Autor: OgaShi
Kapitel: 9 von ?
Disclaimer: Tief in unseren Herzen wissen wir doch alle insgeheim, dass Beyblade den Fans gehört. v.v Nur leider haben meine immer wiederkehrenden Besuche bei der Bank endgültig bestätigt, dass ich auch damit kein Geld verdiene.
Kapitel Neun
Wenn es Götter gibt, die uns wegwerfen ...
Donnerstag, 17. Dezember 2009
In der Küche des Zweizimmerappartements herrschte angespannte Stille. Rei und zweifellos auch Kai fieberten dem Resultat ihrer Bemühungen entgegen, als Max wie in Zeitlupe die Tasten des Telefons drückte; bedächtig, als müsse er sich ganz darauf konzentrieren, die richtigen Ziffern zu treffen.
Diese Situation war das stolze Ergebnis einer Nerven zerreißenden Spionagearbeit von drei Monaten, die mit einer meisterhaften Zeichnung und ein paar Randnotizen Kais begonnen hatte. Rei Kon hatte sich zwei Dinge zur Aufgabe gemacht, die ihn nach eigenen Aussagen eine ganze Menge angingen. Zum Einen wollte er noch immer erfahren, was in Amerika vor sich gefallen war, denn trotz der anfänglichen Versuche, das Paar mit dem Telefon zu erreichen, nachdem er von Max' grausamem Geheimnis erfahren hatte, hatte sich Takao für vertrauensseliges Stillschweigen entschieden und kein Wort an sie verloren. Zum Anderen hatte es sein feiner Spürsinn für körperliche sowie seelische Zuneigung nicht mehr ertragen können, mit anzusehen, wie Takaos und Max' Körper aufeinander reagierten, sobald sie sich zu Nahe kamen: entweder sprangen sie wie vom Blitz getroffen auseinander, oder sie wurden innerhalb von Sekundenbruchteilen puterrot und schwiegen sich an. Nun, ein Recht amüsierender Zustand für einen Außenstehenden, doch bald war es selbst für Rei zuviel des Witzes geworden. Jemand musste nachhelfen – und spätestens, wenn sie ihm dankbar zu Füßen lagen, würde sich auch die Gelegenheit bieten, sie nach den Ereignissen in Amerika zu fragen.
Doch erst Hiromi machte Reis noch nicht wirklich vorhandenen Plan perfekt. Als sie ihnen am vergangenen Sonntag ihre unsterbliche Liebe zu Takao gebeichtet hatte, hatte er die goldene Gelegenheit am Schopf ergriffen und sie als ultimativen Lockvogel eingesetzt. Er hatte Max für diesen Tag ins Bunka Fashion College entführt und so Hiromi freie Bahn geschaffen, in dem Wissen, dass ihr Vorhaben nicht unter einem guten Stern stehen würde. Seine Beobachtungen bezüglich Takao und Max sagten aus, dass es für sie kein Happy End würde geben können, denn Takao war ganz offensichtlich homophil – und verdammt, auch er, Rei, stand auf Männer, es war also nur logisch, dass er es Takao ansah! Alles was seinen Hypothesen fehlte, war ein Takao, dem jäh ein Licht aufging.
Er musste ganz von selbst darauf kommen, dass er schwul war, und feststellen, dass sein Herz an Max hing. Und was eignete sich besser dazu, als ein verliebtes Mädchen, dem soviel Mut zugesprochen wurde, dass seine Ängste, den Geliebten zu küssen, einfach von ihm abgefallen waren? Rei hatte präzise dafür gesorgt, auch wenn es ein hartes Stück Arbeit gewesen war. Anhand der Liebe dieser langjährigen Freundin musste Takao nun festgestellt haben, dass er ihre Gefühle nicht erwidern konnte. Und auch, dass ihr Körper ihn nicht anzog, obwohl Rei sie in diese super enge Bluse gehüllt hatte. Und das Wichtigste: er würde aufgrund eines schlechten Gewissens an Max denken müssen, und für alles Weitere konnte selbst Takaos Leitung nicht zu lang sein. Oh ja … Dieser Plan war so einfach wie perfekt – und gleich würde er Bestätigung erlangen.
Wenn nur Hiromis ominöser Anruf nicht gewesen wäre, der so vieles und doch nicht verheißen konnte, hätte er vielleicht sogar selbst noch daran geglaubt …
Plötzlich schien jemand am anderen Ende der Leitung abgehoben zu haben, denn im Wohnzimmer regte sich etwas. Max hatte sich geräuschvoll auf dem Sofa aufgesetzt und scharf Luft eingesaugt.
„Moshimoshi, Takao!", stieß er heraus und Kai und Rei hielten sich gegenseitig den Mund zu …
Seid er ein fünfjähriger Dreikäsehoch gewesen war, hatte Takao die Ufer des Gartenteichs immer gemieden und gefürchtet. Obwohl Lotusblumen auf der stets still stehenden Oberfläche blühten, hatte er an daran gezweifelt, dass dieses Gewässer einen Grund besaß; er glaubte, wenn er nur lange genug hinein starrte und nahe genug heran käme, würde eine dämonische Macht aus dem Teich heraus greifen und ihn in die Schwärze herabziehen, ohne ihn je wieder freizulassen. Diese Angst kam nicht von ungefähr: als kleiner Bengel war er einst nach einer abstrakten Aufeinanderfolge verhängnisvoller Zufälle an einem gewittrigen Nachmittag in das Wasser gefallen, hatte sich in einem hartnäckigen Gewirr aus Wasserpflanzen verheddert und von Hitoshi vor dem sicheren Ertrinken gerettet werden müssen.
„Der Zorn der Götter", hatte ihm sein Großvater damals gepredigt, „sie mahnen dich zu Gehorsam und Pflichtgefühl. Nun wasch' dich und gehe einmal ohne Terz zu Bett, mein Junge."
Der Zorn der Götter also. Sie hatten ihm einen Teufel geschickt, der über ihn wachen sollte, damit er seine Hausaufgaben erledigte und das Kendo-Training nicht schwänzte. Und aus diesem runden Pfuhl nun beobachtete es ihn, das niemals blinzelnde Auge des Höllenfürsten, der ihn einst zu sich in die Abgründe hatte reißen wollen. Bestimmt wartete er nur auf den Augenblick seiner Unachtsamkeit, um ihn mit sich zu nehmen – er durfte ihm nur nicht zu Nahe kommen!
Mit zunehmendem Alter wurde das tägliche Meiden des Gewässers für Takao zum Alltag und für seinen Großvater zu einer weniger bedenklichen Marotte. Der Gedanke aber, dass ein Dämon im Gartenteich säße, sowie das Gefühl, immerzu beobachtet und auf Schritt und Tritt von ihm verfolgt zu werden, blieb in Takaos Hinterkopf haften, selbst als er die Pubertät hinter sich gelassen und dem Bladen abgedankt hatte – und diese Angst erreichte ihren Gipfel, als ein kränklich blasser Max in der Dunkelheit des Tatamizimmers vor seinen Augen zusammenbrach und bitterlich weinte. Er hatte ihn, dieser verfluchte Teufel, er hatte einen Weg gefunden, ihm eine Lektion zu erteilen … Doch musste es ausgerechnet diese besonnene Seele sein, die er zu seinen Zwecken auserkoren hatte?
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er die zitternde Hand fest um den Griff des Kukri legte. Du bist zu weit gegangen, huschte ein hasserfüllter Gedanke durch seinen Kopf, es reicht! STIRB, du Höllenbrut!
Er holte weit aus, schleuderte das Messer in den Teich und nahm Max in den Arm.
Als er später in das eiskalte Wasser des Gartenteichs tauchte, wusste er, dass der Teufel besiegt war – und verstand jäh Reis Worte. Bonus vir semper tiro: ein guter Mensch bleibt immer Anfänger – so hatte er ihm an jenem Tag im Krankenhaus einen kleinen Hinweis auf Max' wahres Wesen gegeben. Und was noch viel wichtiger war: In zu klarem Wasser leben keine Fische … und mit einem zu reinen Mann verkehren wenige.
All diese Dinge gingen ihm innerhalb von Sekundenbruchteilen durch den Kopf, während er den Impuls unterdrückte, einen lauten Verzweiflungsschrei auszustoßen. Hiromis Lippen waren zart und gepflegt, wie die der meisten Mädchen, die er kannte, und ihre Gefühle spiegelten sich in jeder ihrer Bewegungen unmissverständlich wider – sie war aufgeregt, liebte ihn mit jeder Faser ihres Körpers und zerfloss wie Butter unter seinem Kuss.
Auch sein Herz überschlug sich fast vor Aufregung, doch war Hiromi nicht der auslösende Faktor für den Orkan der Gefühle, der in seinem Kopf losbrach – nein, es waren Erinnerungen, die in ihm aufquollen wie kochende Milch.
Max, der in schwarz gekleidet im Flughafengebäude stand, als seine Maske bröckelte und die Tränen aus ihm heraus brachen. Max, der ihn, der er völlig übermüdet war, an der Hand nahm und aus dem Dojo rannte. Max, der sich aus panischer Furcht vor jenem Namen gegen seine Umarmung sträubte. Und Max, der seine Lippen streifte, weil er glaubte, er würde es nicht bemerken. Es beherrschte seine Gedanken ein Junge, der mit dem warmen Schein der Sonne konkurrierte, in dessen Augen immerzu das tiefe Azurblau einer tropischen Lagune strahlte, der selbst gefangen in einem Käfig freier als ein Vogel war, weil er das Leben liebte und vom Leben geliebt wurde. Seine Nähe war die Arznei für Takaos zerrüttete Seele, nach der er sich zu jeder Tageszeit sehnte und immer gesehnt hatte, die er brauchte, wie die Pflanzen das Sonnenlicht.
Zu Beginn hatte er es kaum glauben können. Doch es musste wahr sein, er liebte ihn, und dabei war ihm völlig egal, welchem Geschlecht Max angehörte – er liebte ihn als Mensch, liebte seine zerbrechliche und doch so starke Seele, liebte ihn äußerlich und innerlich und verzagte an dieser einen Frage, die in den vergangenen Monaten stetig an Bedeutung gewonnen hatte.
Wurde er widergeliebt?
Er brachte einen kleinen Abstand zwischen sein Gesicht und das Hiromis. Die Lippen, die er küsste, waren die falschen, doch diese Bekräftigung seines Verdachtes hatte er benötigt, um sich seiner Liebe sicher zu werden. Und es war noch nicht vorbei. Er musste herausfinden, ob Max seine Gefühle erwiderte. Er würde es ihm erzählen, was an diesem Nachmittag vorgefallen war, und wenn er tobte und aus Eifersucht dagegen ankämpfte, dann wusste er, dass es Liebe sein musste – ja, so würde er es machen. Bonus vir semper tiro …
Er wollte kein Anfänger mehr sein.
„Ich liebe dich", flüsterte er und das Mädchen begann zu strahlen.
Als es auf den Abend zuging, erhielt Takao einen Anruf von Daichi. Zum selben Moment verkroch sich die seltsam stille Hiromi in die Küche des Cappuccinos, wo sie die nächste halbe Stunde zubrachte, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben.
„Opa macht sich Sorgen um dich, komm' endlich nach Hause!", murrte Daichi ins Telefon.
Takao hätte geschmunzelt, wäre er nicht so aufgeregt gewesen. „Was redest du da?", spottete er mit unvermeidlich zittriger Stimme. „In den letzten zehn Monaten, neun Tagen, neunzehn Stunden und …" – er warf einen Blick auf die Uhr – „… zweiunddreißig Minuten, kurz: seit meinem neunzehnten Geburtstag, hat sich Opa nicht mehr darum geschert, wann ich nach Hause komme. Vermisst du mich, oder was gibt es, Daichi?"
„Was'n mit dir los? Wo ist Max?", fuhr Daichi unbeirrt fort.
„Nicht bei mir."
„… Hm." Damit legte Daichi auf und Takao seufzte tief. Er konnte ihn zurzeit einfach nicht verstehen, es war ihm unmöglich.
Er legte das Handy vor sich auf den Tisch und starrte es an, anstatt Hiromi zu folgen. Was sie dachte, weshalb sie all die Zeit so andächtig vor sich hin geschwiegen hatte, nachdem sie ihn mit schüchternen Küssen überfallen hatte, die er missmutig über sich hatte ergehen lassen, und wieso sie in die Küche gegangen war – all das interessierte ihn im Moment weniger als ein Haufen Hundekot neben einem hässlichen Bäumchen. Er lauschte dem Ticken der großen, altmodischen Standuhr …
… sollte er ihn anrufen?
Nein. Er und Hiromi hatten sich gerade erst gefunden – wie es in den Augen Hiromis und anderer aussehen sollte – und das einzige, was ihm einfiel, war ans Telefon zu laufen, und Max anzurufen. Das war zu auffällig. Er musste auf seinen Anruf warten, auch wenn ihm das verdammt schwer fiel.
Abwartend legte er den Kopf auf die Arme, ohne das Handy mit dem Hello-Kitty-Anhänger aus den Augen zu lassen, und kam sich jäh wie ein verliebtes Schulmädchen vor, das auf den Anruf ihres Liebsten wartete. Seine Fingerkuppen trommelten auf die polierte Tischplatte. Sein Fuß klopfte unbewusst im Rhythmus seines Herzens auf die Querstange des Barhockers, auf welcher er die Füße abstützte. Selbst die leise Musik im Hintergrund drang nicht mehr bis zu ihm vor – nach fünf Minuten erst sah er wieder auf die Uhr.
Neunzehn Uhr vierzig.
Seltsam – die Zeit des Wartens war ihm wie eine volle Stunde vorgekommen.
Gelangweilt öffnete er seine ordentlichen Haare und strubbelte sich über den Kopf, dann band er sie wieder zu einem notdürftigen Pferdeschwanz zusammen. Er kugelte die Stirn auf dem Tisch, bis sie ihm wehtat, streckte sich, drehte sich herum und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Theke, seufzte, kam aus dem Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Stöhnend setzte er sich wieder hin und balancierte das geleerte Teeglas auf der flachen Hand, betrachtete das Café durch es hindurch und fiel zum zweiten Mal vom Hocker, als es ihm aus dem Griff rutschte und zu zerschellen drohte. In einer spektakulären Auffangaktion holte er sich genug blaue Flecken, um zu entscheiden, einfach auf dem Boden sitzen zu bleiben – bis jedoch eine halbe Stunde vergangen war, fiel scheppernd der Kleiderständer um, holte er sich bei dem Versuch, sich am Rücken zu kratzen, eine Zerrung, analysierte er sämtliche Pflanzen des Zimmers bis zur Wurzel und stellte er alle Stühle am Fenster um.
Anschließend stand er wieder ratlos vor der Theke und beobachtete sein Handy, als könne es jeden Moment losgehen. Und gerade, als er sich dazu entschloss, doch selbst anzurufen, stand plötzlich Hiromi im Türrahmen – er nahm das Telefon in die Hand und hob überrascht den Kopf – sie lächelte!
„Takao", sagte sie mit sanfter Stimme, „ich liebe dich auch …"
Das Handy begann zu vibrieren. Kurz darauf setzte ein melodiöses Lied von Within Temptation ein und Takao wusste es, er fühlte es – es musste Max sein …!
Doch eine innere Lähmung hinderte ihn daran, abzuheben. „Was?", erwiderte er heiser. Sofort merkte er, es war nicht ihre Frage, die ihn so aus der Bahn warf, sondern ihre geschwollenen Augen, ihr Tränen durchweichtes Antlitz, die roten Flecken auf ihren Wangen und die Spuren auf ihrem Make-up – Hiromis gesammelter Schmerz traf ihn wie ein Pfeil mitten ins Herz und für einen Moment sah er eine langjährige Freundin vor sich stehen, und nicht das Opfer eines riskanten Experiments.
„Warum weinst du?", fragte er. Angst übermannte ihn. Hatte sie letztendlich etwas bemerkt?
Sie holte tief Luft, kämpfte mit den Tränen und schüttelte den Kopf. „Weil ich – weil ich so glücklich bin!", presste sie heraus. Takao kam sich vor wie in einem schlechten Film – was nur wurde hier gespielt?
Der zurück schnellende Gedanke an Max lenkte seine Aufmerksamkeit mit einem dumpfen Gefühl im Magen auf das Handy und ließ ihn aufschrecken. Er hob ab – und Hiromi kam um die Theke gelaufen.
„Ja?"
„Moshimoshi, Takao!", antwortete ihm Max und für einen Moment glaubte er, einen Tick Nervosität aus seiner Stimme herausgehört zu haben. Takao schlug das Herz wie ein Presslufthammer gegen die Brust. Jetzt nur keinen Fehler machen … ganz bestimmt würde er eifersüchtig reagieren, er wusste es einfach, er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Liebe nicht von ihm erwidert werden würde, das war einfach absurd –
„Hi, Max", entgegnete er und Hiromi warf sich gegen seine Brust. Das Seufzen, welches sie dabei ausstieß, musste durch das Telefon leicht zu hören gewesen sein …
„Wie war es an der Uni?"
Mit geweiteten Augen presste Max die Hand aufs Herz und versuchte, ruhig durchzuatmen. Takaos Stimme durchfuhr ihn wie ein Blitz, heiße Schauer jagten kalte Schauer, seine Nackenhärchen stellten sich auf. Nervös rieb er die in Strümpfen steckenden Zehen aneinander. „Funny", antwortete er verkrampft, ohne zu bemerken, dass er englisch sprach, „das Bunka College ist eine Wucht. Enormous."
Was sollte das? Sie sprachen doch jeden Tag miteinander. Weshalb also war er so unbeschreiblich aufgeregt? Lag es daran, dass sich Kai und Rei schon den ganzen Nachmittag über so merkwürdig verhalten hatten?
„Verstehe schon, enormous" Takao schien zu grinsen. Doch da war noch ein anderes Hintergrundgeräusch … es klang nach einem Seufzen! „Sag' schon, wo steckst du? Bist du schon zuhause?"
Zuhause. Max musste lächeln – er sagte es, einfach so, zuhause … „Nein, ich bin bei Kai und Rei. Sie haben mich mitgeschleift." Da, schon wieder – diesmal eine weibliche Stimme, wenn auch nur geflüstert, er erkannte sie deutlich! Max sackte der Magen einen Stock tiefer. Hart schluckte er. „Bist du allein?"
Einen zerschlagenden Moment lang schwieg Takao andächtig. Doch als er sprach, wünschte sich Max, er hätte brav den Mund gehalten. „Ich bin bei Hiromi, im Cappuccino, du weißt schon, im Café ihrer Eltern."
Dann könnte ich dich doch abholen! Das Café wollte ich ohnehin schon immer mal sehen" Jegliches Lachen war Max vergangen, sein Antlitz war eine kreideweiße Steinwand, die eine grauenvolle Vorahnung erzittern ließ.
„Ich weiß nicht, ob Hiromi damit einverstanden ist …", erwiderte Takao.
„Was?"
„Hiromi und ich haben uns geküsst", fuhr der andere unbeschwert fort, „wir sind jetzt ein Paar!"
Max blieb die Stimme schmerzvoll im Hals stecken. Schreckgelähmt und wie betäubt starrte er vor sich hin, auf einen unbestimmten Punkt in der Leere seines Kopfes, die azurblauen Augen düster und weit aufgerissen und im Brustkorb einen verkrampften Kloß, der einem Schlag hinterher jagte, den er verloren hatte, nachdem sein Gehirn Takaos Aussage registriert und verarbeitet hatte.
Hiromi. Der Name traf ihn wie der Giftstachel eines Skorpions. Hiromi … er hatte sie noch nie leiden können.
„D-Das freut mich für dich", sagte er, bemüht, es fröhlich klingen zu lassen, krallte die Finger in seine Brust, bis es wehtat und versuchte das Brennen in seinen Augen wegzuzwinkern. Er sackte im Sofa zusammen und wünschte sich, für immer und ewig unter ihm verschwinden zu dürfen.
„Wirklich?", fragte Takao.
„Ja, wirklich. Ich freue mich mit dir."
Trockenen Mundes rang Takao nach Worten. Nein. Nein, so hatte es nicht laufen sollen. Was sollte er sich denn unter „Ich freue mich mit dir" vorstellen? Diese Aussage konnte gleichgesetzt werden mit „Ist mir egal" oder gar „Ich bin einverstanden" – und das war inakzeptabel, absolut unannehmbar, so hatte er es sich nicht vorgestellt …!
Hilflosigkeit überfiel ihn. Auf der einen Seite umklammerte ihn eine Freundin, die ihn seit Jahren liebte und noch viele weitere Jahre hassen würde, hatte sie erst herausgefunden, was für ein Spiel er mit ihr trieb; und auf der anderen Seite lachte ihm die Sonne seines Lebens ins Ohr, er konnte ihn fast leibhaftig vor sich sitzen sehen, ein glückliches Strahlen in den Augen, aufrecht und grinsend wie ein Honigkuchenpferd, oder viel mehr wie ein verspieltes Löwenbaby …
Seit er bemerkt hatte, was er tatsächlich für Max fühlte, war für ihn immer außer Frage gestanden, dass diese Gefühle irgendwann auf Gegenseitigkeit beruhen würden. Natürlich, was sollte er auch anderes denken – schließlich hatten sie sich fast geküsst! War das nicht genug des Zeichens?
Takao stöhnte leise. Er fiel in ein tiefes, schwarzes Loch, und es war niemand da, der ihn auffing. Nicht einmal Hiromi – und erst recht nicht Max. Denn dieser war ihm jäh ferner denn je zuvor.
Er musste etwas sagen. Irgendetwas.
„Wann kommst du nach Hause?"
Max zögerte. „Weiß noch nicht."
„Okay. Bis später."
„Ja, bis später."
Wie hypnotisiert legte er auf. Er konnte einfach nicht fassen, was hier gerade geschehen war. „Max?", fragte Hiromi finster, doch Takao hörte sie bereits nicht mehr; hörte nichts und fühlte nichts, auch nicht den Kuss, den sie ihm wie einen Besitzanspruchsstempel auf die Lippen drückte.
„Ja, bis später", verabschiedete sich Max und Rei betätigte fix den Schalter des Wasserkochers. Kai stand wie angewurzelt dort, wo er seit drei Minuten stand, und sah ihn unbeeindruckt an. Rei blickte nicht sonderlich zufrieden drein – noch wussten sie überhaupt nichts, dass Max so fröhlich reagiert hatte, konnte zwar etwas Positives bedeuten, weniger jedoch der Inhalt seiner Worte – und da, plötzlich: ein Geräusch von der Balkontür!
Simultan beugten sich Kai und Rei vor, um einen Blick zu riskieren, und so konnten sie Max dabei beobachten, wie er die Tür zu der kleinen Terrasse öffnete, hinaus an die kalte Winterluft trat und sich über das Geländer lehnte …
Einen Herzschlag später ließ ein markerschütternder Schrei Rei das Blut in den Adern gefrieren. Aus voller Kehle brüllte Max hinaus in die hereingebrochene Nacht, schrie sich die Seele aus dem Leib, sodass Kai und Rei kaum zu atmen wagte und sich nur entsetzt anstarrten. Schockiert ob dieses unerwarteten Gefühlsausbruches hob Rei die Hände zum Gesicht und hatte jäh das Gefühl, etwas getan zu haben, wovon er lieber die Finger gelassen hätte – denn schrie jemand derart verzweifelt in die Nacht, der gerade eine gute Nachricht zu hören bekommen hatte?
Eine gute Minute lang lag nichts als Max' trauriger Ruf nach Hilfe in der Luft, dann kehrte schlagartig Stille ein. Sie hörten Max' schnellen Atem, dann ein dumpfes Geräusch, der wie ein Startschuss wirkte und das versteinerte Paar und seiner Trance riss. Eilig stürzte Rei zum Balkon und fand Max auf einem der mattschwarz lackierten, altvenezianischen Stühle sitzen, einem vom Wind verwehten Häufchen Elend gleich, die Hände um das Geländer gekrallt und den Kopf beinahe bis auf den Schoß herabgesenkt.
Allein sein Anblick schmerzte in Reis Augen. Betroffen und Hilfe suchend blickte er zu Kai, wusste nicht, was er sagen sollte – Max selbst war es, der diese Frage unwichtig werden ließ.
„Ihr wisst es.", flüsterte er, einen beängstigend drohenden Unterton in der Stimme, den Rei nie zuvor in ihr vernommen hatte, geschweige denn hatte vernehmen wollten. Wenn Max so sprach, dann kam das einem Verrat des Tageslichts gleich.
„Was wissen wir?", ergriff Kai unveränderter Miene das Wort.
„Was, was" Max lachte spöttisch in sich hinein, ohne sich auch nur einen Zentimeter aus seiner Elendsposition zu bewegen. „Was für eine Frage. Dass ich schwul bin, was sonst? Einer von euch Verrätern hat doch nach meinem Auftauchen meine Mum angerufen. Also los, spuckt's schon aus, wer war es? Takao? Oh, bitte nicht Takao!"
„Nein", erwiderte Rei unsicher. „Nicht Takao."
„Ich war das.", sagte Kai und Max schien noch ein wenig mehr zu schrumpfen.
„Ja, verflucht", stieß er heraus, „ich bin's. Aber ist das ein Grund, den eigenen Sohn zu hassen? Deshalb hat meine Mum Rick gebeten, mich nach Hause zu begleiten. Deshalb ist das alles passiert. Weil sie hassen, was nicht so fühlt wie sie. Weil sie ihren … eigenen Sohn hasst."
Max' gezischte Worte hingen in der Luft wie giftige Gase. „W-Was ist denn passiert?", wagte sich Rei einen Schritt vor und erntete einen Schlag in die Seite von Kai.
Abfällig schnalzte Max mit der Zunge. „Takao hat also tatsächlich dicht gehalten", stellte er fest, was Rei einen bösen Blick bescherte. Er hatte soeben grandios verhindert, dass Max ihnen von den Ereignissen des 21. Septembers erzählte. „Nichts. Es ist nichts passiert. Es ist besser so, wenn ihr es nicht wisst. Aber das eine, das wusstet ihr, nämlich dass ich schwul bin. Ihr wusstet, dass ich für Takao durch Feuer gehen würde – und trotzdem habt ihr Hiromi – ich – ich fasse es einfach nicht!"
Erschrocken zuckte Rei zusammen. Sie hatten Max' Kombinationsgabe gewaltig unterschätzt – er wollte sich nicht vorstellen, wie er sich jetzt fühlen musste. „Hiromi hatte Erfolg?", fragte er vorsichtig.
„Ts … Das ist doch wohl offensichtlich! Die beiden sind ein Paar. Aber was rege ich mich überhaupt auf? Wenn sie sich lieben, ist Takao nicht schwul. Ich habe mich eben Illusionen hingegeben. All … die Jahre …" Leiser und leiser wurde seine Stimme, kam nah an die völlige Unhörbarkeit heran. „Scheiße", keuchte er und zog die Nase hoch.
„Oh Gott – Max –" Rei presste sich die Hand auf den Mund und kämpfte gegen den Impuls an, aus Solidaritätskummer zu weinen. Dieser Blondschopf tat ihm so unendlich Leid … was hatte er nur angerichtet …!
„Ich bin doch nur nach Amerika gegangen, weil ich mich ein ganzes Jahr nach der WM 2005 mit meinen verqueren Gefühlen herum gequält hatte! Es ist einfacher, sich einzubilden, man würde geliebt werden, wenn man weit von seiner … großen Liebe getrennt ist … Es war mir so – so peinlich vor euch!" Leise erbebten seine Schultern. Er ließ die Hände herab sinken und krallte die Finger in die Haare, presste die Unterarme auf die Ohren und schüttelte seinen Schopf. Diese Erinnerungen, er wollte sie aus seinem Kopf werfen, sie gehörten dort nicht hinein, passten nicht zu seiner wundervollen Welt, in der er von Takao geliebt wurde …
„Deshalb also", murmelte Rei. Nur zu gut konnte er sich an den Tag erinnern, an dem er und Kai für sich beschlossen hatten, dass Max niemals wegen der Schule nach New York zurückgekehrt sein konnte. Jetzt wussten sie also den tatsächlichen Grund – doch verfluchten sie ihre Neugier im selben Augenblick.
„Ja, deshalb. Aber irgendwie bin ich auch froh, nichts unternommen zu haben. Wo wäre ich da nur gelandet … aber … aber …"
Er hatte ihn doch umarmt. Er hatte seine Lippen berührt. Er hatte ihm geholfen und gerade am Telefon, hatte er da nicht ein wenig enttäuscht geklungen? Nein – selbst jetzt noch arbeitete sein Hirn an Illusionen, an Bildern, die niemals Realität werden konnten, und wie sehr hasste er sich dafür, für diese Gefühle, für diese Gedanken – oh, hätte Rick nur geschossen, all diese Schmerzen wären ihm erspart geblieben …
Plötzlich verspürte er Reis sanfte Hand auf der Schulter. Sie kam ihm vor wie die eines Fremden.
„Zugegeben", flüsterte er ihm zu, „wir haben nicht damit gerechnet, dass Takao Hiromis Liebe erwidern würde. Im Gegenteil, wären wir nicht auf eine Bestätigung aus gewesen, dass Takao schwul ist, hätten wir Hiromi gar nicht erst unterstützt, wenn man es so nennen will. Der Schuss ging in der Tat gewaltig nach hinten los." Zitternd schlang er die Arme um Max und drückte ihn an sich, suchte nach einem Weg, sein Gewissen zu beruhigen, welches ihm bittere Tränen in die Augen trieb.
Es war ein unheimliches Trauerspiel. Was so amüsant begonnen hatte, endete in einem Desaster der Empfindungen. Dieser so ordentlich zurecht gelegte Plan war aus aller Fuge gerutscht und hatte in eine völlig ungeplante Richtung ausgeschlagen, ohne dass Rei auch nur eine einzige Fuge hätte retten können. Takao schien glücklich zu sein, man wollte meinen, dies war der einzig positive Punkt in diesem Resultat …
… doch wenn er sich Max so ansah, dann zählte dieser Punkt nicht wesentlich.
„Rei", wisperte dieser heiser, „versprich' mir etwas."
„Was immer du willst", entgegnete Rei erstickt, Kais tröstende Hand auf dem Kopf.
„Versprich mir, dass du Takao nichts hiervon erzählst. Von meiner Reaktion. Oder dass ich schwul bin."
„Okay."
„Mit keiner Silbe."
„Niemals."
„… Danke."
In dieser Nacht fuhr Max nicht mehr nach Tokyo. Er schlief so schlecht wie noch nie zuvor, auf dem Sofa im Wohnzimmer, nur mit einer dünnen Decke beglückt, zwischen beiseite gerafften Stoffen in einem Chaos, wie es nur angehende Modedesigner verursachen konnten. Die ganze Nacht über stellte er sich wider Willen vor, die weiße Kleiderpuppe besäße einen Kopf und starre spottend auf ihn herab, und nicht selten bildete er sich ein, das es Takaos Gesicht war, welches er an ihr sah.
