Autor: OgaShi
Kapitel: 5 von ?
Disclaimer: Tief in unseren Herzen wissen wir doch alle insgeheim, dass Beyblade den Fans gehört. v.v Nur leider haben meine immer wiederkehrenden Besuche bei der Bank endgültig bestätigt, dass ich auch damit kein Geld verdiene.
Kapitel Fünf
Mein Geheimnis, dein Geheimnis II
„Sag' mal Daichi … in diesem Haus gibt es nicht zufällig Senf?", grüßte Max am frühen Morgen, als er in das mit Tatami ausgelegte Esszimmer kam, in dem Daichi hastig Reis in sich hinein schaufelte.
Als dieser Max' Stimme hinter sich hörte, hielt er abrupt inne und drehte sich andächtig herum. Ein Schatten verdunkelte seine smaragdgrünen Augen. Krachend stellte er die Schüssel auf den niedrigen Tisch.
Daichi musste in den vergangen drei Jahren einen schmerzvollen Hormonschub durchgemacht haben: er war gewaltig gewachsen und reichte Max – der trotz der westlichen Gene selbst nicht sehr groß war – bis knapp über die Stirn. Am stämmigen Körper trug er eine dunkelblaue Sommerschuluniform, eine Kordhose und ein weißes, kurzärmeliges Hemd, dessen Enden unsauber aus dem Hosenbund heraushingen. Neben ihm lag ein zerfranster Blazer auf dem khakifarbenen Lederrucksack.
„Mackf!", knurrte er um einen Batzen zerkauten Reis herum.
„Good morning", lachte Max, wobei er sich ahnungslos durch das zerzauste Haar fuhr. In der anderen Hand hielt er Kais Nudelsuppenpäckchen. „Would you mind if – ich meine, ich möchte mir das hier warm machen, könnte ich … vielleicht …"
Er wurde immer leiser und verstummte schließlich ob der diabolischen Blicke, die ihn durchbohrten.
Daichi kaute, schluckte, trank einen großen Schluck Tee und erhob sich. Auf dem Absatz kehrt machend schritt er auf Max zu, blieb neben ihm stehen und schaute zu ihm auf – in seinen Augen funkelte ein irrer Glanz.
„W-was hast du, Daichi?"
„Du bist eine ästhetische Sollbruchstelle."
„Eine was!"
„Eine äs-the-ti-sche Soll-bruch-stelle." Daichi tat noch einen Schritt – er stand nun hinter ihm – und während Max noch grübelte, holte er weit aus und versetzte dem völlig Unvorbereiteten einen kräftigen Tritt in die Kniekehlen – einen Tritt, der saß. Max knickte mit einem erschrockenen Aufschrei ein, stürzte auf die Knie und ließ die Nudelpackung fallen – er hörte Daichi noch brüllen, dann kollidierte sein dickes Bündel voller Bücher und Notizblöcke mit Max' Kopf und schlug ihn erbarmungslos zu Boden.
„Du Denunziant!", rief Daichi und schulterte seinen Rucksack.
„Daichi, woher kennst du solche Wörter? AU!"
„Du elender Verräter wagst es, in dieses Haus zurückzukehren! Dafür wirst du büßen!"
„Ah – hör auf mich zu treten – AUA!"
„Winsle um dein Leben! Du HUND!"
„DAICHIII!"
Der letzte Schrei stammte nicht von Max. Völlig überrumpelt hatte er sich gegen den plötzlichen Sturmangriff nicht wehren können – doch noch viel schlimmer wetterte die starke, zornige Stimme eines Mannes vom Dojo durch den Flur; einem Mann dem die Zeit noch nicht viel hatte anhaben können, von seinem grauen Haar und den Falten einmal abgesehen.
„Opa!" Daichi sprang auf und stürzte auf der Stelle in die dem Dojo entgegengesetzte Richtung davon. Max stöhnte und hielt sich den Bauch, während er sich langsam und stockend aufrichtete – da brauste jäh ein Wirbelwind heran, trampelte über ihn hinweg und stampfte ihn zurück auf den Boden. Resigniert blieb Max liegen.
„Was fällt dir ein, dem armen Jungen so zuzusetzen!", donnerte die kräftige Stimme des Alten durch das Anwesen.
„Ich hab's nicht so gemeint!"
„Na warte, du, wenn ich dich in die Finger kriege!"
„AAAH! NEIN!"
„Bleib stehen, Daichi!"
Die Schritte polterten zurück. Und gerade da, als Max vorsichtig den Kopf hob, um den Flur hinunterblicken zu können, bekam er Daichi zu Gesicht, dicht gefolgt von Takaos Großvater, der ein Bambusschwert zum Schwung bereit in den Händen hielt. Daichi bleckte ihm die Zunge und jagte zum Dojo; Shojitüren scharrten und klapperten, das Geräusch eiliger Schritte verlor sich und Großvater blieb außer Atem bei Max stehen.
Und plötzlich begann er raukehlig zu lachen.
„Und weg ist er, dieser kleine Bengel!", röhrte er. „Nichts als Unsinn im Kopf. Genau wie Takao damals."
„D-Danke …", keuchte Max. Oh ja, das würde eine Menge hübscher Hämatome geben, dank dieses kleinen Bengels …
„Alles in Ordnung mit dir, Junge?" Geräuschvoll stellte er die Spitze des Bambusschwertes auf den Boden und lehnte sich zu Max hinunter.
„Ja, natürlich, vielen Dank, Kinomiya-san." Mühsam richtete er sich auf und verneigte sich vor seinem Gastgeber. „Entschuldigen Sie bitte."
„Soviel Förmlichkeiten, nach so vielen Jahren! Hast du überhaupt schon gegessen? Du bist ja dünn wie ein Handtuch!"
„Nein, ich wurde gerade davon abgehalten", grinste Max und hob seine Fertignudeln auf. Leider wurde er bei jeder Bewegung schmerzvoll an Daichis rätselhaften Austicker erinnert. „Hätten Sie vielleicht etwas Senf für mich?"
Während des Frühstücks schlich der frühe Morgen vorüber. Am Himmelszelt sammelten sich düstergraue Quellwolken und eine schwüle Hitzewand senkte sich auf den Dojo herab, während die verborgene Sonne dem Mittagsstand entgegen stieg. Nachdem Max Kais Leihgabe mit einer gehörigen Portion Senf verspeist hatte – er konnte sich nicht vorstellen, dass es etwas anderes als eine Leihgabe sein sollte, schließlich war hier von dem Kai die Rede –, bestand Takaos Großvater darauf, ihm eine Lektion im Kendo zu erteilen.
„Zieh dir die Rüstung von Takao an. Er wird sicher nichts dagegen haben.", forderte er den Blondschopf auf. Dieser wollte nicht unhöflich sein – schließlich plante er eine Weile in diesem Anwesen zu wohnen – und kam der Bitte widerspruchslos nach. Ein paar Schritte kannte er noch aus der Junior Highschool, das sollte reichen.
Obwohl ihm die Hakamahose und der Kopfschutz deutlich zu groß waren, hielt er tapfer durch und schaffte es, den Alten mit seinen Bemühungen zufriedenzustellen. Als schließlich am späten Mittag ein erstes dumpfes Grollen durch die Wolkendecke rollte, öffnete sich plötzlich die Schiebetür des Dojos – Max drehte instinktiv den Kopf und ehe er sich versah, hieb das Bambusschwert des anderen mit voller Kraft auf seinen Kopf nieder.
Taumelnd ließ er das eigene Schwert fallen und ging zum zweiten Mal an diesem Tag angeschlagen auf die Tatami nieder.
„Opa!" Takao sürzte in den Trainingsraum. Am Türrahmen ließ er einen extrem gelangweilten Kai und einen sich prächtig amüsierenden Rei zurück. „Opa! Was machst du denn da!"
„Guten Tag, Kinomiya-san!", grüßte Rei. „Wir waren so freundlich und haben Ihren Enkel vom Krankenhaus abgeholt."
„Wie man sieht, hätte er auch selbst laufen können …", murrte Kai und bekam von Rei einen neckischen Klapps auf den Hintern.
„Takao! Sag deinem Alten gefälligst Hallo, wenn du nach Hause kommst!"
„Opa, du hast gerade Max k.o. geschlagen!"
„Nein, es geht schon …" Max ließ sich aufhelfen und zog sich den Helm vom Kopf. Etwas angekratzt rieb er sich den Schädel und grinste … dann trafen sich ihre Blicke und die Umstehenden wurden Zeugen einer seltsamen Reaktion.
Wortlos fielen sie sich in die Arme. Takao klappte auf die Knie und drückte Max so fest, dass dieser aus dem Gleichgewicht kam; seine Finger krallten sich in Takaos Rücken, sein Kopf schmiegte sich in seine Halsbeuge, bis sie nicht mehr als ein eng umschlungenes Bündel aus Stoff und Haar waren, das in diesem Moment umkippte. Und kaum lagen die beiden dort aufeinander, ging ein Ruck durch ihre Körper, eine Art Stromschlag, der die beiden prompt auseinander trieb.
„Tut mir leid!"
„Nein, mir tut es leid!"
„Es war mein Fehler!"
„Quatsch, das war meine Entscheidung!"
„Aber wäre ich nicht –"
„Entschuldige bitte!"
„Verzeih mir!"
Rei blickte zu Kai und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Kai blickte zu Rei und hob eine Augenbraue.
Man musste nicht Konfuzius sein, um diese Szene deuten zu können … die putterroten Gesichter Max' und Takaos waren schlicht und ergreifend nicht zu übersehen.
Kurz darauf saßen sie im Kreis mit Oolong-Tee und süßem Gebäck in Takaos Zimmer und feierten Takaos Schutzengel mit Musik aus dem Radio. Rei und Kai hatten die letzten Minuten ihrer Lesung geschwänzt, um Takao vom Hospital nach Hause zu begleiten, allerdings ohne auch nur ein Wort über Max' Tagebuch oder sein Verhalten zu verlieren.
„Lasst uns auf Takaos Unsterblichkeit anstoßen!" Rei hob das Teeglas und knallte es gegen das Kais. Sie warfen sich – weniger in Kais als in Reis Fall – verschwörerische Blicke zu: es war einfach urkomisch mit anzusehen, wie Max und Takao nebeneinander saßen, verlegen vor sich hinschweigend und sorgfältig darauf bedacht, nicht miteinander in Berührung zu kommen.
Vor Takaos geöffnetem Fenster krachte es und ein Blitz leuchtete auf.
„Es geht so langsam los", analysierte Rei das Wolkengebirge, „offiziell ist zwar erst Morgen Herbstanfang, aber das scheint das Wetter nicht zu interessieren. Hey, Max! Wo hast du eigentlich deine bunten Klamotten gelassen?"
Max trug ein schwarzes T-Shirt und eine weite Skaterhose im gleichen Ton. Noch hatte er zwar keinen Ton gesagt, aber es schien ganz so, als war diese und die vom vorherigen Tag die einzige Kleidung, die er in seinem Rucksack aus Amerika mitgebracht hatte.
„Was meinst du, Rei?", lächelte Max, doch sah er ihn dabei nicht an.
„Du weißt ganz genau, wovon ich rede, Max"
„Lass ihn doch in Ruhe, Rei, er kann doch tragen, was er will!", mischte sich Takao ein. Rei wedelte abwehrend mit der Hand.
„Nichts da! Das geht gegen meine Prinzipien als angehender Modedesigner." Damit stellte er die Tasse in seiner Hand ab und robbte zu Max, dessen Kopf bei dem Wort ‚Modedesigner' ruckartig heraufgeschnellt war.
„Das ist ja wohl ein Witz!", lachte er auf.
„Was denn, hat dir Takao gar nichts davon erzählt?"
„N-Nein –"
„Dann gewöhne dich an den Gedanken! Kai und ich sind in Kürze waschechte Modedesigner der berühmtesten Universität für Mode in ganz Tokyo!"
„Bunka Fashion College", ergänzte Kai und Max drohten die Augen aus dem Kopf zu fallen.
„Kai studiert Modedesign? Wow! Cool!"
„Ich fand es schon ohne Modedesign sehr schockierend!", nickte Takao ahnungsvoll.
Wie um die Aufmerksamkeit zurück aufs Wesentliche zu lenken, klatschte Rei lachend in die Hände. „Genau, und deshalb ist deine Aufmachung für mich absolut inakzeptabel. Zugegeben" Die Hand ans Kinn gelegt, musterte er Max von Kopf bis Fuß, „schwarz steht dir … doch es passt nicht zu deinem aufgeweckten Charakter. Und außerdem bringt es diesen süßen Körper überhauptnicht zur Geltung!"
Mit diesen Worten warf er den perplexen Max rücklings um und zog ohne zu zögern sein T-Shirt hoch.
„REI! WAS MACHST –", rief Takao entsetzt – doch jedes weitere Wort blieb ihm im Halse stecken. Kai hob zur Abwechslung die andere Augenbraue und Rei drückte Max mit der Hand zu Boden, um seinen Bauch besser betrachten zu können.
„Au, au, au …", jammerte dieser und schlug sich die Hände vors Gesicht.
Wie er schon vermutet hatte, war seine Flanke dank Daichi mit Hämatomen übersät, waren sie auch nicht so stark, wie die plötzliche Stille vermuten ließ.
„Das war gestern noch nicht da", brach Kai die Stille und Takao hielt die Luft an.
„Was hast du mit ihm getrieben, Kai!"
„Gar nichts hat er mit ihm getrieben!", kam Rei dazwischen.
„Woher hat er dann diese blauen Flecken!"
„Keine Ahnung – Selbstverstümmelung?"
„Kendo.", warf Kai ein.
„So ein Unsinn!"
„Jungs, darf ich mich wieder aufsetzen?", meldete sich Max zu Wort. Rei packte seine Schultern und half ihm auf. „Es war nur Daichi – er hat mich eine ästhetische Sollbruchstelle genannt", winkte Max ab, „wir hatten nur eine kleine Auseinandersetzung, halb so schlimm – und ich spüre auch kaum etwas – AUA!"
„Rei, hör gefälligst auf ihn zu kitzeln!", regte sich Takao auf.
„Ich wollte ihm nur die Lügen austreiben.", verteidigte sich Rei mit Engelsmiene. „Max, sag bloß, du bist jetzt auch mit Daichi auf dem Kriegsfuß?"
„Wieso ‚auch'?"
„Na ja, wir hatten da so eine Szene … und seither hasst er mich" Rei zuckte mit den Schultern.
„Was für eine Szene?"
„Haben wir nicht alle unsere Geheimnise?"
Max verging das Lächeln, als der Chinese ihn keck anzwinkerte und ihm einen Klaps auf die Schulter gab. „Wir könnten einen Kompromiss eingehen! Du wirst unsere neue Kleiderpuppe und ich erzähle dir, warum Daichi mich hasst."
„Ich hab wohl keine Wahl, was?" Max begann wieder zu grinsen.
„Nicht wirklich!"
„Das wird sicher ein Heidenspaß! Da bin ich dabei."
„Und was ist mit Daichi?"
„Das kann ich erklären", sagte Takao. Zornig stieß er die Faust in die Hand und sprang auf. „Wenn der nach Hause kommt, verarbeite ich ihn zu Hackfleisch! Wie kann er es nur wagen, wo ich ihm doch gesagt habe, er solle dich in Ruhe lassen!"
„Komm wieder runter, Takao" Max Hand vollzog eine Bewegung, die aussah, als wollte er den Japaner am T-Shirt herunterziehen, doch auf halbem Weg überlegte er es sich anders und seine Wangen färbten sich hochrot, ohne zu merken, dass Rei ihn schmunzelnd beobachtete, bevor er ebenfalls aufstand.
„Lass mich raten: Daichi fühlt sich von Max verraten, weil dieser damals die Idee hatte, mit dem Bladen aufzuhören!"
Takao sah ihn großäugig an. „Woher weißt du das?"
„Kombinationsgabe." Kai nippte an seinem Tee.
„Ich kenne keinen Menschen, der sich jemals nicht mit Max verstanden haben könnte … vom großen, bösen Rick mal abgesehen."
Max wurde bleich, oder viel mehr, aschfahl. Es war ein Vorgang von Sekunden: die Röte, die sich angestaut hatte, sackte mit dem entweichenden Blut aus seinem Gesicht. Teilnahmslos starrte er vor sich hin. Nur Kai betrachtete ihn kurz, dann seufzte er lautlos und schloss die Augen. Er hasste Stress.
„Auch Daichi und Max haben sich doch immer gut verstanden, und seit Max uns damals die Augen geöffnet hat, meint unser kleines Hormonbündel, es müsse Max auf Teufel komm' raus bekriegen.
Das wissen wir schon lange, Takao", grinste Rei, „spätestens seit du den ersten Brief an Max zur Post gebracht hast, von dem Daichi wusste. Es war kaum zu übersehen, wie er im Dreieck gesprungen ist. Ich kann nur sagen …" Seine Stimme senkte sich herab und mit vorgehaltener Hand flüsterte er Takao zu: „Max braucht einen Bodyguard!"
Kais Mundwinkel zuckten – es sah ganz so aus wie der Anflug eines Lächelns.
„Einen Bodyguard?"
„Ja!"
„Wo krieg' ich den denn her?"
„Wo du …" Rei starrte ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sein Blick wanderte zu Kai, der beide Augenbrauen gehoben hatte.
„Wir müssen noch Stoffe kaufen.", sagte er und Max erwachte jäh aus seiner Trance.
„Ja", krächzte Rei, grün im Gesicht vor lauter Verbortheit, „hätt' ich fast vergessen."
Die Wolkendecke hatte sich verdichtet, nicht anders als die zum Zerreißen gespannte Luft. Kai hielt sogleich den Finger in die Luft, kaum waren sie aus dem Dojo herausgetreten, und atmete tief durch.
„Ich gebe uns noch eine halbe Stunde bis zum Wolkenbruch."
„Danke für diese erheiternde Diagnose, Kai", murrte Rei und wie zur Bestätigung Kais rumpelte donnerndes Getöse durch den Himmel. „Max, lass dich weder von Takao noch von Daichi ärgern, alles klar?"
„Ja!", strahlte der Blondschopf.
„Was soll das denn heißen!"
„Nicht so wichtig, Takao. Eines noch."
Kai lehnte bereits unter dem Tor zur Straße und betrachtete die Wolken.
„Wir haben beschlossen, dich nicht weiter wegen des Päckchens zu nerven. Uns ist dein Geheimnis nicht egal, weil auch du uns nicht egal bist, und wenn du irgendwann dazu bereit bist, uns einzuweihen, zögere nicht, auch wenn es mitten in der Nacht ist. Hauptsache du tust es von allein. Trotz allem habe ich eine Bitte an dich." Rei legte beide Hände auf die Schultern von Max, dessen azurblaue Augen zu ihm aufblicken mussten.
„Du machst mir Angst, Rei!", scherzte er und Rei feixte.
„Werde wieder ganz der alte Max, das ist meine Bitte. Denn du jagst uns noch weit mehr Angst ein, als du dir vorstellen kannst!"
„Schön gesagt, Rei, können wir jetzt gehen?", ertönte Kais Stimme hinter ihm. Sie verabschiedeten sich und verschwanden kurz darauf hinter der Mauer, die den Dojo umgab. Unschlüssig standen Max und Takao nebeneinander, kaum fähig einander anzusehen, bis letzter die rettende Idee hatte.
„Irgendwie habe ich einen Bärenhunger. Du auch?"
„Das ist gar kein Ausdruck!"
Sie drehten sich gleichzeitig herum – dabei berührten sich ganz zufällig ihre Hände, doch der Zufall war genug, um sie wie vom Blitz getroffen mit einem verzweifelten „Tut mir leid!" auseinander springen zu lassen.
Eine Straßenecke weiter legte Kai Rei die Hand um die Hüfte. „Wie hat er ihn genannt? Eine ästhetische Sollbruchstelle?"
Rei sah ihn an – und brach urplötzlich in schallendes Gelächter aus.
Es waren die Götter, die Daichi für seinen Wutausbruch am Morgen bestraften.
Im Tumult der Schülerschaft setzte er gerade einen Fuß aus der High School, als die Wolken unter der schweren Last brachen und ein wütendes Regenmeer gen Erde schickten. Sturmböen rasten durch die Straßen, untermalt von knallendem Donner und es dauerte keine zwei Minuten, da war er bis auf die Haut durchnässt. Einen Regenschirm hatte er selbstredend nicht mitgenommen, obwohl die schwüle Luft nur so nach Gewitter gestunken hatte.
In der Straßenbahn große Pfützen triefend, begann er zu nießen und zu frösteln. Eine künstliche Dämmerung lag über Tokyo, die Straßenbeleuchtung war eingeschaltet worden und in langen Staus fanden ohrenbetäubende Hupkonzerte statt. Es war der 22. September und in Japan kündigte sich der Herbst mit Trompeten und Posaunen an.
Als die Straßenbahn an einer vierspurigen, verstopften Straße in seine persönlichen Endhaltestelle rollte, begann sein Handy plötzlich Hikaru Utada zu singen. Er hüpfte aus dem Wagon, jagte über einen Zebrastreifen, stelle sich in einen Hauseingang und hob außer Atem ab.
„He?"
„Nette Begrüßung!", flötete eine zuckersüße Stimme in sein Ohr und die Kälte löste sich in wildes Herzklopfen auf.
„Ming-ming!"
„Ich hoffe, du kommst heute zum Training?"
Daichi hielt sich das andere Ohr zu, um sie trotz Hupen, Windbrausen und Regenschmettern verstehen zu können. „Worauf du Gift nehmen kannst!"
„Gut! Ich habe Neuigkeiten, bei denen es dich vom Hocker hauen wird – vorausgesetzt, du setzt dich vorher hin, was ich dir dringend empfehle!"
„Was denn für Neuigkeiten!"
„Hoffe das Beste und erwarte das Schlimmste! Es ist einfach umwerfend", frohlockte das Mädchen. „Treffen wir uns im Park? Trotz des Regens?"
Daichi spähte auf seine Armbanduhr. Fünfzehn Uhr … unwahrscheinlich, dass sich der Himmel heute noch aufklären würde. Unfreiwillig musste er an Max denken. „Das Trainingscenter hat Montags geschlossen, nicht wahr? Komm doch in den Dojo!"
„Ist das eine Einladung?"
„Was? Wofür denn?"
„Vergiss es, Daichi … ich bin in einer Stunde da, ja? Lauf nicht weg! Bis dann!"
Daichi verstaute das Handy in seiner Hosentasche, zog sich den Blaser über den Kopf und trat aus dem Hauseingang. Der Regen hatte kein Stück nachgelassen.
Er wollte sich gerade eilig auf den endgültigen Heimweg machen, als sein Blick an zwei wohlbekannte Mänteln hängen blieb: knielangen Mänteln aus aneinander genähten Polyesterdreiecken und -rechtecken in grün, rot, weiß und schwarz und mit großem, japanischem Zeitungsaufdruck auf der Bauchseite. Eine unverwechselbare Kreation von Kai und Rei.
Das Paar stieg gerade in die Straßenbahn; offenbar befanden sie sich ebenfalls auf dem Nachhauseweg. Doch warum waren sie in diesem Stadtteil? Kamen sie vom Dojo?
War Takao vielleicht schon aus dem Krankenhaus zurück?
Nichtsahnend drehte er sich herum und tat genau drei Schritte … dann hielt er wieder inne. Und runzelte die Stirn.
Ebenfalls in einen langen Mantel gehüllt, der jedoch gänzlich von schwarzer Farbe war, stand nicht weit von der Haltestelle ein Rotschopf. Seine rechte Hand steckte in der Jackentasche, mit der anderen hielt er einen Zigarettenstummel, an dem er genüßlich zog. Stechende Augen waren auf die Straßenbahn gerichtet, deren Türen sich soeben schlossen; ein unheimlicher Anblick, wie er dort stand und starrte, bewegungslos und zugleich wie eine tickende Bombe. Daichi erkannte die schlacksige, große Gestalt des Mannes sofort.
„Yuriy", murmelte er verblüfft. Doch die finstere Aura, die den Russen umgab, ließ ihn zögern, bis Daichi einen Rückzieher machte und in die entgegengesetzte Richtung ging.
Dann musste er eben einen Umweg machen.
„Der Himmel weint heute aber ganz schön heftig. Fast wie zur Regenzeit …" Max wirkte mehr begeistert denn traurig, als er dies sagte, den Blick auf das Fenster gerichtet, hinter dem es donnerte, blitzte und wie aus Kübel goss.
Takao hatte ihm ein Futonbett neben dem seinen errichtet und einen anstandsmäßigen Abstand von zwei Händen zwischen den Matten gelassen. Als er gerade das Kissen zurechtklopfte, stürmte plötzlich Daichi ins Zimmer.
„Takao!", rief er. „Rate mal, wen ich gerade gesehen habe, darauf kommst du … nie …" Da fiel sein Blick auf Max'; er klappte den Mund zu und ballte die Hände zu Fäusten, schlich rückwärts aus dem Zimmer und ließ die Schiebetür zuknallen.
„DAICHI!", brüllte Takao, ließ ab von dem Kissen und stürmte hinterher, noch ehe Max eingreifen konnte, „DAICHI! KOMM' SOFORT ZURÜCK UND STELL' DICH WIE EIN MANN! DU RATTE!"
Kendomeister oder nicht, ein alter Mann war nun doch etwas anderes als ein junger Hüpfer wie Takao, und Daichis schmerzerfülltem Schrei zufolge hatte er ihn innerhalb weniger Sekunden aufgeholt. Max entschloss, einzuhaken – schließlich wollte er nicht Daichis Tod verantworten müssen –und warf einen letzten seligen Blick aus dem Fenster …
Als Takao gleich darauf wutschnaubend zurückkehrte, fand er Max am Boden kauernd vor. Sein von Wahnsinn gekennzeichneter Blick schaute zu ihm auf und Takao wusste sofort, dass etwas Max panische Angst bereitete.
„Was ist los?", fragte er besorgt und kniete sich zu ihm herab. Max ergriff seine Hand. In seiner leisen Stimme lag ein Flehen.
„Mein Vater ist hier! Ich habe ihn vor dem Dojo gesehen! Er ist gerade gekommen! Takao! Bitte!"
„Ganz ruhig, du zitterst ja total", stellte Takao irritiert fest.
„Takao!", zischte Max noch einmal eindringlich. „Er darf auf gar keinen Fall wissen, dass ich hier bin! Bitte! Dein Großvater –"
„Keine Sorge, Max, ich werde das Kind schon schaukeln. Beruhig dich!" Mit diesen Worten sprang er auf und rannte wieder aus dem Zimmer.
Unruhig blieb Max sitzen und knetete seine Hände. Warum war sein Vater hierhergekommen? Ahnte er etwas? Hatte er ihn gestern gesehen? Nein – ganz sicher nicht. Langsam wurde er ruhiger. Er wollte ganz einfach nur wissen, wie es Takao ging, weil ihm irgendwer gesteckt hatte, dass er bereits wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Ja, so musste es sein.
Und wenn nicht?
Max hielt es nicht mehr aus. Auf leisen Sohlen schlich er Takao hinterher, sich vorsichtig lauschend an der Holzwand des Flures entlang tastend. Vor dem Esszimmer knarrte eine Diele; erschrocken hielt er inne, spitze die Ohren. Stimmen. Sie kamen aus dem Raum schräg gegenüber des Esszimmers, dem Tatamizimmer, durch den man auf die Terrasse und zum Zen-Garten gelangte. Sein Vater musste um das Haus herumgegangen sein, als auf sein Läuten keiner reagier hatte.
Am ganzen Körper bebend sank er in die Hocke und lehnte sich an der Holzwand an.
„… vielen Dank für diese Aufmerksamkeit, Mizuhara-san", sagte Takao gerade fröhlich. „Halb so schlimm alles, eine leichte Gehirnerschütterung. Ich spüre kaum noch etwas."
Max hörte seinen Vater lachen. Dieses erheiterte Lachen – es tat ihm einen Stich ins Herz.
„Na da bin ich aber beruhigt! Gebe das nächste Mal ein wenig mehr Acht. Wie du siehst kann auch auf diesen ruhigen Straßen schnell etwas passieren."
„Worauf sie sich verlassen können, Mizuhara-san! Ich werde ab jetzt beim Telefonieren die Augen offen halten."
„Und auch zu anderen Zeiten!"
Takao lachte verlegen.
„Bevor ich es vergesse. Dies wollte ich noch hier abgeben. Ich bin sicher, dass du etwas damit anfangen kannst."
Ein paar wenige Sekunden lang herrschte Stille.
„Max ist nicht hier", sagte Takao dann – und Max glaubte, ihm bliebe das Herz stehen, als er seinen Namen hörte.
„Ist er nicht? Gut, dann" – und plötzlich wurde seine Stimme ungewöhnlich laut – „sage ihm, sobald er hier auftaucht, dass ich voll und ganz auf seiner Seite stehe und er jederzeit zu mir kommen kann, wenn es ihm danach verlangt!"
Max konnte nichts dagegen tun. Seine Augen begannen zu brennen; hartnäckig kämpfte er gegen die Tränen an, die sich aus seinen Tränensäcken zu winden versuchten.
„Ich werde es ihm ausrichten – sollte ich ihn sehen", entgegnete Takao.
„Vielen Dank. Auf wiedersehen!"
„Danke, dass Sie sich extra den Weg durch den Regen gemacht haben!"
Untermalt von einem leisen Tock schob Takao die Shoji zum Garten zu. Max stand auf – das Gefühl, weinen zu müssen, wich einem pochenden Herzen; er hatte da so eine Ahnung, doch wagte er nicht, daran zu glauben – und Takao kam zurück.
„Takao", sagte Max, als er auf den Flur trat. Takao schrie auf, tat einen Satz und wäre fast gestolpert, hätte ihn Max nicht kurzerhand am Arm gepackt und festgehalten. „Ich bin's nur"
„Erschreck' mich doch nicht so!"
„Tut mir leid!"
„Ist doch egal! Ich hab' hier was für dich … tada!"
Es war wie Weihnachten und Geburtstag zugleich – zumindest in Max' Augen, die zu strahlen begannen, als ihm Takao mit der anderen Hand ein längliches Päckchen entgegen hielt. Fast ehrfürchtig nahm er den Karton entgegen; doch sogleich überfiel ihn wieder Angst. Sein Gesicht verdunkelte sich.
Takao berührte seinen Arm und schenkte ihm ein Lächeln. „Komm. Komm mit", flüsterte er und zog Max hinter sich her.
Die Art, wie Takao die Tür seines Zimmer schloss und mit dem Schlüssel absperrte, hatte etwas Mokantes. Max setzte sich auf sein Bett und legte das verhängnisvolle Päckchen vor sich hin. Er zitterte wie Espenlaub, vor Aufregung und Angst – Angst vor etwas, was Takao herausfinden wollte.
„Ich schlage dir einen Tausch vor", sagte er und ging vor Max in die Hocke. Dieser war zu mehr als einem Nicken nicht fähig. „Aber du musst ganz ehrlich sein, ob du es möchtest."
Max sah auf, blau traf auf braun, tief sahen sie einander in die Augen, bis Takao den nötigen Mut gesammelt hatte und langsam sagte:
„Mein Geheimnis, gegen dein Geheimnis."
Max' Hände legten sich auf das Päckchen. Wild pumte sein Herz das Blut durch die Arterien und ihn überkam ein Hauch von Wohlbefinden.
„Leg' ab, was dich so fertig macht, Max!", fuhr Takao nachdrücklich fort. „Teile es mit mir! Werde wieder der Alte! … Bitte!"
Zaudernd fuhr sich Max mit der linken Hand über die Stirn. Welch verlockendes Angebot ihm Takao da machte …
Er nickte. „Zeig' mir dein Geheimnis, Takao."
Und wie er es erwartet hatte, lief der andere zu dem Bücherregal und zog das verschlossene der beiden handgebundenen Bücher heraus. Max überkam ein schlechtes Gewissen ob seiner Dreistheit, mit der er vergangene Nacht sein Herbarium durchblättert hatte.
Im Schneidersitz ließ sich Takao vor ihm auf der Tatamimatte nieder und legte das schwere Buch mit dem Lederumschlag behutsam neben das Päckchen. Mit angehaltenem Atem sahen sie einander an … und für einen einzigen Atemzug schien die Zeit zwischen ihnen stehen zu bleiben.
