Autor: OgaShi

Kapitel: 8 von ?

Disclaimer: Tief in unseren Herzen wissen wir doch alle insgeheim, dass Beyblade den Fans gehört. v.v Nur leider haben meine immer wiederkehrenden Besuche bei der Bank endgültig bestätigt, dass ich auch damit kein Geld verdiene.


Kapitel Acht

Zweiundzwanzig Glückskleeblätter

Donnerstag, 22. März 2007

Kai Hiwatari war schon immer ein recht unheimlicher Typ gewesen.

Nachdem das Blau seiner Babyaugen in ein vampirhaftes Bordeauxrot umgeschlagen hatte, verspürte seine Mutter den verzweifelten Drang, ihn im Fluss zu ertränken und kam bei dem Versuch selbst ums Leben; im privaten Kindergarten wurde seine Aura von Kindern, Erziehern, Katzen und Schmeißfliegen gleichermaßen gemieden; und auf der Junior Highschool erteilte er den hochroten, verliebten Mädels Körbe, indem er ihnen einmal intensiv ins Gesicht sah. So lebte es sich eine Zeit lang recht angenehm, bis das einzige Mädchen, zu dem er sich jemals hingezogen gefühlt hatte - zu Zeiten jenseits jeglichen Homosexualitätsbewusstseins - unter psychologische Betreuung kam, weil es unter paranoidem Verfolgungswahn litt.

Und eines Tages fühlte sich selbst der eiserne Kai in der Tat ein wenig einsam.
Damit ging einher, dass er sich zu fragen begann, weshalb er keine Freunde hatte, warum ihn alles mied, was nicht aus Metall und Strom bestand, und es dauerte nicht lange, da kam er zu dem einen, definitiven Schluss: sie mussten ihn hassen - sein Charakterfundament, sein Etikette, seine Art zu kommunizieren und sich zu bewegen, vor allem aber waren es seine Augen, so glaubte er zu wissen, deren dämonischen Anmut sie verabscheuten.

Sie fürchteten ihn.

Vielleicht war dieser einer der entscheidenden Gründe für Boris' Interesse an ihm. Er wollte einen kleinen Höllendrachen für seine Brigade destruktiver Blader, einen Jungen, bei dessen Anblick die Welt erschauderte, er wollte Kai, den Kai, und formte die gescholtene Seele wie ihm beliebte. Kai ließ es mit sich machen. Aber nur eine gewisse Zeit lang ... denn Boris übersah das stets heller lodernde Ego Kais. Es wollte raus.

Es wollte frei sein.

Mochte das Hassgefühl seiner Mitmenschen groß gewesen sein, so war das seine schon nicht mehr in bekannten Einheiten messbar. Sie sollten sehen, was er konnte, sie, die ihm den Rücken gekehrt hatten, all seinen Zorn sollten sie zu spüren bekommen - die Verdammten! Seine in pechschwarze Tinte getunkte Seele ergriff des Nachts die Flucht, und zurück ließ sie die unerwiderte Liebe eines Freundes, den er, geblendet vor Hass, nicht mehr wahrgenommen hatte.

Der Glockenschlag der glanzvollen, farbenfrohen Kathedralen Moskaus kündigte in jener Nacht den Beginn einer neuen Geschichte an, die verdrehter nicht hätte verlaufen können. Die Zeit verging wie im Fluge, all die Schlachten, die er schlug, all die Niederlagen und Triumphe, Tränen und Wutanfälle wurden zu Futurum, Präsenz und Perfektum. Doch erst die jähen Annäherungen einer zweiten Seele ließen Licht in die Höhle fallen, in der er sich verkrochen hatte, ließ ihn für einen Atemzug lang den Hass vergessen - und es war nicht Takao Kinomiya.

Kein Tag seines Lebens blieb so lebhaft in Kais Erinnerungen haften wie der 22. März 2007. Rei hatte ihm zweiundzwanzig geschlechtsverkehrsfreie Tage zuvor seine Zuneigung gestanden und ihn dabei aufrichtig angeblickt - etwas, was erst drei Personen vor ihm zustande gebracht hatten: sein Großvater, Boris und Yuriy Iwanov. Kai war tatsächlich etwas imponiert - jedoch mehr von dem, was Rei von sich gab, als von dem, was er tat.

"Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du ungewöhnliche Augen hast? Ich würde morden für diese Augen. Sie sind beängstigend schön."

Etwas seltsam ausgedrückt, doch selbst Kai war spätestens nach diesem Geständnis darauf gekommen, was in Rei vorging. Und hatte bemerkt, dass er hungrig war.

Hungrig war er leider zweiundzwanzig Tage später immer noch, denn über einige heiße Zungenspielchen hatte es Rei nie hinauskommen lassen. Man konnte es mit einer Katze vergleichen, die mit ihrer Maus spielte: jedes Mal, bevor sie ihrem Spielzeug den Garaus machte, ließ sie es frei und fing es neu ein. Rei reizte seinen Freund bis aufs Äußerste und ließ ihn dann fallen wie eine heiße Kartoffel - was Kai schon bald um den Verstand brachte.

Wie er schnell erriet, war es das Gegenstück zu Reis Liebe, das dem kleinen Tiger fehlte. Die Unsicherheit, geboren aus Kais permanenter Gefühlskälte, hemmte ihn, das Gefühl, einseitig zu lieben und von Kai nicht wiedergeliebt zu werden, plagte ihn - schnell war sich Kai darüber im Klaren, dass es an ihm liegen musste, und er wollte etwas dagegen tun. Und so stand er an besagtem Tag, einen Tag vor dem japanischen Frühlingsäquinox, vor der Reis Wohnungstür und klirrte mit dem Autoschlüssel.

"Dies ist ein Überfall", verkündete er und drängte den perplexen Rei in die Wohnung, "Widerstand ist zwecklos."

"Und wie lautet die Forderung?", fragte Rei, seinerseits mit dem glänzenden Pfannenwender wedelnd.
"Pack' deine Sachen.", war die knappe Antwort. "Du wirst jetzt entführt."

"Und wer zahlt das Lösegeld?"

Kai hauchte ihm einen lasziven Kuss auf die Lippen. "Niemand."

"Also ist das hier jetzt ein Überfall, oder eine Entführung?"

"... Beides!"

"Darf ich trotzdem mitnehmen, was ich gerade gekocht habe? Ich möchte nicht, dass es schlecht wird, bis du jemanden gefunden hast, der das Lösegeld zahlt. Du weißt doch, Takao ist immer pleite." Rei grinste. Ein herausforderndes Funkeln lag in seinen Augen. "Oder willst du mich vergewaltigen, ermorden und im Wald vergraben?"

"Vielleicht ...", entgegnete Kai leise. "Muss ich dich erst fesseln und knebeln, damit du meiner Forderung nachkommst?"

Rei ließ resigniert den Pfannenwender sinken. "Weißt du, mit dieser Miene könntest du sogar eine Bank ausrauben, Kai ...Ich zittere vor Angst und werde tun, was du verlangst. Aber nur, wenn du meine Zahnbürste holst, die Fenster schließt, die Ventilatoren abschaltest und meine kleine Reisetasche aus dem Schrank kramst. Die schwarze, bitte."

Damit verschwand er in die Küche und ließ einen schmunzelnden Kai zurück - nun, hätte er nur zwei Sekunden gewartet und dieses Beinahe-Lächeln gesehen, so hätte er sich vermutlich gleich ein zweites Mal in den Eisblockmonolithen verliebt - so wie Kai in diesem Augenblick ganz genau wusste, weshalb Rei und niemand anderes sein Schmusekater werden sollte.

Der Schmusekater war allerdings leider alles andere als das elegante Ebenbild eines schnurrenden Salonlöwen, wie sich spätestens dann herausstellte, als er ratlos vor dem Schrank stand und nicht wusste, was er einpacken sollte. Kai klickte schweigend mit dem Kugelschreiber und hielt sich den Kopf.
"Wenn du mir endlich sagen würdest, wohin du mich entführen willst, dann wüsste ich zumindest, wofür ich packte", rechtfertigte sich Rei für seine Entscheidungsprobleme, "soll ich vielleicht noch meine Hausaufgaben mitnehmen? Nebenbei, hast du deine schon fertig?"

Das war zuviel für Kais überstrapazierte Nerven und sein auf Dominanz getrimmtes Ego. Warum nur musste Rei es denn so kompliziert machen? Kurzerhand stand er auf, entriss Rei die Tasche und warf wahllos ein paar Kleidungsstücke hinein, schmiss Waschlappen, Zahnbürste und -pasta hinterher und bedrohte Rei mit einer Pistole, die er mit den Fingern formte.

"Wenn du schreist, bist du tot", raunte er ihm ins Ohr, "komm' jetzt ganz ruhig mit, ohne jeden Terz, und dir wird nichts passieren. Niemand ist da, um dir zu helfen, Rei ... du bist mir voll und ganz ausgeliefert." Kai ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen. Ihm gefiel dieses Spielchen - und Rei nicht minder, wie ihm der Schauer verriet, der seine Schultern erzittern ließ. "Und dementsprechend würde ich mich jetzt auch verhalten. Verstanden?"

"K-Kai", stieß Rei heraus, leicht außer Atem ob seines plötzlich wild schlagenden Herzens, während ihn der andere in den Flur dirigierte, "Nimm bitte meine Haustürschlüssel mit, die liegen auf dem Schuhschrank."
Kai schnaubte säuerlich. Ebenso hätte Rei sagen können: "Hey, Kai! Nettes Spielchen, aber hättest du nicht einfach sagen können, dass du mit mir verreisen willst?" - das hätte denselben Effekt gehabt.

Nachdem sie das Mehrfamilienhaus jedoch verlassen hatten, begann Rei mitzuspielen, was nicht zuletzt daran lag, dass ihm Kais Grabsteinmiene ein mulmiges Gefühl beschert hatte. Galant hievte dieser ihn in das Cabriolet, welches er sich zu Probefahrt ausgeliehen hatte, und verband Rei die Augen mit einem roten Halstuch. Zuletzt schnappte er sich sein Handy und verstaute es außer Reichweite für Rei im Türfach der Fahrerseite.

"Bitte schnallen Sie sich an und machen Sie es sich bequem. Wir starten."

Rei lachte auf. "Versuchst du gerade, Witze zu reißen?"

"Nein", erwiderte Kai kalt, "das war mein ernst." Der Motor sprang an und heulte auf, und Rei entschloss sich dazu, die Fahrt zu genießen, da er aus seinem Entführer, der triumphierend mit der Sonnenbrille auf der Nase und dem linken Arm lässig auf der Tür den Wagen lenkte - und sich über sein Eins zu Null freute - ohnehin kein Wort würde herauspressen können.

Kai fuhr ohne Pause durch. Es ging auf den Nachmittag zu und Rei war auf dem Beifahrersitz eingenickt, als sie auf einer Landstraße durch die Reisfelder der malerischen Berglandschaft von Hakone kurvten, eine lauwarme Brise im Gesicht. Die Frühlingssonne schien am azurblauen Himmel und von den an die Plantagen angrenzenden Kirschbäumen regnete es zartrosafarbene Blütenblätter. Die Besitztümer weißhaariger Bauern mit Strohhüten zählten bald zu den einzigen Anzeichen menschlicher Existenz in einem stetig wachsenden Radius mehrerer Kilometer. Tokyos Präfekturen hatten sie längst hinter sich gelassen und kleine Dörfchen verbargen sich in Tälern und Landstrichen jenseits ihrer Route. Im überbevölkerten Japan waren solch ruhige Orte reichlich selten und vielleicht gerade deshalb so beliebt, bei jedem, der dem Stadtdschungel für kurze Zeit entfliehen wollte und dem die grünen Inseln im Zentrum nicht mehr genügten.

Nun, es war nicht so, dass Kai nach einem Ort suchte, an dem sie keiner hören konnte, wenn ihm das auch als keine allzu schlechte Idee erschien. Tatsächlich nämlich zielte er auf etwas völlig anderes ab, abgesehen davon, seinen unerträglichen Hunger zu stillen: er wollte Rei einen lang gehegten, im Grunde unmöglichen Wunsch erfüllen. Und Kai Hiwatari mochte nun mal keine halben Sachen.

Drei Stunden später holperte das Cabriolet einen steinigen Weg hinauf, der zwischen Kresse überwucherten Felswänden und dichten Fichten hindurch führte. Den Weg säumten weiße Lilien und ultraviolette Kornblumen, und dahinter stand ein Bambuswald, der im Wind leise raschelte. In diese idyllische Zusammenstellung aus Stein und Grün war ein kleines, altmodisches, japanisches Gebäude gebaut worden. Eine alte Dame im Kimono empfing sie mit einem genügsamen Lächeln auf dem knittrigen Gesicht, das dem einer Bulldogge ähnelte.

Rei, den er bereits auf dem Weg geweckt und von der Augenbinde befreit hatte, starrte mit offenem Mund auf das Gebäude; es bestand aus einem zweigeschossigen Haupthaus mit Genkan auf Bodenhöhe, einem niedrig gelegenen Anbau zur rechten Seite und einem gepflegten Garten mit Brunnen im hinteren, linken Teil. Schiebewände kleideten das Holzhaus und in Stein gehauene Stufen führten um es herum. Hinter dem Komplex ragten die dunkelgrünen Speerspitzen Schatten spendender Fichten auf. Allein der Anblick des Domizils in dieser ästhetischen Landschaft entspannte sondergleichen.

"Ein Ryokan!" Rei schlug fassungslos die Hände vor den Mund und schien nach Luft und Worten zu ringen. "Oh mein Gott - ein Ryokan - ein echter, alter Ryokan - Kai - das ist - unfassbar!"

Kai verneigte sich vor der alten Japanerin, während Rei entgegen jeglicher Etikette nicht wagte, aus dem Wagen zu steigen. Äußerlich eine kühle Miene bewahrend, lächelte Kai innerlich zufrieden in sich hinein, glücklich - man wollte es kaum glauben - über die Tatsache, dass ein Teil seines Plans bisweilen aufgegangen war. Nicht umsonst hielt ihn ihre Gastgeberin für den großzügigsten Kunden aller Zeiten: er hatte ihr eine 3-Tages-Miete für alle Zimmer, zuzüglich einer Prämie für die Nutzung des gesamten Hauses gezahlt, damit niemand sonst außer ihnen ein Zimmer würde mieten können, und damit sie kein Wort an Rei verlor. Er brauchte nicht zu wissen, dass Kai ein halbes Vermögen in diesen Kurzurlaub investiert hatte. Ganz zum Schluss hatte er noch etwas draufgelegt, damit sie nicht auf die Idee käme, ihre Betten zu machen, ihre Wäsche zu waschen, oder ihnen ein Zimmermädchen aufzuhalsen. Jenes Zimmermädchen - ein eingebildetes, junges Mädchen vom Lande, dessen Gesicht ein wahres Pokerface war - hatte ihm eines ihrer zauberhaftesten Lächeln geschenkt, denn ganz unverhofft war sie so ihrerseits durch ihn zu einem unverhofften Urlaub gelangt. Und nun hatte er eine chancenlose Verehrerin mehr.

Ein anderes Mädchen, das Kai mit O-ne-san anredete, führte sie durch den Genkan, wo sie ihre Schuhe gegen traditionelle Slipper eintauschten und sich ihrer Jacken entledigten. Ihnen kam die ehrwürdige, besinnliche Atmosphäre stillgestandener Zeit entgegen, als sie auf die Tatami traten, die jeden ihrer Schritte eindämmte; Stillschweigen umhüllte die scheinbar leeren Räume, Magie hauchte aus jeder Ecke und Weißheit sprach aus den Schriftrollen, die in den Nischen zwischen den mit festem Papier bespannten Shojiwänden hingen. Gedämmtes Licht füllte die Gänge aus, die meist zu einer Seite den Blick auf den prächtigen Garten freigaben, und zur anderen Seite auf einen schmalen Rundgang nach draußen führte. Unhörbar bewegte sich das junge Mädchen über den weichen Boden, wie Rauch im Wind wirkte sie, und elegant wie eine Katze. Irgendwo plätscherte ein Brunnen, hier und da zwitscherte ein Vogel, als sie am Steingarten vorüber gingen. Mit zierlichen Händen öffnete sie die Schiebetüren zu ihrem ebenfalls mit Tatami ausgelegten Zimmer, kniete nieder auf dem Boden und verneigte sich tief.

Rei war, als sei er durch einen Traum gewandelt. Erst, als das leise Geräusch sanft aufeinander treffenden Holzes ertönte, das Schließen der Tür, erwachte er und wagte wieder durchzuatmen.

"Das ist unbeschreiblich", hauchte er und strahlte Kai an. "Woher wusstest du davon?"

"Wovon?"
Doch Rei war schon wieder mit etwas anderem beschäftigt. Begeistert entfaltete er den Baumwollkimono, der neben dem niedrigen Tisch auf einem der zwei Sitzkissen bereit lag, und bewunderte sein zartes Orange.

"Deshalb war völlig unwichtig, was ich an Kleidung einpackte. Wir werden Yukatas tragen!"

Auf dem Tisch standen Tee und Gebäck bereit, so perfekt angerichtet, dass sich Rei kaum traute, es anzurühren. Die Futons waren noch in den Wandschränken verstaut.

Kai streichelte über seinen Rücken.

"Du bist einfach einzigartig!", rief Rei und fiel ihm um den Hals. Soviel also der Dankeshymnen, dachte Kai. Hieß es also nur noch abzuwarten, bis Rei wieder nüchtern war.

Bis es dazu kommen konnte brauchte es eine gemütliche Tasse Grünen Tee und zwei Stunden intensiven Entdeckens, die Kai geduldig über sich ergehen ließ. Obwohl sie beide keine Japaner waren - und Rei noch dazu einer der verhassten Chinesen - zeigte ihnen die Alte alles, was sie sehen wollten, von den Gärten über die Küche bis zum Onsen. Zu diesem führte hinter dem Ryokan eine Efeu umrankte Steintreppe ohne Geländer. Die heiße Quelle war kreisrund, Hitze schlug ihnen entgegen und dichte Nebelschwaden hingen über dem dunklen Wasser und in den umliegenden zerklüfteten Felswänden. Im Westen des Onsen sprudelte ein schmaler Wasserfall herab und tauchte im weißen Dampf ein. Das gesamte Bad bot eine göttliche Konstruktion von verzweigten Sträuchern, hohen Fichten, Kiefern und Lerchen, abstrakten Steinen und Bambusröhrchen, aus denen Wasser floss. Um zum Onsen zu gelangen, musste man durch den Vorraum gehen, in dem man seinen Yukata, seine Unterwäsche und seine Slipper in flachen Körben verstauen konnte, und schließlich, bekleidet nur mit einem Handtuch und seiner Seife, in den Waschraum, wo man sich gründlich von Kopf bis Fuß sauber zu schrubben hatte. Rei war anzusehen, dass er am liebsten auf der Stelle in das heiße Wasser gesprungen wäre, doch Kai hielt ihn zurück - der Höflichkeit wegen.

Die alte Gastwirtin stellte sich mit Hanamori-san vor. "Hanamori, wie auch der Ryokan", sagte sie. Sie wies sie höchstpersönlich in die Regeln ihres Heims ein - was sie gewöhnlich nicht tat, da es gegen das Prinzip verstieß, das den Gast als den heimgekehrten Sohn erscheinen ließ. Doch konnte man das Pärchen auch nicht gerade als gewöhnliche Gäste bezeichnen, des Weiteren waren sie schwul - wie anrüchig! -, deshalb sah sie keinen Grund, ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

"Ich vermiete das Hanamori normalerweise nicht an Gäste, nicht den ganzen Ryokan", belehrte sie Kai, als Rei gerade ein Blumenarragement in einer Nische mit Schriftrolle betrachtete, "das hier ist eine einmalige Sache, erzählen Sie es also nicht herum. Das Essen wird immer noch von meinem Mann angerichtet. Das Onsen ist lediglich entkleidet und sauber zu betreten. Besucher sind verboten. Ich pflege nach zweiundzwanzig Uhr die Haustür zu verriegeln, kommen Sie also nicht allzu spät."

Kai nickte und spähte zu Rei, der sich in just diesem Moment herumdrehte und an seinem Yukata zupfte. "Wir werden ihnen nicht zur Last fallen."

Die Alte lächelte mit verengten Augen. "Willkommen im Hanamori."

Der Rest des Tages verlief ruhig und gewissenhaft nach den Maßstäben eines Ryokans. Hanamori-san entpuppte sich als leidenschaftliche Teemeisterin und ließ sie bei einer verkürzten Teezeremonie beiwohnen, die durch Kais leises Schnarchen ein vorzeitiges Ende fand. So richtig wach wurde er wieder, als ihm Rei im Waschraum des Onsen einen Eimer Wasser über den Kopf kippte, was wiederum in einer Wasserschlacht endete, die sich gewaschen hatte; gewaschen waren hinterher auch die Wände des Raumes, nun, zumindest glänzten sie so, als sich Kai und Rei zum Essen in ihr Zimmer begaben, gewickelt nur in Bademäntel, womit sie sich einen tadelnden Blick von der Hausherrin einfingen, die sich gerade auf dem Weg in ihr Bett befand. Was hatte sie sich nur eingebrockt?


"Lange nicht mehr so gut gespeist", seufzte Rei zufrieden, nachdem er Sashimi und Hühnerherzenspieße, Sojabohnensalat und geröstete Lachsfilets mit Sesam verputzt hatte. Er war so voll, dass er sich auf das Nötigste beschränken musste. "Der Koch ist ein Gott."

"Gefällt es dir?", fragte Kai unnötiger Weise, während er das Geschirr stapelte. Rei schmunzelte.
"Na ja, die Besitzerin ist eine Hexe, das Wasser in der Quelle dampft so stark, dass man kaum mehr etwas sehen kann, die Tatami scheinen älter zu sein, als sie nicht aussehen und das Zimmermädchen fehlt - doch ansonsten ..." Er beugte sich vor und zwang Kai einen Kuss auf. "Vergiss alles, was ich gerade gesagt habe. Das ist der schönste Überfall, der jemals in der Geschichte der Menschheit passiert ist."

"Was denn", wisperte Kai und umfasste seine Taille, "noch habe ich dich doch gar nicht überfallen, sondern nur entführt!"

"Ha! Sieh an, wusste ich es doch." Rei schlang seine Arme um Kais Hals. Mit halb geöffneten Augen strich er mit der Zungenspitze über Kais empfindliche Unterlippe, wurde von der des anderen zurückgestoßen, aufgefangen und zurückgeholt. Gefesselt von den feurigen, impulsiven Küssen Kais, hätte Rei um ein Haar die große Hand übersehen, die sich gefährlich flink ihren Weg zu dem Gürtelknoten des Bademantels suchte. Er fürchtete schon zu spät zu sein, als er sich eilig von Kai löste und ihn von sich drückte.

"Rei!", stieß Kai aus, atemlos vor Ungeduld, doch das Schmusekätzchen kam ihm zuvor.

"Lass uns nach unten gehen", flüsterte es, "ich möchte baden."


Kai durchlief es heiß und kalt. Er war seinem Ziel so nahe gewesen; was Rei ihm vermittelte, das hatte er noch nie zuvor erlebt, nicht in seinen wildesten Träumen. Jede seiner katzengleichen Bewegungen jagten das Blut in seine Erregung, seine Bersteinaugen fesselten ihm die Hände und seine Stimme spielte mit ihm, der sonst nie unterlag - er musste diesem Zustand ein Ende bereiten, oder die Gefühle zumindest lindern, sonst würde er durchdrehen, das spürte er.

Und diese Empfindungen erreichten ihren ultimativen Höhepunkt, als sich Rei völlig nackt in das Wasser der Quelle gleiten ließ. Für einen Moment war Kai wie versteinert, dann entledigte er sich schnell seines Handtuchs und folgte ihm.

"Ich bin nicht deine Maus", sagte er rau. Heiß und geschmeidig schloss sich das Wasser um seinen Körper. Bis zum Hals tauchte er ein in das dampfende Nass und genoss das Kribbeln auf der Haut. Rei war voraus geschwommen und im weißen Nebel nur noch als schemenhafte Gestalt zu erkennen.

"Schade", erwiderte er, in der Mitte des Beckens angekommen, "ich spiele gern mit Mäusen."

"Ich weiß."

Kai hatte ihn schnell eingeholt und umkreiste ihn wie das Raubtier seine Beute, kam schnell näher und ließ sich vor ihn treiben. Es war eine sternenklare Nacht, die allein von dem Huschen der Eulen, dem Zirpen der Grillen und dem Plätschern des kleinen Wasserfalls belebt wurde. Die Luft stand still und schwankte noch zwischen warm und kalt. Der Wasserdampf fing das Licht der Feuerschüsseln auf, in dessen Licht der Onsen glänzte; die Alte hatte sie am Abend entzündet, ganz wie Kai sie gebeten hatte. Vermutlich lag sie längst in den Federn und lauschte an ihrem Futon, ebenso wie ihr Mann.

Sehr gut. Der Moment war einfach ideal.

"Wie lange sind wir jetzt ein Paar Rei?" Er strich Rei eine Strähne aus dem Gesicht und dieser wich rücklings zurück.

"Zweiundzwanzig Tage genau. Morgen ist Frühlingsanfang", antwortete er, stets den Blickkontakt haltend. Kai schwamm ihm hinterher - er war nicht dazu bereit, einen Abstand entstehen zu lassen.

"Ich glaube, ich habe vergessen, dir meine Zuneigung zu zeigen, Rei"

"Kommt ganz darauf an, was du dir darunter vorstellst."

"Eine ganze Menge" Kai zeigte etwas, was wie ein dämonisches Feixen aussah. Seine bordeauxroten Augen leuchteten. "Ich liebe dich."

Rei lachte trocken. "Das kommt in der Tat etwas plötzlich."

"Was ist, wenn es ernst gemeint ist?"

"D-Das würde mich freuen" Rei biss sich auf die Zunge. Um nichts auf der Welt durfte er jetzt anfangen zu stottern. "Sehr sogar", sagte er schnell, doch seine plötzliche Unsicherheit schien schon bis zu Kai vorgedrungen zu sein.

"Ich liebe dich", säuselte er, "ich liebe dich, ich liebe ..."

"Hör schon auf, Kai"

"... dich." Kai tauchte kurz unter, kam wieder herauf und fuhr sich durch das Haar. Diese Hitze betäubte ihn regelrecht ... "Nur drei Worte. Drei verdammte Worte, an die sich eine ganze Nation klammert."

Rei stieß jäh mit dem Rücken an die Felswand am Rande des Beckens, aus welcher in unmittelbarer Nähe der schlanke Wasserstrahl gluckerte. Es war eine steil aufragende Wand aus Schieferstein, die Rei feststellen ließ, dass der Weg für ihn hier zu Ende war. Kai, der das Hindernis schon lange vorher gesehen hatte, näherte sich ihm ungehindert auf hautnahe, praktisch nicht mehr vorhandene Distanz. Als er sprach, spürte Rei seinen warmen Atem auf der Stirn.

"Liebe erzählt man nicht. Liebe erfährt man. Ist es nicht so? Ich habe nie Liebe erfahren. Mir wurde sie nur erzählt. Jetzt erfahre ich sie ... und mein Freund weist mich ab. Was also soll ich von der Liebe denken, Rei?"
Rei schnappte nach Luft. "I-Ich brauche eben noch Zeit. Lass sie mir, Kai, noch ein wenig."

"Zeit ...?" Verlangend legte Kai die Hände auf den Fels neben Reis Kopf und forderte ihn zu einem Kuss auf, der in dieser ohnehin schon vorhandenen Teufelshitze eine Ohnmacht fördernde Wirkung hatte. Die Reaktionen seines Körpers entglitten Reis Kontrolle wie ein Eiszapfen seinen gut durchbluteten Händen, wie ausgehungert beugte er sich unter Kai, was diesem nicht entging: dass Rei mit ihm spielen wollte, das war doch ganz offensichtlich ...

Ohne noch einen Atemzug lang zu zögern, versenkte er die Hände im Wasser und begann, Reis Hüfte zu streicheln.
"Rei", raunte er in seinen gierig geöffneten Mund, "ich will dich."

Im nüchternen Zustand hätte Rei Kai für diese Aussage seinen Respekt zollen müssen, dafür, dass er sich zu einem Geständnis dieses Umfangs hatte überwinden können. Es klang nach einer ganz normalen Äußerung eines Wunsches, doch für Kai war es bereits ein großer Schritt zur Besserung.

Rei unterdrückte ein leises Stöhnen. "Ich habe mir geschworen, mein erstes Mal werde ich mit jemandem haben, der mich liebt" Das stimmte nicht ganz. Er hatte sich geschworen, sein erstes Mal mit Kai zu haben, aber das erschien ihm gerade nicht angemessen.

"Dann sitzen wir offenbar in einer Zwickmühle", schlussfolgerte Kai und liebkoste die Wangen des anderen. Seine Hände hatten bereits Reis Beckenknochen erreicht.

"Hör jetzt auf, Kai", bat Rei erneut.

"Nein", schnappte Kai und nahm grob seinen Hintern in die Hände. Ein Schauer drückte Reis Wirbelsäule durch - es war ihm kaum mehr möglich auch nur einen einzigen, klaren Gedanken zu fassen, er fühlte sich, als hätte man ihm ein Anästhetikum verabreicht. "Warum machst du dich so verrückt, Rei?"

"Wer macht sich denn verrückt?"

Was dann geschah, war eine Abfolge blitzschneller Bewegungen. Kai schnaubte, packte mit der linken Hand seinen Hinterkopf und verschloss fest seine Lippen - und stieß mit der rechten Hand zwei Finger in die warme Enge Reis. Diesen durchfuhr das Zucken wie ein Blitz, als sich alles in ihm krampfartig zusammenzog, seine Finger krallten sich in die gespannte Muskelmasse von Kais Schultern, und seine Lippen mussten ablassen von ihm, als sich seiner Kehle ein unüberhörbares Stöhnen entrang. Verstand raubende Erregung ließ seine Haut erzittern wie die Erde bei einem leichten Erdbeben, trotz der vorherrschenden Hitze glaubte er zu frieren, seine Wangen röteten sich innerhalb von Sekunden, und doch fiel es Kai schwer zu erkennen, ob es an der Quelle oder an ihm lag. Bedächtig bewegte er die Finger in Reis Innerem und genoss den Anblick, der sich ihm bot; der Anblick eines Reis, der unter ihm dahin schmolz wie das Eis in der Sonne. Seine Stirn kippte auf Kais Brust.

"Nein - hör auf", stöhnte er, doch es klang nicht überzeugend genug, um Kai von seinem Tun abhalten zu können. Seine Fäuste klopften gegen eine unbewegliche Wand, waren zu geschwächt, zu eingenommen, um ihn von sich zu stoßen.

"Wo sind sie hin, Rei, deine Skrupel?", raunte er ihm zu. "Du hast lange genug die Katze in dieser Jagd gespielt. Zeit, das Blatt zu wenden, findest du nicht auch?"

Das erneute Eindringen seiner Finger beschleunigte Reis Atem. Die Art, auf die er das Wonnestöhnen zurückzuhalten versuchte, welches von ihm Besitz ergriff, bedeutete Kai, dass er sich für seine Gefühlsausbrüche schämte. Er musste durch diese Mauer brechen, musste ihn in Wallung bringen und ihn all seine Hemmungen vergessen lassen - dann würde Rei seine Ängste verlieren, er musste es nur wagen und sich durch nichts von seinem Vorhaben abbringen lassen.

Mit diesem Gedanken hob er Rei leicht hoch, bis ihre Hüften unter Wasser annähernd auf gleicher Höhe waren, drückte sich gegen ihn, holte seine vorbereitenden Finger zurück, was Rei wieder ein Stück seiner Beherrschung einbüßen ließ, rieb seine Erregung unter der von Rei und machte sich bereit, ihn Himmel und Hölle zum selben Augenblick kosten zu lassen ...

Doch die Berührung durch Kais erhärtetes Glied holte Rei schlagartig zurück in die Realität. Kai hatte kaum Zeit, noch rechtzeitig zu reagieren, als der kleine Chinese blitzschnell ausholte und ihm einen Nasenhaken verpasste, der in Schwarze traf: Kai fühlte einen Schmerz durch seine Nasenwurzel rasen und wurde prompt rückwärts ins Wasser geworfen. Schwer atmend starrte Rei seine Faust an.

"Tu-Tut mir leid!", rief er reumütig, als Kai nach Luft ringend wieder auftauchte. Er stieß einen wütenden Schrei aus, der Rei zusammenzucken ließ, und hielt sich die Nase - doch war es sein Herz, das schmerzte, die Tatsache, dass Rei ihn gerade die größte Niederlage seines Lebens hatte einstecken lassen. Schweigend standen sie sich gegenüber, das Wasser plätscherte über die Ufer und schlug ringförmige Wellen um Kais stillstehende Gestalt.

"Tut mir leid", wiederholte Rei kleinlaut. Er sah Kai mit dem Kopf schütteln und plötzlich sah er die Vision eines Häufchen Elends vor sich - kein schöner, viel mehr ein erschreckender Anblick, der ihn mit eisiger Kälte erfüllte. Er wollte nicht Schuld daran haben, dass sich Kai so fühlte. Und plötzlich überfiel ihn eine bislang unerkannte Angst - nie hatte er darüber nachgedacht, dass Kai auch jederzeit die Beziehung beenden konnte. Was verband sie schon miteinander, außer ihrer gemeinsamen Vergangenheit als Blader, das Bunka Fashion College und die Tatsache, dass Kais Finger in ihm gesteckt hatten? War am Ende der Sex die Bestätigung, die Kai bei ihm gesucht hatte? So wie er die Bestätigung in seinem Verhalten gesucht hatte?

Jäh begann Rei zu verstehen - es fiel ihm wie Schuppen von den Augen.

Kai glitt im Wasser herum und ruderte auf das Ufer zu, wo er sein Handtuch zu Boden geworfen hatte.

Er musste handeln. Sofort.

"Du - kommst doch aus dem Westen", rief er, ohne großartig nachzudenken. Kai erreichte den Beckenrand und hievte sich aus dem Wasser, schnappte sich sein Handtuch und legte es sich um die Schultern. Sein Glied befand sich schon nicht mehr im erregten Zustand, wie Rei feststellte, als er unverhofft einen Blick von ihm erhaschte - Kai hatte sich offenbar sehr gut unter Kontrolle. "Dann - dann kennst du doch sicher auch ein paar dieser Märchen aus dem Westen, oder? Ich mache es jetzt wie sie. Ich suche meinerseits Bestätigung, Kai"
"Hn.", entgegnete Kai und plötzlich sah es so aus, als war er bereit, ihm eine Minute seiner kostbaren Zeit zu gewähren.

"Bring' mir zweiundzwanzig Kleeblätter. Vierblättrige. Zweiundzwanzig vierblättrige Kleeblätter." Kais Schultern hoben und senkten sich. Er atmete tief durch - aus Wut oder vor Aufregung? "Für jeden Tag unserer Beziehung eines. Dann -" Zögern ließ ihn innehalten.

"Was dann?"

Rei schluckte. Diese Aufgabe war nicht zu meistern, er hatte sich soeben sein eigenes Grab geschaufelt. Befand er sich überhaupt in der Position, Forderungen zu stellen? Hatte er nicht selbst gerade diesen ... berauschenden Moment zerstört? "Dann glaube ich dir." Aber tat er das nicht schon jetzt?

Kai ging. Als er sich auf halbem Weg zum Ausgang befand, hielt in Rei ein letztes Mal auf. "Ich liebe dich", beteuerte er, und zum ersten Mal hörten sich diese drei Worte auch in seinen Ohren seltsam an.


Freitag, 23. März 2007

Als Rei am nächsten Morgen erwachte, war Kai unauffindbar. Das Cabriolet parkte noch immer unbewegt vor dem Ryokan und Hanamori-san berichtete ihm, der junge Mann habe bereits im Morgengrauen das Haus verlassen und sogar auf das Frühstück verzichtet. Ungeduld und Sorge übermannte ihn - nicht, weil er etwa glaubte, Kai könne etwas zugestoßen sein. Viel mehr sorgte er sich um die Gefühle des Eisblocks.

Er setzte sich in das Tatamizimmer und betrachtete den Vormittag über den prächtigen Garten, aß allein sein Frühstück und eine Zeit später das Mittagessen; Beruhigung suchte er in einer Meditationsübung, während der er sich die Ereignisse der vergangenen Nacht durch den Kopf gehen ließ, was ihn nur noch mehr aufwühlte.

Wo steckte Kai? Würde er zurückkommen? Nun, daran zweifelte er nicht. Schließlich stand das geliehene Cabriolet noch vor dem Ryokan. Aber ... würde er zu ihm zurückkommen? Kam der gestrige Streit, seine Abweisung, einem Schlussstrich für ihre Beziehung gleich?

Der Himmel hatte sich bewölkt und der Wind zerrte am Bambuswald. Diese Berge hatten in der Tat ihr eigenes Wetter ... es half alles nichts. Er musste Kai suchen gehen, sonst würde sich sein Gewissen nicht beruhigen.

Doch gerade, als er das Mädchen bat, seinen Mantel zu holen, läutete die Glocke des Ryokans. Kurz darauf stand Kai geknickt im Genkan und gab seine Schuhe ab.

"Wo warst du?", begrüßte ihn Rei leicht in Rage. Zur Antwort erhielt er einen flüchtigen Kuss auf die Lippen.
"Ich schlafe", sagte Kai heiser, verneigte sich vor Hanamori-san und taumelte in Richtung Schlafzimmer davon.

Rei pochte das Herz bis zum Hals. Wo war Kai gewesen, weshalb sah er so mitgenommen aus und warum tat er, als sei nichts gewesen?

Sein Blick wanderte zum Genkan. Das Mädchen hielt noch Kais Mantel in der Hand; die Szene, der Kuss, hatte sie von ihren Pflichten abgelenkt. Dieser Mantel ... er zog ihn an wie ein Magnet.

"Verzeihung, dürfte ich bitte mal sehen?" Er nahm ihr den Mantel aus schwerem Kordstoff aus den zierlichen Händen und wühlte in den Jackentaschen. Die linke Seite war leer, bis auf die Autoschlüssel und ein Kaugummipapierchen fand er nichts daran. Doch in der rechten Tasche erfühlte er etwas Kühles, Weiches, Leichtes, was ihn geradezu aufforderte, es herauszuziehen ...

Seine Augen weiteten sich.

Sein Atem stockte.

Es waren Kleeblätter.

Seine Finger begannen zu zittern: es waren ziemlich viele, weit mehr denn ein Dutzend, und alle hatten sie vier herzförmige Blätter. Rei schluckte und entschloss, sie zu zählen - jetzt sofort, an Ort und Stelle.
Er kniete sich hin, sodass er die Stufe vor sich hatte, auf welche sich der Gast zu setzen pflegte, wenn er sich die Schuhe aus- und die Slipper anzog. Auf dieser mit Tatami ausgelegten Stufe legte er behutsam ein Kleeblatt neben das andere. Hanamori-san und die O-ne-san beobachteten ihn, als spürten sie, dass etwas Wichtiges in der Luft lag.

Als Rei zu zählen begann, tobte ein Sturm in seinem Kopf.

"Eins ... Zwei ... Drei ... Vier ... Fünf ..."

Warum zur Hölle war Kai Kleeblätter sammeln gegangen? Hatte er ihn tatsächlich beim Wort genommen? Lag ihm so viel an seiner Liebe, dass er das Unmögliche gewagt hatte? In Reis Augen brannten ungeweinte Tränen.

"Sechs ... Sieben ... Acht ... Neun ... Zehn ..."

/Liebe erzählt man nicht. Liebe erfährt man. Ist es nicht so? Ich habe nie Liebe erfahren. Mir wurde sie nur erzählt. Jetzt erfahre ich sie ... und mein Freund weist mich ab. Was also soll ich von der Liebe denken, Rei/

"Elf ... Zwölf ... Dreizehn ... Vierzehn ... Fünfzehn ..."

Eine salzige Träne zeichnete hässliche Spuren auf Reis Wange. Ein zweite folgte ihr. /Tut mir leid/, vernahm er seine eigene Stimme wie ein Echo/Lass sie mir, Kai, noch ein wenig. Noch ein wenig Zeit. Für jeden Tag unserer Beziehung eines. Zweiundzwanzig vierblättrige Kleeblätter./

"Sechzehn ... Siebzehn ... Achtzehn ..."

/Ich liebe dich ... ich liebe dich ... ich liebe dich …/

"Neunzehn ... Zwanzig ... Einundzwanzig ..."

Rei presste sich die Hand auf den Mund und unterdrückte den Impuls, laut aufzuschluchzen. Die ungehindert laufenden Tränen ließen seine Sicht verschwimmen; rasenden Herzens starrte er auf die Kleeblätter herab, geschüttelt von einem Schluckauf, der ihn wie aus dem nichts heimsuchte. Es war einfach unglaublich. Obwohl sein Verstand kaum mehr dazu imstande war, ihr frisches Blattgrün zu erfassen, zählte er sie erneut durch, wieder und wieder, und immer kam er auf einundzwanzig Kleeblätter - das letzte fehlte.

Doch das wurde unwichtig in dem Moment, in dem Rei wie benommen aufstand und sich erfolglos mit dem Ärmel des Yukata über die Augen wischte. Wie sehr musste Kai an ihm hängen, wie viel musste an ihm liegen, dass er diese Prüfung ohne zu zögern auf sich genommen hatte! Wie tief mussten seine Gefühle gehen - und er, der Gefallen gefunden hatte, an diesem Spiel zwischen Katz' und Maus, hatte es gewagt, diese empfindliche Seele abzuweisen! Schande, Schande über ihn!

Nein, dabei durfte er es nicht belassen. Einundzwanzig Kleeblätter waren genug des Beweises!

Und mit diesem Gedanken stürmte er Kai hinterher in das Tatamizimmer ...


Donnerstag, 17. Dezember 2009

"Das letzte Kleeblatt, so haben wir beschlossen, darf niemals gefunden werden. Es steht für die Ewigkeit unserer Beziehung.", beendete Rei seine Erzählung mit einem seligen Lächeln.

"Das hört sich so märchenhaft an, dass es fast unglaublich ist ..." Verträumt betrachtete Max das eingerahmte Bild der einundzwanzig gepressten, vierblättrigen Kleeblätter. Es hing im Flur des Appartements von Kai und Rei in Chiba, und in romanischen Lettern war darunter das Wort "Ewigkeit" geschrieben worden. Rei, der neben ihm stand, leicht gerötet im Gesicht dank des Herzklopfens, welches ihm die wachgerufenen Erinnerungen beschert hatten. "Was den Sex angeht hat sich Kai übrigens kein Stück geändert", lachte er und Max stimmte mit ein.

"Das hab' ich gehört", unterbrach sie Kais mürrische Stimme aus dem Hintergrund und Rei fuhr zusammen. Er hatte Max gerade ausführlich seine größte Niederlage, als auch seinen größten Sieg ausgebreitet und konnte sich gut vorstellen, dass Kai das nicht sonderlich lustig fand - nun, es war auch nicht für seine Ohren bestimmt gewesen!

Da verspürte er auch schon die zu einer Pistole geformten Finger im Rücken.

"Hast du Takao erreicht?", wollte Max wissen.

"Ein Themawechsel wird Rei auch nicht retten.", erwiderte Kai.

Rei lachte verlegen. "S-Siehst du?"

"Ich meinte das aber ernst!", fuhr Max halb verzweifelt hoch. Von Rei war er Gemütsschwankungen ja gewohnt - aber auch Kai verhielt sich höchst merkwürdig, beinahe erschreckend fröhlich!

"Wieso soll Kai Takao erreicht haben?", fragte Rei und das altbekannte Grinsen kehrte auf sein Gesicht zurück.

"Ich habe nur das Telefon geholt.", bestätigte Kai.

Rei reichte besagtes Telefon von Kai an Max weiter. "Du bist doch nicht tot! Ruf' ihn doch selbst an und sag' ihm, dass du hier bist!"

"J-Ja, natürlich ..."

Es war soweit. Es war an der Zeit, allen Beteiligten dieses obszönen Theaterstücks, welches sich in den vergangenen drei Monaten zwischen ihnen abgespielt hatte, reinen Wein einzuschenken. Alles, was ihnen jetzt noch fehlte, war diese letzte Bestätigung. Unsicher starrte Max den Hörer an.

"Tee?", fragte Rei und verkroch sich in die Küche. Kai bedeutete dem Blondschopf ins Wohnzimmer zu gehen, weil er sich dort hinsetzen könne, bevor er fix seinem Freund folgte. In der Küche aber war von Teekochen keine Spur zu sehen: mucksmäuschenstill standen sie dicht beieinander, spitzten die Ohren und hielten den Atem an, um auch nichts zu verpassen. Auch aus dem Wohnzimmer kam kein Geräusch ... doch dann: ein Klicken.

Max wählte.