Autor: OgaShi
Kapitel: 7 von ?
Disclaimer: Tief in unseren Herzen wissen wir doch alle insgeheim, dass Beyblade den Fans gehört. v.v Nur leider haben meine immer wiederkehrenden Besuche bei der Bank endgültig bestätigt, dass ich auch damit kein Geld verdiene.
Kapitel Sieben
Eine schöne Frau schminkt sich nicht
Mitte Dezember begruben bereits die ersten Schneeflocken Tokyo unter einer samtweichen Decke aus reinem, strahlendem Weiß. In den Schaufenstern funkelte die östliche Weihnachtsdekoration, Plakate verwiesen auf Tempelneujahrsfeste und eine eisige Kältewelle, die im krassen Kontrast zu den vergangenen, sengend heißen Sommermonaten stand, rollte über die Stadt hinweg. Heiße Sakebecher und rotfleischige Süßkartoffeln gingen in Massen über die Ladentische der kleinen Holzbuden, die sich in den engen Gassen und Fußgängerpassagen tummelten, und auf den mehrspurigen Straßen war die buchstäbliche Hölle los: Glätte und Schneegestöber sorgten für kilometerlange Staus hinter bösartigen Unfällen, Züge fielen aus und in den Straßenbahnen standen die Fahrgäste wie Sardinen dicht an dicht.
Es war an einem Sonntag, als Hiromi mit dem Morgenreif in Chiba auf den Plan trat und die zwei Modedesignnachwüchse aus dem Bett klingelte, einen Korb duftender, warmer Teigbälle auf dem Arm. Und es war Rei, der ihr öffnete und sie auf ihren Guten-Morgen-Gruß mit einem Grinsen bedachte: es konnte kaum offensichtlicher sein, dass die junge Frau ihre Hilfe in Anspruch nehmen wollte, denn den langen Weg von Tokyo nach Chiba – den hatte sie sicher nicht auf sich genommen, um ihnen das Frühstück zu bringen.
Er bat sie herein, ging ins Schlafzimmer und schnappte sich auf dem Weg Kais Morgenmantel. „Aufstehen", sagte er, zog seinem verschlafenen Freund die Decke weg und warf ihm den Mantel hin, „es gibt Ärger."
Kai grummelte in sich hinein, was stark nach „Ich bring' sie um" klang und kapitulierte, als Rei die Jalousien hochzog und den Winter herein ließ, in dem er das Fenster öffnete.
Dass Hiromi eine Frau war, merkten sie spätestens daran, dass sie sich bereits in ihrer Küche zurechtgefunden hatte und den Tee kochte, bevor sie selbst wieder aus dem Badezimmer geschlüpft waren.
„Was ist das da", fragte Kai missmutig und nahm eines der bräunlichen, länglichen Teigbällchen in die Hand, die sie in einer Obstschale ausgebreitet hatte.
„Das ist kleines Brot. Nein, Brot-chan." Sie stockte und versuchte es noch einmal: „Brot-Brotchen – ist ja auch egal. Ich habe mir gestern auf dem Europafestival in Tokyo das Rezept geben lassen und mir gedacht, ich könnte euch welche vorbeibringen – wer weiß, was ihr täglich esst, zwei Männer in einem Haushalt, das kann doch nicht gut gehen."
Kai starrte sie an, als habe sie ihm einen Heiratsantrag gemacht. Sein entgeisterter Blick wanderte vorwurfsvoll zu Rei, der empört nach Luft schnappte. „Ich koche immer. Und ich kann kochen!", protestierte er.
„Das stimmt." Zum ersten Mal schien Kai diesbezüglich seiner Meinung zu sein. Hiromi aber verdrehte die Augen, winkte ab und tischte auf dem Esstisch auf, als sei sie zuhause.
Kai und Rei, die normalerweise auf das Frühstück verzichteten, setzten sich etwas widerwillig und ließen sich von ihr zeigen, wie man „Brotchen" aß, kämpften mit den Plastikbrotmessern, die sie mitgebracht hatten und tranken Pfefferminztee. Schnell fiel ihnen auf, wie die Tasse in Hiromis sonst so ruhigen Händen zitterte, dass ihr Lachen ungewohnt schrill und gestelzt klang und sie immerzu mit einem leisen Touch von Hysterie mit ihnen sprach. Über ihre Beobachtungen hinwegschweigend ließen sie ihren unverhofften Besuch über sich ergehen, sprachen über Daichis herannahenden, sechzehnten Geburtstag und darüber, dass sie selbst mit sechzehn das Bladen aufgegeben hatten, über Max' plötzliches Auftauchen vor einigen Monaten und der Tatsache, dass sowohl Hiromis Gastronomiestudium, als auch Kais und Reis Modedesignstudium in die letzte Semesterrunde gegangen war.
„Wie lange studiert Takao eigentlich noch?", fragte Rei. Kai konnte beobachten, wie Hiromi um ein Haar ihre Teeschale fallen ließ.
„Vorsicht", murmelte er.
„Apropos Takao", entgegnete das Mädchen cholerisch, „habt ihr euch eigentlich noch nie darüber Gedanken gemacht, was für ein Managementstudium Takao eigentlich macht? Überhaupt – Takao und Management? Ich meine, gut, ihr und Modedesign – da haben wir auch alle ziemlich komisch aus der Wäsche geguckt –, aber das kann ich mir bei unserem Takao gar nicht vorstellen, ihr etwa? Was will er denn managen?"
Rei, der Wasabi-Paste aus der Tube auf die Brötchenoberseite schmierte („Ich mag es scharf", rechtfertigte er sich auf Hiromis entgeisterten Blick), zuckte mit den Schultern. „In Kombination mit einem Betriebswirtschaftsstudium kann so was durchaus gehen, ist nicht einmal so selten. Und soweit ich weiß, geht das Studium auch drei Jahre, also dürfte Takao ebenfalls dieses Jahr fertig werden. Oder, Kai?"
„Hn.", war die intelligente Antwort.
„Aber Takao", beharrte Hiromi und Rei lachte.
„Nachdem wir das Bladen aufgegeben hatten, hat eine Überraschung die andere gejagt, deshalb finde ich deine Frage etwas seltsam, schließlich müsste das auch dir aufgefallen sein", sagte er, „wir haben uns nämlich auch gefragt: Hiromi und Gastronomie? Dann kam plötzlich das mit deinen Eltern und dem Café heraus. Das wussten wir vorher auch nicht! Und wenn es Takao Spaß macht, dann lass ihn doch! Ich glaube, dich beschäftigt etwas ganz anderes. Und deshalb bist du hier."
Es war heraus. Hiromi ließ ihre Brötchenhälfte sinken und schrumpfte unter den erwartungsvollen Blicken Kais und Reis um mehrere Zentimeter.
„N-na ja", lachte sie verlegen und suchte auf ihrem Teller nach einem Krümel, den sie fixieren konnte. Rei ließ ab von seinem Frühstück; beinahe synchron verschränkten er und Kai die Arme.
„Na ja?", fragte Kai nochmals nach – und dann platzte es aus Hiromi heraus. Ohne Punkt und Komma der japanischen Orthografie zu beachten, überschwemmte sie das Paar mit all ihren Sorgen und Gedanken, gestikulierte wild mit den Händen, legte sie sich aufs Herz und fuhr sich durchs Haar, überschlug die Beine nach rechts und nach links, stocherte in den Brötchenkrümeln herum und machte mehrmals Anstalten, einen Schluck von ihrem Tee zu nehmen – bis sie jäh stockte und den Kopf sinken ließ.
Grüblerische Stille kehrte ein.
Minuten später ergriff Rei das Wort. „Selbst ein Weg von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt. Bei diesem Schritt können wir dir helfen. Allerdings nur aus reiner Solidarität und nicht weil …" Sein Blick traf sich mit dem Kais. Es sah nicht so aus, als hätte er großartig Lust – doch es gab da noch etwas anderes, was seinen Ablehnung verhinderte. Er dachte dasselbe wie Rei. „Bei den anderen Schritten wollen wir dir nicht helfen."
Hiromi nickte zitternd. „Danke. Ich möchte euch keine Umstände bereiten, aber es liegt mir wirklich sehr am Herzen."
„Keine Umstände bereiten?", wiederholte Kai düster. Dann konnte sie doch gleich wieder gehen! Rei aber winkte ab, dachte kurz nach und richtete sich anschließend in seinem Stuhl auf.
„Okay", nickte er Hiromi zu, „ich mache dir einen Vorschlag und du kannst ihn annehmen oder ablehnen. Und das nächste Mal kommst du bitte gleich zur Sache … und hältst dich nicht mit kleinem Brot auf."
Donnerstag, 17. Dezember 2009
In den Universitäten lief das Wintersemester auf Hochtouren, so auch im Bunka Fashion College, das Kai und Rei bereits im dritten Jahr besuchten. Das Bunka Fashion College bot eine Reihe von Abteilungen an, in denen von den allgemeinen Grundlagen des Modedesigns, über die Technik der Stoffproduktion, bis hin zum Verkauf alles gelehrt wurde, was das modesüchtige Herz begehrte; allem voraus aber galt es als die renommierteste Modeuniversität ganz Japans, und Kai und Rei machten keinen Hehl daraus, dass sie Stolz darauf waren, sich Studenten dieser Uni nennen zu dürfen. Aus diesem Grund hatten sie das ursprünglich auf zwei Jahre angelegte Designstudium in der Allgemeinen Modeabteilung um ein weiteres Jahr verlängert, in dem sie sich für das erweiterte Studium angemeldet hatten: einem Advanced Program, in dem sie ihre eigene Haute Couture in vollen Zügen genießen durften.
Nicht wenige Studenten nutzten an den Nachmittagen die Lehrsäle, welche an den Vormittagen brechend voll waren, um neue Techniken und Ideen an den Schneiderpuppen auszuprobieren; doch nur Kai und Rei kamen in den Genuss eines eigenen Saales, der ihnen von einer Dozentin namens Watanabe überantwortet worden war, einer älteren, modeverrückten Dame, die in ihnen „die Zukunft der Modewelt" sah und „ihre Kreativität nicht von minder fähigen Studenten stören lassen wollte".
Das kam ihnen nur recht. So hatten sie Max unbemerkt in ihren Saal schmuggeln können, ohne jene „minder fähige Studenten" von ihrer genialen Idee, die kreativen Stücke ans lebenden Objekt zu schneidern, Wind bekommen lassen zu müssen.
Die Auswahl an Schneideraccessoires im Bunka Fashion College war enorm und das reinste Paradies für jeden Modedesigner. In der Stoffkammer ließ sich so ziemlich jede Art von Stoff und Muster finden, von den Massen an Knöpfen, Nähgarn, Büchern, Schnittmustern und hochmodernen Nähmaschinen ganz zu schweigen – mit anderen Worten: das Material passte sich ganz den Studienkosten an, die so hoch waren, dass Kai und Rei niemals ein Wort darüber verloren, weil es in den Augen jedes anderen die reinste Sünde sein musste.
„Du bist ab heute unsere Kleiderpuppe", frohlockte Rei mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, als er Max in den großen Lehrsaal bugsierte.
Kai ging hinter ihnen, so dass Max sein Feixen nicht sehen konnte. „Eine organische Kleiderpuppe", ergänzte er und schloss geräuschvoll die Tür.
„Na dann, los geht's" Rei klatschte voller Tatendrang in die Hände, öffnete eine Schranktür und holte eine High-Tech-PFAFF-Nähmaschine heraus, „Kai und ich werden gleich einen Blick in die Stoffkammer werfen. Worauf wartest du noch, Max? Zieh' dich aus!"
Max löste seinen begeisterten Blick von den vielen, weißen Kleiderpuppen, die er ob ihrer fehlenden Köpfe bemitleidete, drehte sich Kai und Rei zu und lachte: „Das soll ja wohl ein Witz sein!"
Kais Augenbraue zuckte und Rei seufzte tief. „Max, wir kennen uns jetzt schon seit siebeneinhalb Jahren – wenn ich Bock darauf habe, dich zu ficken, sag' ich dir vorher Bescheid, verlass' dich drauf!"
Damit schlüpfte er mit Kai aus dem Saal und ließ einen knallroten Max zurück, der sich mit Hundeblick an seinem aprikosenfarbenen Sweatshirt festklammerte.
Zwanzig Minuten später saß er, lediglich noch in eine Unterhose gekleidet, auf einem der Tische und ließ die Füße baumeln. Das unermüdliche, ruhige Fallen des Schnees vor den hohen Fenstern beruhigte ihn ungemein; selig vor sich hinlächelnd und in Gedanken versunken, bekam er erst mit, dass Kai und Rei wieder im Raum waren, als er ein lautes Rumpeln vernahm.
Kai lud vier Baumwollstoffballen in azurblau, blassrosa, schneeweiß und hellorange auf einen der vorderen Tische und Rei packte ein Dutzend Coladosen daneben. „Nervennahrung", nannte er es und öffnete die erste Dose zischend. Max bewegte sich nicht vom Platz, interessiert Kai und Rei bei ihren Vorbereitungen beobachtend: ein CD-Player wurde ans Netz gekoppelt, Theatre of Tragedy aufgelegt, Skizzen ausgebreitet, Tische und Kleiderpuppen zur Seite geschoben, mit Schere, Klammern und Kreide bewaffnete Gürtel umgebunden und Nadelkissen um Unterarme gespannt. Kai und Rei legten ihre Handys nebeneinander aufs Pult und gönnten sich eine kleine Pause, um an ihrer Coke zu nippen.
Schließlich griff Kai zu einem Notizblock und hievte sich auf das Pult. Rei straffte das Messband.
„Einmal Halsweite, Schulterbreite, Rückenlänge, Ärmellänge und Oberarmweite, bitte", sagte er und legte los.
Kai notierte jeden der von Rei genannten Werte sorgfältig auf seinem Block – dabei fiel Max auf, dass er hin und wieder zwei oder drei Zentimeter dazu addierte – und als diese vollständig waren, hieß es für Max zu warten. Auf einem großen, ausgebreiteten Papierbogen errechneten und erstellten sie in Windeseile mithilfe von speziellen Linealen und Schablonen ein Schnittmuster, welches sie an sämtlichen Stellen mit kleinen Notizen versahen, die in Max' Augen wie Runen aussahen; Bonbons lutschend, Cola trinkend und fröstelnd beobachtete er fasziniert, wie sie die unterschiedlichen Schnittmuster mit treffsicherer Schnelligkeit ausschnitten und auf einen weichen, rosa-weiß karierten Baumwollstoff übertrugen. Nach einer Stunden konzentrierten Zuschauens hüllte sich Max der Kälte wegen in Reis neu geschneiderten Wintermantel – allerdings hätte es auch Kais Mantel sein können, schließlich unterschieden sich die Stücke der beiden wieder einmal nicht im Geringsten, er fragte sich, ob Kai und Rei selbst ihre Mäntel auseinander halten konnten – und gähnte einmal ausgelassen. Rei aber ließ ihm keine Ruhe: mit Stecknadeln montierte er die ausgeschnittenen Stoffteile an seinen nackten Oberkörper und heizte ihm wieder mächtig auf, indem er mit den Worten „Ist er eigentlich gewachsen?" Max' Boxershorts am Hosenbund aufschnappen ließ, um einen Blick hinein zu werfen, und als einen Antwort ein Lachen und einen deftigen Tritt in den Hintern erntete.
Unterdessen entwarf Kai einen einfachen, weißen Kragen, verbesserte hier und da etwas an Reis Entwurf und nähte anschließend die verschiedene Teile mit verblüffender Sorgfalt auf der Nähmaschine aneinander.
Diese ganze Arbeit des Schaffens ging bei ihnen so selbstverständlich Hand in Hand, dass Max nichts als staunen konnte.
„Voilà." Rei trat zwei Schritte zurück, um Max besser betrachten zu können. Er fasste sich ans Kinn, was ihn für einen kurzen Moment wie einen wahren Modedesigner wirken ließ, und sagte nach kritischer Begutachtung: „Blond, blauäugig, blass – was passt da besser als ein zartes Rosé?"
„Parfait.", bestätigte Kai nickend.
Max biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen. Und nicht nur über die zwei Modedesigner-in-spe, die sich an seinem Anblick erfreuten – in Kais Fall ein extrem seltsamer Anblick, wie er ihn dort mit muskulösen, verschränkten Armen und einer Zeichnung in der rechten Hand von Kopf bis Fuß musterte –, sondern auch über die Tatsache, dass sie recht hatten, wollte er lachen: diese Kreation gefiel ihm, das konnte er nicht leugnen.
Das Ergebnis einer anderthalbstündigen Arbeit ließ sich sehen: zwar war das Hemd längst nicht fertig, Taschen und Knöpfe fehlten und die Säume mussten noch umgeschlagen werden, doch es war genug vorhanden, um zu zeigen, dass Max in diesem Hemd schlicht und ergreifend gut aussah.
„Dazu eine weiße Hose!"
„Nicht zu eng."
„Genau, das muss diesen … Raverlook haben!"
„Oh nein! Mit hängendem Hosenboden!", warf Max grinsend ein.
„Auf gar keinen Fall! Aber etwas schlabberig muss es schon sein."
Der Blondschopf kicherte. „Schlabberig?"
„Hättest du lieber etwas Engeres, damit man deinen süßen Hintern sehen kann, Maxi?"
„Nein!"
„Das würde dir auch gar nicht stehen"
Rei gähnte und gab Kai einen Klaps auf die Schulter. „Für heute haben wir unsere genialen Hirne genug angestrengt. Wir nähen das Teil heute Abend zuhause fertig, einverstanden?"
Max nickte und Kai begann stillschweigend die Nähmaschine abzubauen. Zu beschäftigt damit, sich zu fragen, wie er aus dem provisorischen Hemd wieder herauskam, ohne es kaputt zu machen, bekam Max nichts mit von den vielsagenden Blicken, die sich die beiden zuwarfen; es waren verschwörerische, ungeduldige, fragende Blicke.
„Wo bleibt er?", zischte Rei Kai zu und dieser zuckte ratlos mit den Schultern. Der Chinese seufzte und trat an Max heran. „Dann will ich dich mal befreien", sagte er und begann, die Stecknadeln aus der noch nicht vorhandenen Knopfleiste zu ziehen. „Als nächstes probieren wir dann ein passendes Sweatshirt mit Reißverschluss aus, dass du dir um die Hüfte binden kannst. So, wie du es damals auch getragen hast. Am besten nehmen wir dafür ein helles Weiß und eine Farbe, die zum Rosa im Kontrast steht … Damit wirst du deine erste vollständige KaRe-Kollektion haben."
„KaRe-Kollektion?" Max machte große Augen.
„Jap", entgegnete Rei stolz und zwinkerte, „wir sind bereits mit Elan dabei, unsere Stücke unter das Volk zu bringen. Wir haben sogar schon unsere eigenen Etiketten, wie du sehen wirst! Willst du berühmt werden, fange im Freundeskreis an."
„Hiromi hat auch schon eine Kombination", fügte Kai hinzu, wobei er den Namen des Mädchens besonders betonte. Rei blickte einen kurzen Augenblick ernst und nachdenklich drein – und zum ersten Mal wurde Max bewusst, dass sich das Paar eigenartig benahm.
Takao schüttelte den Schnee von seiner Jacke, als er das Café betrat. Seine von der Eiseskälte angegriffene Haut empfing die Wärme mit einem stechenden Kribbeln und seine Nase begann fast unmittelbar zu laufen; er verstaute den MP3-Player, der ihm tagtäglich durch den Verkehrstumult half, in seinem durchnässten Rucksack, fummelte ein Taschentuch aus der Jackentasche und nahm das Café in Augenschein, während er sich so unauffällig wie möglich die Nase putzte.
Der Raum hatte die Form eines großen, kreisförmigen Plateaus. Vor den in Glas aufgelösten Wänden, auf denen in roten, verblassenden Klebelettern der Name Cappuccino zu lesen war, standen barocke Stuhlgruppen um Glastische herum. Das Cappuccino war eine kleine Abstiegsmöglichkeit für Leute, die auf einen Bus oder eine Straßenbahn warteten, und nicht sonderlich gut besucht, trotz der gemütlichen Atmosphäre, die kleinwüchsige Palmen und Ficusbäume, Holzvertäfelungen im Innenbereich und der schmeichelnde Duft von Zimt und Mandeln vermittelten.
„Hier drüben, du Maulwurf!", vernahm er Hiromis energische Stimme von der Theke. Takao zwinkerte ein paar Mal – es schien ganz so, als hatte die Kälte selbst seine Augäpfeln erfrieren lassen –, ehe er Hiromi entdeckte und zu ihr herüber marschierte, eine kleine Pfütze zurück lassend.
„Bevor du etwa sagst", kam er ihr zuvor, „ich meine, noch etwas sagst – ein Blick nach draußen und du weißt, warum ich zu spät bin. Sind die anderen noch nicht da?"
„Schon gut", entgegnete die junge Frau abwinkend, „du hättest den Lesesaal in der Uni heute sehen sollen! Anstatt mit beeilen zu müssen, um noch einen Platz zu bekommen, wusste ich heute nicht, wo ich mich hinsetzen sollte"
Takao zog die Augenbrauen herunter und blickte sie verständnislos an.
„Das heißt, es war fast keiner da! Meine Güte" Sie seufzte und stand auf, um ihm einen Tee zu kochen.
„Wieso war keiner da?", fragte Takao, doch Hiromi ging nicht mehr auf ihn ein.
„Rooibos, Grün, Karamell?"
„Mandel und Zimt"
„Kommt sofort."
Takao hatte sich aus seiner Jacke geschält, auf welcher der Schnee zu Wasser geworden war und den Kordstoff durchtränkt hatte, und hängte sie auf den leeren Garderobenständer, der neben einer Drachenpalme stand. Das Cappuccino gehörte Hiromis Eltern; es war der in Erfüllung gegangene und dann geplatzte Traum eines Paars, das auf der Uni zueinander gefunden und sich geschworen hatte, einen Familienbetrieb zu erschaffen, den sie irgendwann auf ihre Tochter würden übertragen können. Leider sah ein Blinder mit Krückstock, dass das kleine Café bereits seinem Lebensabend entgegen ging und es zu einer Erbschaft niemals würde kommen können.
Grund für die ausbleibenden Besucherscharen war der Trotz, mit dem Hiromis Familie der steifen, japanischen Zivilisation gegenüber traten: anstatt östliche Traditionen zu verfolgen, hatten sie ihrem kleinen Traum einen westlichen Touch verpasst. Dass Hot Dogs und Kartoffelsuppe nur gelegentlich beim biederen Japaner ankamen, damit hatten sie nicht gerechnet.
„Ein Imagewechsel wäre unsere Rettung", sagte Hiromi auch heute wieder, als er sich schweigend auf einen Hocker vor dem Tresen setzte, „doch meine Eltern sind auf ihre anarchistische Ideologie noch versteifter, als das japanische Volk auf die Hierarchie im Büro. Das ist, als wolltest du einem erfolgreichen Ingenieur einreden, er solle der City Lebewohl sagen und eine Kuhfarm auf dem Lande betreiben."
„Vielleicht solltest du ein Schild an die Tür hängen, auf dem steht, dass der dreimalige Weltmeister von 2005 regelmäßig hier her kommt!", schlug Takao enthusiastisch vor.
„Du Torfnase", entgegnete Hiromi gereizt, „wir wollen hier nicht auf kreiselverrückte Kids aufpassen, sondern Gäste bedienen! Außerdem hast du vergessen, dass dich die Behörden wegen der Verwüstung der Innenstadt bei besagter WM noch jetzt auf dem Kieker haben."
Takao zuckte zusammen, als habe er einen Schlag in die Magengrube erlitten. „Sag das nicht so! Es war nicht nur meine Schuld!"
„Schuld oder nicht schuld, Takao, ist völlig irrelevant! Die meisten Leute wissen heute noch nicht, wie das damals passiert ist. Was zwar der einzige Grund dafür ist, dass dich die Behörden noch nicht haben einbuchten können – aber mach' dir keine Gedanken mehr darüber, das gehört der Vergangenheit an. Hier, dein Tee."
„Wenn ich daran denke, wie mich der zuständige Beamte damals angeguckt hat, wird mir gleich wieder ganz anders", entgegnete Takao betreten und legte die frierenden Finger um das heiße Glas, „auch wenn sie es letztendlich auf das Konto eines Taifuns haben gehen lassen, ich bin mir ziemlich sicher, er ahnte etwas. Vielleicht hat er heute noch irgendwo mein Foto hängen und denkt sich: ‚Dich krieg' ich noch, Bürschchen! Irgendwann …'"
„Takao!", unterbrach Hiromi ihn heftig. „Lass uns von etwas anderem reden. Ich möchte nicht für deine Depressionen verantwortlich sein"
„Dafür ist es schon zu spät. Ich hatte die ganze Sache erfolgreich verdrängt, musst du wissen …"
„Wie geht es eigentlich Max? Ich habe schon eine ganze Weile nichts mehr von ihm gehört"
Takaos Kopf ruckte hoch, seine Ohren zuckten und in seinem erbleichten Gesicht ging eine Veränderung vor sich, die Hiromi sichtlich missfiel: er begann zu grinsen, die Depressionen schienen vergessen und Hiromi biss sich reumütig auf die Unterlippe, was dem anderen allerdings nicht auffiel.
„Max ist wieder ganz der alte", erzählte er freudig, „er isst wie ein Scheunendrescher, hackt Holz wie eine Holzhackmaschine und steht Kai und Rei ab heute als Kleiderpuppe zur Verfügung. Und er führt mit zwölf zu elf in unseren Kissenschlachten. Wolltest du das wissen? Jedenfalls, es geht ihm gut!"
„Schön zu wissen", entgegnete Hiromi bissig. Sie drehte sich auf der Barhocker Takao zu und überschlug galant die Beine. „Und? Wann zieht er aus?"
„Ausziehen?" Takao blickte irritiert drein.
„Na ja, Daichi ist doch schon vor vier Jahren plötzlich bei euch eingezogen und wohnt noch immer dort. Ich könnte mir vorstellen, dass sich dein Opa so langsam gestört fühlt, vor allem weil Max eigentlich in der Nähe ein Zuhause hat, wie wir wissen"
Ein lautes Lachen war die Antwort. „Mein Großvater heißt jeden herzlich Willkommen, der fleißiger ist, als ich – das sagt er zumindest immer, aber ich weiß selbst, dass ich nicht faul bin – und im Vergleich zu Daichi ist Max ein wehendes Lüftchen in unserem Haushalt!"
„Und was ist mit Mizuhara-san?"
Takao beruhigte sich wieder und sah leise lächelnd auf seine Teetasse herab. „Tja … darüber wollte Max noch nicht mit mir reden. Aber selbst Rei und Kai waren der Meinung, dass er lieber bei mir bleiben sollte, und da er ja nicht stört …"
„Rei und Kai haben das gesagt?"
„Ja, sie sagten, es sei das Beste für ihn, wie auch immer sie das gemeint haben"
Hiromi nahm einen tiefen Schluck von ihrem Tee und stellte das Glas unnötig laut krachend ab. In ihren haselnussbraunen Augen, die apathisch in die Leere starrten, glomm ein streitsüchtiges Funkeln auf. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe – und erst jetzt fiel Takao etwas auf.
Er beugte sich vor, um ihr besser ins Gesicht blicken zu können, und sah so ihre Lippen, die in einem glänzenden Weinrot heraus stachen, das seine Spuren auf dem Glasrand hinterlassen hatte. Die schönen Augen hatte sie mit einem schwarzen Lidstrich, Maskara und bronzefarbenem Lidschatten betont, auf ihren Wangen zeichneten sich hauchzarte Spuren von Rouge ab und in ihrem Haar steckte eine silberne Schwanenbrosche. Das alles passte perfekt zu der engen Spitzenbluse, welche die bleiche Haut ihres Dekolletés und selbst ihren flachen Busen zur Geltung brachte, und dem Minirock aus Fell, aus dem ihre schlanken, in eine Perlonstrumpfhose gehüllten Beine heraus guckten. Ihre Füße steckten in High Heels, auf die naturgetreue Lilien genäht worden waren.
„Du siehst gut aus", sagte er, „aber dass du dich das mit deinen Hüften traust …"
„Du ARSCH!"
„Aua! Das war doch nur ein Scherz! Du siehst wirklich … umwerfend aus, Hiromi!"
„Erwarte jetzt bloß nicht, dass ich mich bei dir bedanke!"
„Was trägst du da? Das habe ich ja noch nie an dir gesehen – sieht aus, wie ein Entwurf von Rei und Kai!"
„Verrückterweise ist es von Rei und Kai."
„Warum hast du dich so hübsch gemacht? Erwartest du hohen Besuch?"
„Du Idiot", flüsterte Hiromi.
„Hm?"
Hiromi ergriff seine Hand. Ihr selten so schüchtern wirkende Blick hob sich, ihr flacher Oberkörper beugte sich schnell vor – und ehe sich Takao versah, verspürte er ihre weichen Lippen auf den seinen. Zu überrumpelt, um zu reagieren, hielt er die Luft an, bis die flüchtige Konfrontation vorüber war. Langsam richtete sich Hiromi wieder auf. Sie suchte nach einem Zeichen in seinem Gesicht.
Verblüfft blickte er sie an, versunken in Schweigen und ein nicht zu deutendes, drückendes Gefühl in der Brust, das sich mit jedem Herzschlag verstärkte und stetig unerträglicher wurde. In Hiromis Augen spiegelte sich Flehen und Hoffen wider, eine schmerzvolle Mischung der Erleichterung darüber, es endlich hinter sich zu haben, und der Angst gegenüber dem, was folgen würde, ihre Hände verkrampften sich ineinander und gerade da, als sie den Blick in verblassendem Mut niederschlug, streckte Takao die Arme aus, legte die Hände auf ihre Wangen und gab ihr den jungfräulichen Kuss zurück.
Sein Kopf fühlte sich leer an, als er die Augen schloss.
Rei hatte beschlossen, Max zum Dank noch zu einer heißen Süßkartoffel einzuladen. Sie standen an einer Imbissbude, jeder einen Stock mit Kartoffel in der Hand, und redeten über die Macken der Versicherung des Mercedesbesitzers, die sich weigerte, ihnen das Geld für den demolierten Polo auszuzahlen, als plötzlich Reis Handy ein trauriges Klavierstück abspielte. Kai kramte es aus seiner Manteltasche und las den Namen vom Display ab.
„Hiromi", sagte er tonlos und reichte das Handy automatisch an Rei weiter, was ganz offenkundig bewies, dass er die junge Frau nicht sonderlich gut leiden konnte. Der Chinese bedachte Max eines letzten nachdenklichen Blickes, dann entfernte er sich ein paar Schritte und hob ab.
„Moshimoshi, die Dame", grüßte er, „wollen Sie Bericht erstatten?"
Ein langes Schweigen antwortete ihm.
„Hiromi?" Er hielt sich das andere Ohr zu. Vielleicht konnte er sie aufgrund des Lärms nicht verstehen? „Hiromi, was ist los?"
Es gab einen Schlag und wenige Sekunden später folgte das Zeichen, dass sie aufgelegt hatte. Mit gerunzelter Stirn sah Rei sein Handy an.
„Was ist denn?", kam es neugierig von Max, der sich kurz zuvor die Lippen an der heißen Kartoffel verbrannt hatte.
„Keine Ahnung, sie hat aufgelegt", entgegnete Rei geistesabwesend. Irgendwie hatte er ein ziemlich mieses Gefühl in der Magengegend.
