruhig zu bleiben, obwohl die Erinnerung an das, was sie heute Morgen gesehen hat, eine ziemliche Wut in ihr aufkommen lässt. "Das ist doch... meinst du nicht, dass Frauen wie sie unter deinem Niveau sind?"
"Unter meinem Niveau?" er stöhnt entnervt "Reicht es nicht, dass Gabrielle mir Vorschriften machen will, mit wem ich ins Bett gehe?"
"Ich mache dir keine Vorschriften... Ich habe bloß angemerkt, dass ich es ziemlich seltsam finde..." Sie seufzt "Guck dir Shea doch mal an! Hast du so eine aufgetakelte Tante wirklich nötig? Ich finde sie ziemlich widerlich... aber ich bin auch bloß eine Frau, vielleicht siehst du als Mann was ganz anderes in ihr."
'Außer ihren Monstertitten und dem Jennifer Lopez-Arsch...'
"Julie, ich habe nicht mit ihr geschlafen. Ich habe seit sechs Jahren mit überhaupt keiner Frau mehr geschlafen."
"Hm." brummt sie undbemüht sich, ihre Erleichterung nicht allzu deutlich zu zeigen. Er hat nichts mit Shea gehabt, gar nichts... "Ich fand es trotzdem irgendwie unappetitlich, als ich heute Morgen den Fernseher angemacht habe. Die ganze Frau war so... übertrieben."
Erik verzieht das Gesicht.
"Höflichkeit Vertragskunden gegenüber ist das Geheimnis eines jeden funktionierenden Geschäftes." rezitiert er missmutig.
"Zum Glück musste ich ihr gegenüber nicht höflich sein." Julie schiebt den Teller zurück auf den Tisch.
"Sie scheint ja das Thema des Tages gewesen zu sein, die gute Shea..."
"Hä?"
"Ach." er winkt ab "Gabrielle hat auch in einer Tour über sie gelästert, nachdem sie sich wieder etwas gefangen hatte."
"Ich kann sie nicht leiden, das ist alles." Julie atmet tief durch "Aber das heißt nicht, dass sie eine schlechte Stimme haben muss. Gabrielle mag ihren Gesang ja auch."
"Technisch einwandfrei, aber am Gefühl hapert es." er seufzt "Was ist nun mit deiner Massage?"
"Wenn du noch Zeit hast und nicht gleich zu Gabrielle zurück willst..."
Zögernd schaut er aus dem Fenster zum Haupthaus.
"Sie sah recht gut aus, als ich gegangen bin. Außerdem weiß sie, wo ich bin und kann anrufen, wenn etwas ist." sagt er dann.
"Was sagt eigentlich Gabrielle dazu, dass du mich besuchst? Wollte sie... gar nicht mitkommen?" Sie steht auf und beginnt, den Tisch freizuräumen.
"Doch. Aber ich habe ihr erklärt, dass sie eine erwachsene Frau ist und dir und mir vertrauen muss."
Julie nickt.
"Dann... hilfst du mir mit dem Tisch?"
"Natürlich."
"Es tut mir leid, dass ich so ausgetitscht bin, Julie." murmelt Gabrielle, während sie sich auf dem Sofa langlegt "Du und Erik, ihr seid beide erwachsen, und ich bin es auch, irgendwie... Wir kommen schon klar. Oder?"
"Sicher." Julie lächelt und streicht über Gabrielles Schulter.
"Ich will nie nie nie mit dir um Erik streiten müssen."
"Das musst du auch nicht." Julie lehnt sich zurück, um Gabrielle aus dem Augenwinkel zu beobachten.
"Weißt du, ich hab ihn sechs Jahre lang nur mit seiner Arbeit teilen müssen. Das... das ist erstmal eine ziemliche Umstellung gewesen, als du aufgetaucht bist."
"Er kommt doch bloß wegen meiner Angst zu mir." Julie zuckt mit den Schultern. Morgen werden ihre Gesangsstunden wieder beginnen.
"Nein, er mag dich." Gabrielle schweigt einen Moment; dann schnaubt sie "Endlich ist sie weg, diese Shea Gawaine, pah..."
"Ich konnte sie auch nicht leiden." Julie grinst "Aber wenn sie weg ist, kommt bestimmt bald die nächste, die so drauf ist wie sie. Es gibt so viele Shea Gawaines." Sie legt den Kopf in den Nacken und stöhnt. Erik mag sie, ja... Aber er wird nicht zulassen, dass da jemals mehr ist. Und Gabrielle wird es auch nicht zulassen. Warum ist sie überhaupt noch hier?
"Die Welt wimmelt von Sheas. Leider." Gabrielle verzieht das Gesicht "Wie gehts eigentlich Lucas?"
"Beschissen. Aimée hat mich genötigt, ihn anzurufen. Aber er jammert in einer Tour, dass ich zurückkommen soll... und dann will er wieder hierher kommen und mit mir reden, aber ich hab dafür echt keine Nerven im Augenblick." Julie zwirbelt eine Haarsträhne zwischen den Fingern.
"Er ist eine männliche Shea Gawaine." Gabrielle grinst "Aufdringlich und ätzend. Klebrig."
"Wie Honig."
"Aber Honig ist süß. Wie Erik." Gabrielle schaukelt verspielt auf ihrem Platz hin und her.
Julie schüttelt den Kopf.
"Dann halt... ein Fliegenfänger." Sie grinst "Aber der zieht viele eklige Viecher an... wie Shea Gawaine."
"Shea zieht eklige Viecher an? Hm, na gut, Erik hat sie nicht angezogen, nur ausgezogen hätte sie ihn gern, das heißt, das passt."
Julie lacht.
"Nein, ich meinte mit den ekligen Viechern Leute wie sie... Aber Lucas zieht eigentlich keine anderen Frauen an."
"Dabei ist er doch so gutaussehend... Aber nicht reich, oder?"
"Geht schon. Die Firma seiner Eltern plant immer noch den Börsengang... Es reicht für eine kleine Eigentumswohnung." Julie runzelt die Stirn "Aber seit wir zusammen sind, hat er nie anderen Frauen hinterhergeschaut... Naja jedenfalls nicht, wenn ich dabei war."
"Und jetzt bist du weg. Eigentlich ist er wieder Single. Genau wie du. Oder?"
"Wir waren sieben Jahre zusammen. Keine Ahnung, wie schnell er sich schon wieder als Single fühlt. Aimée meinte, dass er ziemlich leidet. Und so wie er am Telefon klingt, hat er bestimmt noch keine andere, sonst würde er nicht jammern, dass ich zurückkommen soll."
"Vielleicht weiß er, dass du das hasst, und versucht, dich weggeekelt zu halten." Gabrielle grinst "Männer sind doch so verschlagen, eieiei."
"Ich glaube, für sowas ist Lucas zu... einfach gestrickt." Julie verkneift sich ein Lachen.
"Er ist ja auch blond... Ich hab eigentlich rote Haare. Schön karottenrot..."
"Hey,ich bin auch blond..." meint Julie und fährt sich durchs Haar. "Deine Haare sind richtig kurz, oder?"
"Ach, Frauen sind immer schlau." Gabrielle kaut auf ihrer Unterlippe herum "Ich lass sie wieder wachsen, glaub ich... ich... hab doch diese große Narbe am Kopf, aber die könnte ich mit einer Teilperücke verdecken... ich hab welche aus meinen eigenen Haaren gemacht, nachdem ich sie mir abgeschnitten hatte. Eigentlich will ich auch ganz kurze Sachen tragen, so wie du..." sie zuckt mit den Schultern "Aber jetzt ist erstmal Herbst. Vielleicht trau ich mich nächsten Sommer..."
"Bestimmt. Dann fährst du nach Brüssel und kaufst dir einen Fummel, der Shea Gawaine vor Neid erblassen ließe. Nein, eigentlich müsstest du bloß was nähen. Das ist auch viel individueller und hübscher..." Julie lehnt sich zurück "Das Kleid, das du mir genäht hast, ist so schön..."
"Das hat Erik auch gesagt. Er meint, es hätte perfekt zu dir gepasst. Ich sollte meine eigene Näherei aufmachen..."
"Das solltest du wirklich... Du könntest... hm... Kostüme nähen, oder Brautkleider oder sowas, und dann machst du die Leute noch richtig schön zurecht. Du würdest Weltruhm erlangen." Julie grinst. Dann hat Erik das Kleid also gefallen. Er hat nie irgendwas dazu gesagt.
"Für Weltruhm wäre ich zu langsam. Ich bin nicht sonderlich stressresistent, weißt du." Gabrielle seufzt "Nein, ich nähe nur zum Spaß, singe nur zum Spaß... Sooo viel Spaß, nicht auszuhalten ist das..."
"Ist auch schön... So bleibt das wenigstens alles etwas besonders und mein Kleid ein Einzelstück. Wenn ich je nochmal die Gelegenheit bekomme, es zu tragen, werd ich ganz doll an dich denken."
Gabrielle nickt nachdenklich.
"Wir sollten einen Ball schmeißen... Wir können feiern, dass du nicht gefahren bist."
"Einen Ball für uns beide?"
"Für dich, mich und Erik. Und wir losen vorher aus, wer welchen Tanz mit ihm bekommt." Gabrielle beginnt zu kichern "Oder wir mieten uns noch einen Callboy dazu. Einen großen, schlanken, dunklen Callboy..." sie seufzt verträumt.
"Also müsste dein Traumtyp ungefähr so aussehen wie Erik?" Julie sieht sie interessiert an.
"M-hm, so ungefähr..." Gabrielle presst die Lippen zusammen "Manchmal verfluche ich den Tag, an dem sein Vater unsere Mutter verführte. Wäre er mal besser bei seiner eigenen Frau geblieben, dann wäre ich jetzt nicht Eriks Schwester. Aber was solls?" sie zuckt mit den Schultern. "Ich glaube nicht, dass ich ihn mögen würde, wenn wir nicht zusammen aufgewachsen wären."
"Nicht? Wieso das?" Julie runzelt die Stirn.
"Ach... nicht so wichtig... Sag mal, sollen wir nicht morgen zusammen was lustiges gucken?" fragt Gabrielle hastig "Oder... oder wir könnten was kochen oder so."
"Oder beides..." Julie verschränkt die Arme hinter dem Kopf und blickt aus dem Fenster.
"Was hat Erik gesagt, damit du bleibst?" fragt Gabrielle nach einer Weile leise.
Julie zuckt mit den Schultern
"Ach, er hat mir klar gemacht, dass es dumm wäre, meinen Unterricht abzubrechen, jetzt, wo meine Stimme langsam Fortschritte macht." improvisiert sie rasch.
"Ah." Gabrielle senkt den Blick "Als ich dich zum ersten Mal gehört habe, hab ich dich ausgelacht." gesteht sie "Aber da war ich auch manisch." ergänzt sie eilig "Ich hätte Shea Gawaine gecastet. Zum Glück hat Erik noch bessere Ohren als ich."
"Glaubst du wirklich, dass es kein Fehler war, mich statt Shea zu nehmen?"
"Für Shea hätte ich jedenfalls kein Kleid genäht. Und ich hätte auch nicht mit ihr zusammen gekocht. Oder mit ihr und Erik gesungen."
"Ja, das war schön. Ich bin froh, dass ich dich kennengelernt habe. Obwohl du mir am Anfang schon etwas unheimlich warst..." Julie presst die Lippen aufeinander.
"Ach, das ist normal. Aber im Gegensatz zu allen Sheas dieser Welt magst du mich trotzdem."
Julie lächelt und streicht über Gabrielles Rücken.
"Das tue ich."
"Und ich hab dich lieb." Gabrielle legt ihren Kopf an Julies Schulter "Das wäre so dämlich, wenn ich mir das ausreden würde... Du willst mir nicht wehtun, du willst Erik nicht wehtun, ich sollte darauf vertrauen, dass dus ehrlich meinst und tun wirst, was du kannst... Du bist keine Shea Gawaine. Shea würde mich zertreten wie einen Wurm."
Zögernd bleibt Erik vor Julies Tür stehen. Es ist endlich noch einmal richtig warm, perfektes Wetter für einen Waldspaziergang... mit Julie.
Er seufzt und wendet sich ab, nur um sich gleich wieder zur Tür zu drehen. Seit drei Tagen ist Julies Urlaub vorbei und es scheint, als wäre nun endgültig wieder alles wie in den letzten Tagen vor seinem Geständnis. Mit dem kleinen aber wichtigen Unterschied, dass Julie respektvollen Abstand zu ihm hält; sie hat sich ihm weder im Unterricht noch bei ihren Massagen in irgend einer Form genähert oder zu erkennen gegeben, dass sie es gern tun würde. Es scheint, als könne er jetzt tatsächlich wagen, auch ohne Vorwand ihre Nähe zu suchen.
Julie wirft einen kurzen Blick aus dem Fenster. Ein schöner sonniger Herbsttag.
Als sie die Tür öffnet stellt sie erstaunt fest, dass es nicht Gabrielle, sondern Erik ist.
"Was treibt dich denn hierher? Es ist doch noch gar nicht dunkel."
"Ich dachte, du hast vielleicht Lust auf einen kleinen Spaziergang."
"Jetzt?" Sie hebt überraschtdie Augenbraue.
Erik zuckt mit den Schultern.
"Ich kann auch im Dunkeln wiederkommen und wir sehen, ob du es diesmal bis zu dem Hügel schaffst."
Sie verzieht das Gesicht.
"Nein, ich hol bloß noch... brauch ich eine Jacke?"
"Ich denke nicht." Er beißt sich unentschlossen auf die Lippe, bietet ihr dann aber doch keinen Arm an. "Wie fühlst du dich mit deinem Entschluss, zu bleiben?" fragt er, als sie langsam nebeneinander in Richtung Waldrand zu flanieren beginnen.
Sie sieht ihn nicht an.
"Ich weiß nicht. Ich glaube, du hattest recht. Gabrielle hat sich wieder beruhigt und es wäre wirklich ein Fehler gewesen, zu fliegen."
"Deine Stimme wird dir ewig dankbar sein. Gabrielle hat erzählt, dass du uns zu deiner Premiere als Christine Daaé einladen willst." er steckt seine Hände in die Hosentaschen und ballt sie dort zu Fäusten "Ich spiele mit dem Gedanken, auch zu kommen."
Überrascht schaut Julieihn an. Wieso nähert er sich ihr plötzlich wieder, nachdem er ihr doch eindeutigzu verstehen gegeben hat, dass er sich vor einer intensiveren Beziehung zu ihr scheut? Und sie sich verbiegt bei dem Versuch,das zu akzeptieren...
"Du würdest tatsächlich nach Québec kommen? Nur um dir ein Musical mit simpler Musik und übertriebenen Texten anzusehen?"
"Und Julie Deniaud in der Rolle der Christine." ergänzt er "Ich sehe mir immer die Ergebnisse meiner Arbeit an. Außerdem traue ich dir zu, zumindest die Texte mit Sinn zu füllen. An 'Belong', 'In the Dark' und 'Fille noire' hast du diese Fähigkeit ja schon bewiesen."
Nun ist sie wirklich irritiert. Sie beobachtet ihn eine ganze Weile aus dem Augenwinkel. Ob er sich sein Methadon wiedergespritzt hat? Aber er ist überhaupt nicht so beunruhigend aufgekratzt wie beim letzten Mal...
"Du hältst wirklich große Stücke auf meine Stimme." meint sie leise.
Erik zuckt mit den Schultern.
"Ich habe deine Fortschritte beobachtet, ich erlebe dich jeden Tag im Unterricht, und ich bin mir sicher, dass deine Leistung noch steigerbar ist. Du bist gut, Julie. Verdammt gut."
Sie spürt, dass sie errötet.
"Das liegt nur an deinem Unterricht. Das sagt Aimée übrigens auch." Sie seufzt "Ja, ich glaube, Gabrielle würde sich wirklich freuen, mich in Kanada zu besuchen und sich ein Musical anzusehen."
"Aber das ist noch lange hin. Fünf Monate, mindestens." er wirft ihr einen Blick zu "Über Weihnachten kannst du übrigens gern für zwei oder drei Wochen nach Hause fliegen. Ich würde dir dann Übungen mitgeben, damit deine Stimme nicht einschläft."
Julie beißt die Zähne zusammen und versucht, sich auf irgendeinen Punkt weit vor ihnen zu konzentrieren.
"Mal sehen." Vielleicht kann sie mit Aimée feiern. Obwohl Lucas am Telefon noch immer etwas seltsam klingt, hat sie den Eindruck, dass er langsam über die Trennung hinwegkommt; er wird also nicht zwingend mit ihr feiern wollen. Und mit ihrem Vater feiert sie ganz sicher nicht. "Ist ja auch noch eine ganze Weile." sagt sie schließlich leise.
Erik schaut sie besorgt an.
"Wenn du gut arbeitest, kannst du auch vorher schon einmal heim fliegen. Oder du lädst Aimée hierher ein." er pflückt ein bereits vergilbtes Blatt von einem Baum und betrachtet es "Ich würde sie ohnehin gern einmal kennenlernen."
"Du würdest..." sie wirft ihm einen kurzen verwirrten Blick zu und schüttelt den Kopf. "Ich kann sie ja mal fragen, wann sie Zeit hätte."
"Gut." er beginnt, mit dem Blatt zu spielen, lässt es in seinen Fingern auftauchen und wieder verschwinden "Was tust du eigentlich den ganzen Tag?" fragt er schließlich. "Habe ich dich das je gefragt? Du musst umkommen vor Langeweile..."
Julie verengt die Augen zu Schlitzen und beobachtet ihn. Warum ist er heute so völlig anders zu ihr als in den letzten Wochen? Fast so wiein ihren ersten Wochen hier...
"Ich stricke oder lese die Bücher, die im Gästehaus stehen. Manchmal surfe ich sinnlos im Internet herumoder beantworte meine Emails... abends liege ichmeistens auf dem Sofa und höre Musik. Als langweilig würde ich das nicht bezeichnen. Eher als... entspannend." Sie runzelt die Stirn und deutet auf seine Hand "Wie machst du das?"
"Wenn du ein bestimmtes Buch haben möchtest, sag Bescheid, dann besorge ich es für dich. Und das hier..." er lässt das Blatt verschwinden "... ist eigentlich ein Trick für Münzen und Karten." er dreht seine Hand um, wo das Blatt deutlich sichtbar zwischen seine Fingerknöchel geklemmt hängt "Simpel."
Julie lächelt zaghaft.
"Das ist faszinierend." murmelt sie. Dann presst siedie Lippen aufeinander und wartet einen Augenblick "Erik, warum hast du mich zu diesem Spaziergang entführt?" fragt sie schließlich "Willst... willst du mir irgendwie schonend beibringen, dass ich doch besser nach Kanada zurückfliegen sollte?"
"Nein."
"Aber... aber irgendwas ist doch..."
"Ich möchte nur mit dir spazieren gehen." er lässt das Blatt zu Boden segeln und schiebt seine Fäuste in die Hosentaschen. "Es... nervt, dich kaum noch zu sehen."
Sie sieht ihn überrascht an.
"Ich dachte, es wäre dir nur recht, wenn ich... wenn wir uns... wenn ein bisschen Abstand zwischen uns ist."
Erik nickt.
"Ja, das dachte ich auch."
Unsicher sucht sie seinen Blick.
"Aber?"
"Es gibt auch ein Zuviel an Abstand."
"Hm." Nun versteht sie trotzdem gar nichts mehr "Was ist mit Gabrielle?"
"Du hast doch mit ihr gesprochen. Sie ist dreiundvierzig, sie wird damit zurechtkommen, dass ihr Bruder ab und an einen Nachmittag mit seiner Gesangsschülerin verbringt."
'Die immer noch in ihn verknallt ist.' denkt Julie und beißt sich auf die Unterlippe.
"Wenn du meinst, dass das okay für sie ist..."
"Das ist es. Eine Freundschaft kann niemandem wehtun, oder?" Sie haben die Lichtung erreicht, auf der Erik mit Julie getanzt hat. In der Mitte bleibt er stehen und sieht sich um.
Eine Freundschaft also... Julie lächelt verhalten. Besser als nichts. Sie hat zu Aimée gesagt, dass sie ihn nicht verlieren möchte, egal als was, also sollte sie jetzt auch mit seiner Freundschaft zufrieden sein.
"Was hast du vor?" fragt sie, als sie seinen suchenden Blick bemerkt.
"Ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis die Bäume gelb werden." Er reibt sich den Nacken "Außerdem überlege ich, ob ich dich zum Tanzen auffordern soll."
"Was?" Sie presst die Lippen zusammen. Sie hat nicht damit gerechnet, dass sein Angebot ernst gemeint war.
Erik zuckt mit den Schultern.
"Dann nicht."
"Nein!" entfährt es Julie und sie macht einen Schritt auf ihn zu "Nein, ich war bloß... überrascht."
"Gut, dann..." er atmet leise durch "Mademoiselle, dürfte ich Euch um die Ehre des nächsten Tanzes bitten?"
Sich selbst zur Ruhe zwingend beißt sich Julie auf die Unterlippe und reicht ihm ihre unmerklich zitternde Rechte.
"Mit dem größten Vergnügen." Was ist bloß los mit ihr? Sie sollte wieder auf Abstand gehen, bevor es zu spät ist... Aber sie sehnt sich so nach seiner Nähe und seiner Berührung.
Unsicher umfasst Erik Julies Taille und nimmt ihre Hand. Sie wirkt ein wenig aufgeregt auf ihn, doch er sagt sich, dass das nur Einbildung ist. Sie hat einfach manchmal schwitzige Hände, sie wirkt einfach manchmal nervös oder ängstlich, obwohl sie es nicht ist; zu Beginn ihres Unterrichts konnte sie ja nicht einmal seinem Blick standhalten.
Langsam setzen sie sich in Bewegung, und schon wird seine Atmung wieder ruhiger. Ein Tanz zweier Freunde. Es gibt auf dieser Lichtung nichts, wovor er Angst haben müsste - solange es ihm gelingt, Julie nicht an sich zu ziehen.
"Jetzt fehlt nur noch ein Konzertpianist." sagt er nach einer Weile.
"Hm... aber im Augenblick geht es auch ohne ihn ganz gut." Julie schließt die Augen. "Gabrielle will einen Ball veranstalten."
"Ja, das hat sie gesagt. Mit dir und zur Not irgendeinem... gekauften Tanzpartner für mich."
"Tatsächlich?" er lacht verhalten "Gabrielle tanzt nicht besonders gut, ich denke, aus Rücksicht auf mich würde sie den... gekauften Tänzer nehmen."
"Sie hatte schon ziemlich genaue Vorstellungen von ihrem... Tanzpartner..."
"Hatte sie? Wahrscheinlich ist er groß und schlank und dunkel." er schüttelt den Kopf.
"Du kennst sie ziemlich gut." Julie grinst.
"Nun, wir haben den größten Teil unseres bisherigen Lebens zusammen verbracht."
"Und du glaubst, sie würde dich tatsächlich gegen einen... gekauften Tanzpartner eintauschen wollen?"
"Vielleicht. Wenn ich sie darum bitte."
"Ich würde mich an ihrer Stelle nicht darauf einlassen."
"Und ich hoffe, dass sie anders denkt als du." er hält an und tritt einen kleinen Schritt von ihr zurück, um sich leicht zu verneigen.
Mit einem schüchternen Lächeln senkt Julie den Blick.
"Das hoffe ich auch."
Erik nickt kurz.
"Ich bringe dich jetzt zu deinem Haus zurück, wenn es dir recht ist."
Zögernd ergreift sie seinen angebotenen Arm.
"Natürlich... Wirst... wirst du heute Abend trotzdem vorbeikommen?"
Er reibt sich den Nacken.
"Das hängt davon ab, wie ich mit meiner restlichen Arbeit zurechtkomme und wie es Gabrielle geht." antwortet er schließlich. "Sie wirkte hypomanisch auf mich, als ich gegangen bin. Aber vielleicht hat sie auch nur sehr gute Laune, das ist manchmal schwer zu unterscheiden."
Julie nickt.
"Gut. Kannst du vorher bitte kurz anrufen? Nicht, dass ich nicht mehr mit dir rechne und mich ins Bett lege, oder in der Badewanne bin oder so..."
"Das werde ich."
Am Abend steht er am Fenster, starrt zum Gästehaus hinüber und zaudert.
Ein undeutlicher Schemen schiebt sich in seinen Augenwinkel. Als er seinen Fokus verstellt, erkennt er seine Schwester in einem weißen Tournürenkleid mit blutroten Aufschlägen. Sie trägt keine Perücke, und als sie ihn breit anlächelt, sieht er ein Paar künstlicher Fangzähne zwischen ihren übertrieben bemalten Lippen.
"Bon soir." raunt sie heiser, während sie sich an ihn drängt. Flink zieht sie den Kragen seines Pullovers herunter und bohrt ihre Zähne in seinen Hals. Sie schmatzt, knurrt unartikuliert, dann zieht sie den Kopf wieder zurück.
"Du bist zu zäh. Aber ich hab dir eine Schramme gemacht."
"Das tat weh, Gabrielle." murrt er geistesabwesend.
"Lügner. Du bist auf Methadon, du hast nichts gespürt." Sie reibt mit dem Finger über seine Schramme und steckt ihn dann in den Mund. "Deins schmeckt anders als meins."
"Findest du?"
"Ja. Was machst du?" Sie geht hinter ihn, legt ihre Arme um seinen Bauch und schmiegt sich an. "Wohin starrst du?"
"Aus dem Fenster."
"Hm... Du solltest lieber iins/i Fenster starren. Guck, da sind wir. Du und ich. Und ich umarme dich. Ich halte dich fest, damit du nicht umfällst."
"Warum sollte ich umfallen?"
"Weil dir jemand ein Beinchen stellt."
Schweigen.
"Erik?"
"Was ist?"
"Du bist in Julie verliebt."
"... Ja." Er spürt, wie sich Gabrielle verkrampft.
"Du liebst sie mehr als mich?" fragt sie ängstlich.
"Nein. Nur anders."
Gabrielle nickt langsam.
"Ich habe euch im Wald gesehen. Ihr habt getanzt..." Sie atmet geräuschvoll durch. "Du willst mit ihr schlafen."
Er schweigt.
"Du iwirst/i mit ihr schlafen."
Ärgerlich macht sich Erik los.
"Ich habe keine Ahnung."
"Aber du... du hast auch mit Shea Gawaine nicht geschlafen." Gabrielle folgt ihm und schmiegt sich wieder an. "Und mit ganz vielen anderen, seit sechs Jahren. Du kannst darauf verzichten."
Erik schnaubt.
"Diese Weiber und Julie, das sind zwei völlig verschiedene Angelegenheiten."
"Aber du brauchst Julie nicht. Hörst du? Sie wird dir nur wehtun! Sie wird weggehen, aber ich nicht, ich bleib immer da und ich habe keine Angst vor deinem Gesicht!" ihre Hände haben zu zittern begonnen und wandern nun von seinem Bauch abwärts zu seinen Lenden "Und mich liebst du doch auch... du... du kannst doch..."
Angewidert fährt er herum und stößt sie von sich.
"Hör sofort auf mit diesem Schwachsinn! Du bist meine Schwester, du bist tabu, du bist..." er schüttelt den Kopf und geht zur Tür "Wie kannst du so etwas auch nur denken!"
"Aber du kannst dich doch nicht einfach verlieben und... und..."
Erik bleibt stehen und dreht sich zu ihr um. Einen Moment lang blitzt er sie aufgebracht an, dann seufzt er.
"Julie und ich sind Freunde, nicht mehr und nicht weniger, und so soll es auch bleiben. Ich werde dich niemals alleinlassen und ich werde auch nie aufhören, mich um dich zu kümmern, aber... du kannst mir nicht alles geben, was ich... was ich will und brauche. Und damit meine ich nicht nur Sex."
"Und du kannst mir auch nicht alles geben." flüstert Gabrielle und ballt ihre Hände zu Fäusten "Trotzdem hatte ich lange nur dich und bin von dir abhängig. Weil du mich dazu gemacht hast!"
Entsetzt starrt Erik sie an.
"Gabrielle, du weißt, dass..."
"Ja, ich weiß, du willst mich nur beschützen. Und ich will dich beschützen. Vor Julie und vor dir selbst. Und jetzt sieh dir an, was du von meinem Schutz hältst!" Sie dreht sich weg und kreuzt die Arme vor der Brust. "Geh weg, Erik. Geh weg und lass mich in Ruhe."
Er spürt, wie sein Herz zu rasen beginnt.
"Gabrielle, wir können über alles reden." sagt er ruhig und macht einen Schritt auf sie zu.
"Ach leck mich, Erik! Lass mich in Ruhe! Ich werd mich schon nicht umbringen! iScheiße/i!"
Besorgt und zornig zugleich mustert er für einen Moment ihr Spiegelbild im Glas.
"Auf deine Verantwortung." knurrt er dann, dreht er sich um und verlässt das Zimmer.
"Und versuch gar nicht erst, mich zu überwachen!" schreit sie ihm nach.
