Autor: OgaShi
Kapitel: 11 von ?
Disclaimer: Tief in unseren Herzen wissen wir doch alle insgeheim, dass Beyblade den Fans gehört. v.v Nur leider haben meine immer wiederkehrenden Besuche bei der Bank endgültig bestätigt, dass ich auch damit kein Geld verdiene.
Kapitel Elf
Die Ruhe vor dem Sturm
Wie wertvoll Reis täglicher Weckruf tatsächlich für Takao war, bekam dieser spätestens an jenem Morgen zu spüren, an dem er hoffnungslos verschlief, obwohl es genau der Tag war, an dem ihm dies auf gar keinen Fall passieren durfte. Eine wichtige Prüfung stand vor der Tür und ein unbemerkter Stromausfall in der Nacht hatte seinen Wecker außer Gefecht gesetzt – was ihm leider erst bewusst wurde, als ein kränklich blasser Daichi im Schlafanzug in sein Zimmer gerumpelt kam.
„Takao, Takao", rief er mit gebrochener Stimme und krabbelte zum Futon hin, „wach schon auf, Takao!"
Die Heizung lief auf höchster Stufe, in der Nacht hatte sich das Zimmer auf annähernde Saunatemperatur aufgeheizt und die Luft war schwül und stickig. Takao lag mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen auf der unteren Hälfte seines Bettes, die Decke weit von sich gestrampelt. Das erste, was er sah, als er die Augen öffnete, war das blendende Licht der Morgensonne, wie es durch das Fenster fiel. Tageslicht verhieß nichts Gutes: er musste so früh aufstehen, um rechtzeitig in die Uni zu kommen, dass es im Winter noch dunkel war, wenn er das Haus verließ.
Diese Sonne aber lachte schadenfroh über das Haus auf der anderen Straßenseite. Und das war nicht gut. Gar nicht gut.
Er brauchte nur zwei Sekunden, um diese Tatsache in seinem verschlafenen Hirn zu verarbeiten, und eine weitere Viertel Sekunde, um hellwach auf dem Futon zu stehen und einen lauten Schrei auszustoßen. Daichi sprang vor Schreck einen Satz zurück, dann glitten ihre Blicke synchron auf den Wecker, der 01:19 Uhr anzeigte.
„REI!", schrie Takao.
„Sag' nicht, du musst heute in die Uni?", fragte Daichi grinsend.
„WIE SPÄT IST ES!"
„Halb acht!"
„RAAH!" Und mit diesem Kampfesschrei stürmte Takao aus dem Zimmer. Seine aufgeregte Stimme hing zwischen den Wänden des Dojos, erst kam sie aus dem Badezimmer, dann aus der Küche, dann verstrickte sie sich in eine Blitzdiskussion mit seinem Großvater, auf der Suche nach einem Schuldigen, und plötzlich stand er wieder in seinem eigenen Zimmer, wo sich Daichi in die Wärme von Takaos Bett gekuschelt hatte.
„Warum machst du dich nicht fertig für die Schule?", blaffte er Daichi an, während er versuchte, sich eine Baskenmütze auf den Kopf zu setzen, die Jacke überzuziehen, einen Schal umzulegen, ohne sich dabei zu erwürgen, und seine Tasche zu finden – und zwar alles gleichzeitig –, doch der Kleine versank nur noch tiefer in seinem beschlagnahmten Bett.
„Ich hab' gekotzt."
„Wann!"
„Heute morgen."
Als alles saß, stellte Takao fest, dass sein Zopf schief hing, also feuerte er die Mütze auf den Schreibtisch und band ihn sich neu – diesmal noch schiefer. „Hast du dich irgendwo angesteckt?"
„Vielleicht ein bisschen zu viel getrunken."
Dieser Satz bewegte Takao dazu, sich einen Atemzug lang von seinem Tun abzuwenden. „Du hast was! Wann?"
„Gestern Abend, in einer Karaokebar in Ginza."
„Opa hat das erlaubt! Ich fasse es nicht!" Takao stemmte die Hände in die Hüften. „Du bist noch viel zu jung, um dich nachts in Ginza herum zu treiben!"
„Wir waren feiern."
„Mitten in der Woche! War was?"
„Ja. Mein sechzehnter Geburtstag."
Takao glaubte, an seinen eigenen, nicht ausgesprochenen Worten auf der Stelle ersticken zu müssen. Seine Brust verkrampfte sich, als er stumm nach Worten rang, die ihn aus dieser peinlichen Situation retten konnten, doch sie wollten und wollten ihm nicht in den Sinn kommen. Es war wahrlich an der Zeit, sich über ihre kleine Beziehung Gedanken zu machen, wenn er nach fünf Jahren des Zusammenlebens immer noch Daichis Geburtstag vergaß. Doch das war es nicht, was ihn so schmerzte – er hatte den Geburtstag nicht wirklich vergessen, nein, vor einer Woche hatte er noch an ihn gedacht. Sein dämlicher Plan bezüglich Hiromi und Max hatte ihn einfach übertuscht. „Daichi –"
„Vergiss es einfach, Takao" Mit diesen Worten rollte Daichi sich ein und schloss die Augen. „Das kannst du doch ganz gut."
„Es tut mir leid, Daichi! Bitte vergib' mir!", flehte er, hin und her gerissen zwischen der davon rennenden Zeit und seinem gekränkten Freund. „Ich mach's wieder gut, ich versprech's dir!"
„Ruf' in meiner Schule an."
„Okay!"
„Und jetzt geh' endlich in die Uni."
„Okay!"
Doch damit war es nicht getan. Mit einem qualvoll schlechten Gewissen und die aufeinander gelegten Hände so fest auf die Stirn gepresst, dass er gegen den Türrahmen lief, jagte er aus dem Dojo. Nicht genug damit, dass er in dieser Nacht (bis auf die letzten zwei Stunden) kein Auge zu getan hatte, weil Max nicht aus seinem Kopf hatte weichen wollen, jetzt plagte ihn zusätzlich der Gedanke, wie er sich aus diesem Dilemma wieder herauszuholen gedachte. Wenn er sich nicht bald etwas Gutes einfallen ließ, lief er Gefahr, sowohl von Daichi, als auch von Hiromi auf Lebzeiten gehasst zu werden – nun, bei Hiromi ließ sich das wohl kaum verhindern, doch zumindest den kleinen Affen musste er ruhig stimmen …
In den Straßen wich die schläfrige Morgenatmosphäre allmählich dem Alltag. Schüler in dunklen Uniformen und Junior High School Schülerinnen in Matrosenkleidchen tummelten sich in Grüppchen auf den Straßen, ein Zeitungsbote auf Inlineskates brauste von Haus zu Haus und überfuhr dabei haarscharf eine Katze, alle Naselang kurvte ein Auto vorbei und aus manchen Häusern drangen Stimmen von Fernsehnachrichtensprechern. Der Schnee des Vortags war bereits vollständig davon geschmolzen, sodass es hier und da von einer Straßenlaterne tropfte, oder er über eine Pfütze springen musste.
Wie von der Tarantel gestochen in Richtung Hauptstraße rennend, in der Hoffnung, die richtige Straßenbahn zu erwischen, kramte er sein Handy aus der Jackentasche und wählte die Nummer von Daichis High School. Während er mit der übertrieben höflichen Sekretärin sprach, stürmten die Gedanken der vergangenen Nacht in seinen Kopf zurück und er erinnerte sich an jegliche Abmachungen, die er mit sich getroffen hatte.
„Wünschen Sie ihm bitte gute Besserung von uns", bat die Sekretärin und ihre Bitte wurde von einem scheppernden Geräusch untermalt, das kurzzeitig Takaos Aufmerksamkeit auf sich zog. Er drehte sich herum, sagte „Vielen Dank, Ichimaru-san, ich werde es ihm ausrichten", sah ein Straßenschild und die Füße eines am Boden liegenden Jungen, verkniff sich ein Grinsen und rannte weiter. „Einen schönen Tag noch", wünschte ihm die Sekretärin. Takaos Interesse aber war längst in Sphären jenseits der Gegenwart abgedriftet.
Er hatte beschlossen, um seiner eigenen und seiner Freunde Willen, Hiromi alle Karten offen auf den Tisch zu legen. Obwohl er ihre Reaktion längst erahnte, wollte er ihr reinen Wein einschenken und um ihr Verständnis flehen, so unwahrscheinlich es auch schien, dass sie ihm vergab. Gleich heute, wenn er diese Prüfung hinter sich gebracht hatte, für die er die vergangenen Wochen still und heimlich gepaukt hatte, würde er sie anrufen und dann schnurstracks in sein Verderben rennen. Nun, eine Frau, die ihn hasste, war in seinen Augen noch immer erträglicher, als eine Frau, die glaubte, sie seien ein frisch verliebtes Paar.
Als Takao keuchend und schnaufend an der Haltestelle der Straßenbahn ankam, blinkten ihn gerade noch die Rücklichter derselben an, ehe sie um die Ecke bog und ihn allein zurückließ. Er stützte sich schnellen Atems auf den Knien ab, fluchte einmal laut und ersann einen geeigneten Schlachtplan, zum rechtzeitigen Erreichen der Uni. Nachdem er eine Minute später zu keinem brauchbaren Ergebnis gekommen war – zumindest hielt er Autosurfing unter den gegebenen Umständen für einen Tick zu riskant –, beschloss er kurzum, bis zur nächsten U-Bahn-Haltestelle zu laufen. Auch, wenn es in ganz Japan vermutlich nichts Gefährlicheres gab, als eine U-Bahn zur Rushhour (außer Autosurfing natürlich).
Sein Marathon durch die Innenstadt des Bezirks erinnerte ihn schwer an das Märchen vom Rotkäppchen und dem bösen Wolf. Er war von seinem gewohnten Weg abgekommen und je weiter er rannte, desto stärker wurde das Gefühl, verfolgt zu werden – nein, es war nicht nur ein Gefühl, es war eine Ahnung, die sich an seinem Nacken festklammerte. Hätte ihn nicht die Angst beherrscht, zu dieser wichtigen Semesterprüfung zu spät zu kommen, wäre er womöglich stehen geblieben und hätte sich umgewandt: doch dann wäre es fraglich gewesen, ob er jemanden verdächtigen hätte erkennen können, denn die Straße war voll von Menschen. Zehn Minuten brauchte er, bis er die belebten Treppen des U-Bahnhofs hinab flog und sich wie ein Wiesel durch die Massen in den Hallen wand, in letzter Sekunde durch die sich schließende Tür eines U-Bahnwagons sprang und dort einen Blondschopf halluzinierte, der schnell hinter den vielen Menschen verschwand, die ihn an die Tür drückten. Nach fünfzehn Minuten des Sauerstoffmangels spuckte die Bahn ihn und jegliche Massen hinter ihm in Ginza wieder aus und kaum war er prustend und hechelnd wieder an der frischen Luft angekommen, zwang ihn der große Wako-Glockenturm weiter, der sogleich dröhnend acht Uhr schlug.
Während er über eine Ampel hetzte, verließen ihn endgültig seine letzten Energien. Er schaltete um auf Notstrom, begann schwer atmend voran zu kriechen und verließ als letzter den riesigen Zebrastreifen. Letztendlich gönnte er sich eine kurze Pause. Er stellte fest, dass er trotz der niedrigen Temperaturen schwitzte wie ein Iltis, zog sich die Jacke aus und atmete tief durch. Noch drei Minuten, ermutigte er sich selbst, dann bist du da und nicht einmal wirklich zu spät. Da fiel sein Blick auf eine digitale Uhr an der hohen Wand eines Wolkenkratzers, die in dem Moment auf die Temperaturanzeige umschaltete. Takao verengte die Augen. Stand dort wirklich sechzehn Grad Celsius? Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Wind heute nicht so bissig blies, wie am Vortag, und er erinnerte sich gerunzelter Stirn daran, wie er sich im Schneesturm zum Cappuccino gekämpft hatte, was in Anbetracht der Tatsache, dass heute kein Schneezipfel mehr zu sehen war, eine recht seltsame Vorstellung war – wo es doch ohnehin recht selten in Tokyo schneite …
Apropos. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf das Eckcafé – ob Hiromi schon da war? Ob sie heute Schicht hatte? Und ob sie ihn sehen konnte? Für einen Augenblick ließ er die Zeit Zeit und die Uni Uni sein, reckte den Hals und spähte zum Cappuccino hinüber, in dem gerade das Licht anging. Wie durch ein Wunder lichtete sich der Wald aus Menschen und Autos auf der Kreuzung und es entstand ein Pfad zwischen ihm und einem jungen Menschen im orangefarbenen Mantel, der dort vor der in Glas aufgelösten Wand stand. Es war nicht das Mädchen mit dem haselnussbraunen Haar, doch diese Person fesselte seinen Blick und ließ sein Herz in einen Tornado der Gefühle ausbrechen.
Max. Max stand vor dem Cappuccino. Was tat er dort? Sollte er zu ihm gehen? Nein, das war falsch, die Frage lautete viel mehr: Wollte er zu ihm gehen? Alles aufklären? Jetzt und auf der Stelle? Die Gelegenheit zog ihn förmlich magisch an, legte sich in Form von Fesseln um seine Hände und zerrte ihn in Max' Nähe. Takao biss sich auf die Unterlippe. Ein dumpfes Stechen in seiner Brust ließ ihn einen Schritt zurück gehen und bewegte ihn zum Weitereilen, obgleich er wusste, dass es nun kaum mehr einen Sinn machte, zur Prüfung zu erscheinen, denn seine Gehirnzellen hatten wie die Nadel eines Kompass' in die Richtung seines ganz persönlichen Sonnenscheins ausgeschlagen und waren nun für jegliche andere Art des Denkens vollkommen unbrauchbar geworden.
Es gab in ganz Tokyo nichts, was Max mehr hasste, als die U-Bahnen zur Rushhour. Er hatte es nie jemandem erzählt, doch litt er ganz furchtbar unter Platzangst, und spätestens, als er wie ein gebrochener Mann die Treppe an die Oberfläche erklomm, schwor er sich, nie wieder einen Schritt in diese fahrende Hölle setzen – nicht einmal, wenn es wieder darum ging, Takao auf den Fersen zu bleiben.
Nachdem er den riesigen Bahnhof verlassen hatte, hatte er den riesigen Querzebrastreifen überquert, um Takao von der gegenüberliegenden Straßenseite weiter beobachten zu können. Er wusste selbst nicht, was er hier tat, geschweige denn, warum – es war ein simpler Instinkt gewesen, eine innere Stimme, die ihm mit einem Klaps auf den Hintern zum Laufen bewegt hatte. Nur hatte er es für besser gehalten, ungesehen zu bleiben, um etwaige Missverständnisse zu vermeiden – und nun stand er hier, vor den hohen Glaswänden des Cappuccinos, das er nur an den hohen, westlichen Lettern erkannte, welche die Frontseite zierten. Die Erkenntnis, dass ihn der Zufall direkt in den Herd all seiner Probleme getrieben hatte, traf ihn wie ein Blitz und ließ ihn Takao für einen Moment vergessen.
Im Cappuccino bewegte sich etwas. Die Deckenstrahler sprangen an und fluteten das Café mit weißem Licht, dann schritt eine zierliche Frau durch den geräumigen Raum, ein kleines Schild in Händen. Sie trug eine Tracht, wie er sie von den Deutschen kannte, und ihr feines, braunes Haar steckte in einer silbernen Spange, ihre Haut war für eine Japanerin ungewohnt bleich. Er konnte das Alter aus den Krähenfüßen um ihre Augen ablesen. Sie klebte das Schildchen mit zwei Streifen Tesa an die Eingangstür, schloss diese auf und verschwand wieder im Café, um hinter der Theke ihre Arbeit aufzunehmen. Max spähte hinein – es verblüffte ihn, wie ähnlich Hiromi ihrer Mutter sah, und wie unähnlich doch ihre Ausstrahlung war –, bevor er zu der Glastür lief und das Schild las.
Aushilfe gesucht, stand dort auf japanisch und englisch, geschrieben in einer spinnenhaften Schrift, Bitte beim Personal melden. Hiromis Familie suchte also eine Aushilfe. Aber warum zur Hölle interessierte ihn das? Was hielt er sich hier mit einem lächerlichen Schild auf, anstatt Takao zu verfolgen?
Takao! Max hielt den Atem an und linste hinüber auf die gegenüber liegende Straßenseite. Takao befand sich noch knapp auf seiner Höhe, ganz so, als sei er selbst stehen geblieben – er hatte ihn doch nicht etwa entdeckt? Egal, dafür war keine Zeit mehr. Er beeilte sich hinterher zu kommen und die Höhe zu halten, sich geschickt hinter dahin strömenden Menschen verbergend und geduckt gehend, wo sich die Massen lichteten.
So führte ihn Takao in eine Ecke von Ginza, in die er selbst noch nie gewesen war, hin zu einem gewaltigen renovierten Altbau, den Max beim Näherkommen als Universität identifizierte. Ein gusseisernes, verschnörkeltes Tor markierte den Eingang, umsäumt von zwei riesenhaften Statuen, die auf rechteckigen Sockeln thronten und auf die ankommenden Studenten herabblickten. Takao flitze durch das Tor, überquerte den Hof und brauste durch die Eingangstür auf der gegenüberliegenden Seite, wobei er haarscharf einen Dozenten über den Haufen rannte. Max stahl sich an den Sockel der rechten Skulptur heran, der gewaltig genug war, seinen Körper mühelos zu verbergen, und lugte auf den Hof. Ein paar kahle Bäume standen zwischen Bänken, rot gepflasterten Wegen und grünen Wiesenflächen, gesäumt vom herabgefallenen Laub des Herbsts. Max war im ersten Moment mehr als überwältigt vom äußeren Erscheinungsbild der Universität. Hier also studierte Takao Wirtschaftsmanagement?
Er kräuselte die Stirn. Sein Blick wanderte auf das Kupferschild, das am Fundament der Statue angebracht worden war, seine Augen wanderten über die Schriftzeichen und weiteten sich zusehends. Was er dort las, ließ sein Herz einen Schlag höher pochen, raubte ihm den Atem und hätte ihn beinahe zum Lachen gebracht – Wirtschaftsmanagement? Takao? Pustekuchen!
Noch lange hing er fassungslos mit den Augen an der glänzenden Platte, den Kopf voll rasender Gedanken und die Wangen gerötet vor Stolz. Warum hatte Takao es vor ihnen, vor Kai, Rei und ihm selbst, geheim gehalten? Er dachte an das Kukrimesser, welches noch immer auf dem Grund des Teiches liegen musste. Irgendwann wollte er ihn fragen, so beschloss er, irgendwann, wenn sich die stumme Fehde zwischen ihnen gelegt hatte. Doch vorerst begnügte er sich mit dem aufregenden Gedanken, dass ein weiteres Geheimnis Takaos in seinem wohlbehüteten, mentalen Schatzkästchen Platz gefunden hatte. Sorgfältig schloss er es ein, bereit, es ganz für sich zu behalten, als er sich von dem Schild abwandte, auf dem groß und eindrucksvoll geschrieben stand:
JURISTISCHE FAKULTÄT TOKYO.
Samstag, 19. Dezember 2009
Zum Wochenende stiegen die Temperaturen weiter an und erreichten letztendlich Reis persönliches Heizungsnutzlimit. Als Max am Freitagabend erschöpft in das Appartement zurückkehrte, war er gerade dabei, sämtliche Heizkörper in der Wohnung abzudrehen und die Fenster für die Nacht aufzureißen, um die frische, aber nicht unangenehme Luft hereinzulassen. Am dämmrigen Himmel tummelten sich die Wolkenfelder, doch anstatt eines Wolkenbruchs kam eine drückend schwüle Atmosphäre auf; eine Tatsache, der Rei keinerlei weitere Beachtung schenkte, als er Kais und Max' Stimmen aus dem Flur vernahm.
„Gott sei dank!", seufzte er und kam nicht umhin, seinen Sorgen Luft zu machen, in dem er Max in die Arme schloss. Den ganzen Tag lang hatte er sich den Kopf zerbrochen, gequält von einem schlechten Gewissen, hatte gedankenverloren an dem Hemd genäht, nicht einmal Kai an sich heran gelassen und gar gebilligt, dass Tütchensuppen zum Abendessen auf den Tisch kamen, weil er den Kochlöffel nicht in die Hand nehmen wollte. Er bezweifelte, dass Max wieder zu Takao gegangen war, und hätte es ihn zurück zu seinem Vater gezogen, hätte er sich vor Scham lebendig begraben lassen. „Ich dachte schon, du tauchst gar nicht mehr auf!", strahlte er den Blondschopf an. „Hast du Hunger?" Und in seiner unendlichen Erleichterung vergaß er sogar zu fragen, wo Max sich den ganzen Tag lang herum getrieben hatte.
Am nächsten Morgen weckten ihn verhaltene Geräusche aus der Küche. Verschlafen linste er auf den Wecker – es war erst sieben Uhr – und stellte dabei fest, dass sich Kai bereits aus dem Bett gestohlen hatte. Draußen dämmerte es zum Tag, der Horizont entflammte in einem warmen Rosé und kündigte das baldige Erscheinen der Sonne an. Die Wolken des Vorabends waren ohne Bruch vorüber gezogen.
Rei gähnte wie ein Tiger, räkelte sich auf dem Bettlaken, wie eine Katze im Sonnenschein, in einer Ausgelassenheit, die Kai zum Stocken gebracht hätte, und schlüpfte in Morgenmantel und Pantoffeln. Was für eine Verschwendung, am Wochenende so früh aufzustehen, dachte er, doch schlafen würde er nun ohne hin nicht mehr können, also sei's drum.
Das chaotische Wohnzimmer lag noch im schläfrigen Schatten der Nacht, die Jalousien waren herunter gelassen und ließen kein Licht hindurch, sodass Rei nicht auszumachen vermochte, ob Max noch in den Federn lag, oder vielleicht gar erneut die Flucht ergriffen hatte. Tatsächlich saß ihm die Angst davor tief im Nacken – es musste diese mitreißende Szene an jenem Abend gewesen sein, die Max ein Stückchen mehr an ihn gebunden hatte, weshalb er angefangen hatte, sich immer und überall um den Kleinen zu sorgen. Doch die Frage beantwortete sich von selbst, als er in die hell erleuchtete Küche kam und den Jungen im Schlafanzug vor dem Herd stehen sah. Es roch nach Schinken und Ei, nach Toastbrot und Pfefferminztee. Aus dem Radio drang leise die Stimme der Sprecherin, die in einem Affentempo mit der Wetternachrichtensprecherin schwatzte („Der Frühling scheint dieses Jahr früher zurück zu sein, was hältst du davon, Ayaka, ist es nicht tolles Wetter? Vielleicht öffnen in der nächsten Woche die Schwimmbäder ihre Pforten, Weihnachten am Strand, wer will das nicht, ohne dafür Geld ausgeben zu müssen! Und ich habe letztes Jahr zum Neujahrsfeuerwerk ganz schön gefroren, du nicht? …Ja, ahahaha!"). Rei fühlte, wie der Morgenmuffel der Guten Laune wich.
„Was ist denn hier los?", gähnte er und Kai, der versunken über seinen Skizzenblock gebeugt am Küchentisch saß, hob den Kopf.
„Morgen!", rief Max fröhlich.
„Guten Morgen", sagte Kai – und Rei stutzte.
„Guten Morgen? Kai, du sagst sonst nie Guten Morgen!"
„Hn. Setz' dich." Ein federleichtes Lächeln flog über Kais schmale Lippen, als er Rei einen Stapel Skizzen hinwarf. „Sieh' sie dir an."
„Du solltest nicht so mit dem Papier umgehen, Kai", beschwerte sich Rei, während er die Zeichnungen durch ging – und mit jeder weiteren Seite, auf welche Kai in seiner unendlichen, verborgenen Kreativität eine sanfte Bleistiftzeichnung gebannt hatte, quoll die Euphorie ein wenig mehr in seinem Herzen an, um letztendlich aus ihm heraus zu schießen, wie kochende Milch aus einem Topf. „Unfassbar! Wir sind gerettet!", rief er und versetzte Max, der wie aus dem Nichts plötzlich neben ihm stand, um sich die Zeichnungen anzusehen, mit seinen in die Höhe schnellenden Händen einen Schlag ins Gesicht. Der Blondschopf heulte auf und schlug mit dem Pfannenwender zurück, Rei nur haarscharf verfehlend.
„Sorry, Max!", lachte Rei. „Kai, das ist es! Eine Kombination all dieser Entwürfe und wir sind schneller in Paris, als wir gucken können!"
Kais rechte Augenbraue zuckte. „Eine Kombination all dieser –"
„Nach Paris!", fiel ihm Max ins Wort. „Was wollt ihr denn in Paris? Das ist ja praktisch am anderen Ende der Welt!"
„Ganz ruhig, Max, wir hauen schon nicht ab – jedenfalls nicht nach Paris." Reis und Kais Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, waren viel sagend und schwerwiegend; einer Tatsache, der sich Max nicht bewusst wurde, da seine Augen fasziniert auf den Zeichnungen Kais klebten. Rei beschloss, schnell fortzufahren, ehe Max den versehentlichen Unterton in seiner Stimme in seinem Gehirn registriert hatte. „In Paris findet jedes Jahr der ‚Concours International des Jeunes Créateurs de Mode' statt. Das ist ein Wettbewerb für Studenten des Abschlusssemesters sämtlicher Modeunis der Welt, wie das Bunka College. Und es wäre ja wohl eine riesige Verschwendung, wenn ausgerechnet wir da nicht teilnehmen würden!"
„Und was hat das mit Paris zu tun?", beharrte Max mit einem Lächeln.
„Na, der Wettbewerbshöhepunkt findet dort statt! Allerdings kommen dort nur Studenten hin, die den nationalen Wettbewerb gewonnen haben. Zuerst schicken alle Studenten des Abschlusssemesters ihre Skizzen an die jeweilige Veranstaltungsstadt – bei uns ist das seit 2007 Osaka. Es heißt sogar, dass die Studenten, die in Osaka leben, die besseren Chancen hätten, aber das könnte durchaus auch ein Gerücht sein. Jedenfalls gehen aus dem nationalen Wettbewerb zehn Sieger hervor, und die dürfen auch nach Paris, zum eigentlichen Concours. Stell dir vor, wir könnten unsere KaRe-Collection vor den Größten der Modewelt beim Defilee auf dem Catwalk präsentieren! In der Jury sitzen Modejournalisten und 2010 soll auch Dior wieder mit dabei sein!"
„Cool! Das hört sich ja fast so an, als würdet ihr letzten Endes doch noch berühmt werden" Max schien die Rötung freudiger Erregung auf Reis Wangen nicht übersehen zu haben, und obwohl er grinste, sah es nicht so aus, als könne ihn das überzeugen. Er roch einen Haken und Rei wurde nervös. „Was gibt es denn da zu gewinnen? Außer Ansehen und die Chance, entdeckt zu werden, meine ich."
Rei biss sich auf die Zunge. Er hatte diesen Part der Neuigkeit noch nicht so früh an den großen Nagel hängen wollen – vor allem, da ihre Chancen, den ersten Platz zu machen, laut diverser Kritiker, die sich im Bunka College die Ehre gegeben hatten, nicht gerade schlecht standen. Er zögerte. „Einen Scheck über 400.000 Yen, Freiflüge von Air France und eine PFAFF Creative Stick- und Nähmaschine. Die Dinger sind verdammt teuer!"
„Und", fügte Kai hinzu – Rei zuckte heftig zusammen, versetzte Kai unter dem Tisch einen Tritt und schickte ihm einen todesfeindlichen Blick – „ein einjähriges Stipendium am ‚Ecole de la Chambre Syndicale de la Couture Parisienne'."
„Sagt mal, habt ihr Französisch gelernt?", wollte Max gerade fragen, ehe ihm bewusst wurde, was Kai gerade von sich gegeben hatte. Rei erkannte es an seinen Gesichtszügen, die sich jäh verdunkelten. Und in diesem Moment hätte er seinem Teuersten am Allerliebsten einen Strick gedreht.
„Eine sündhaft teure Schule. Und die Beste auf der Welt.", fuhr dieser unberührt fort. „Wir haben uns gründlich informiert. Zwei Tausend zweihundertneunzig Euro bei Eintritt im September, das sind umgerechnet über dreihundert Tausend Yen. Zuzüglich weiterer Kosten im Januar. Außerdem neun Tausend zweihundertsechsundsiebzig Euro – monatlich. Beinhaltet zugleich Kost und Logis. Sind aber immerhin über eine Million und zweihundertfünfzig Tausend Yen. Für diese Summe würde manch eine japanische Hausfrau Leichen zerstückeln."
„Wow", hauchte Max tonlos und sah ganz so aus, als könne er sich nicht zwischen Lachen und Weinen entscheiden, „Da … ist es natürlich verständlich, dass ihr euer Bestes geben wollt, um diesen Wettbewerb zu gewinnen. Vor allem, wenn ihr diese horrende Zahlen schon auswendig im Kopf habt – euch muss wirklich viel an diesem Wettbewerb liegen."
Das war der Max, den Rei kannte, und er wusste nicht, ob er glücklich darüber war. Max Mizuhara stammte von jenem Schlag Mensch ab, der sogar dem Selbstmord zusagen würde, wenn der andere ihm nur vermittelte, dass er sich nichts Sehnlicheres wünschte. Selbstverständlich wünschte er ihnen alles Glück der Welt und den Sieg noch oben drauf, doch glücklich war er damit nicht – nicht im Entferntesten. Rei fühlte einen stechenden Schmerz in seinem Herzen und entsandte noch einen bösen Blick an Kai.
„Aber ihr seid ja nicht aus der Welt", räumte Max ein und das Lächeln auf seinem Gesicht war dasselbe, wie er es an jenem Abend auf dem Flughafen getragen hatte, kurz bevor er in Tränen ausgebrochen war, „und es ist ja nur ein Jahr, oder? Ihr kommt doch dann wieder, oder?"
„Hey, noch haben wir überhaupt nicht gewonnen!", wehrte Rei schnell ab. „Und ganz egal, was der Kritiker auch gesagt hat: wir haben halb Amerika, Indonesien, die Philippinen, England, Deutschland, noch ein paar andere, und, nicht zu vergessen, die französischen Topdesigner gegen uns! Die letzten fünf Jahre hat immer Frankreich den ersten Platz belegt. Und unsere japanischen Vorgänger waren mit Sicherheit mindestens so gut wie wir. Es ist nicht einmal gesagt, dass wir überhaupt bis nach Paris kommen."
„Aber ihr wollt doch nach Paris!", fuhr Max aufgebracht hoch. „Also redet gefälligst nicht so daher, verdammt! Ah, der Schinken!" Er wirbelte herum, öffnete den Ofen und angelte den Toast mit bloßen Fingern heraus. Dann nahm er den Pfannenwender und lud den krossen Schinken auf einen Teller.
„Ja, schon …", setzte Rei an. Kai unterbrach ihn mit einem Räuspern.
„Lass es gut sein", sagte sein Blick und Rei nickte einsichtig.
„Du magst doch internationales Essen, nicht wahr Rei?" Max schien nur Sekunden zu brauchen, um zu seiner gewohnten Maske zurückzukehren – ein Akt, der Rei Herzklopfen bescherte. Das schlechte Gewissen fraß sich noch weit tiefer in seine Eingeweide, als es ohnehin schon getan hatte, und dumpf begann er sich zu fragen, was zum Himmel er denn falsch machte, damit in letzter Woche alles schief lief – vor allem bezüglich ihres Sonnenscheins.
„Na ja, eigentlich eher exquisites Essen", antwortete er unsicher.
„Okay, zugegeben, American Breakfast ist nicht exquisit. Und extrem fettig noch dazu, deshalb hab' ich Lachsschinken genommen und ihn im Ofen gebacken, anstatt mit Öl in der Pfanne. Vielleicht mögt ihr's ja trotzdem. Übrigens, probiert es mit Senf. Schmeckt wirklich unglaublich gut!" Geschickt stapelte Max den Schinken auf zwei Teller und schob die Eier hinzu. „Die Eier sind auch fettfrei gebraten, dafür aber mit Petersilie, geriebenem Mozarella, Salz und Pfeffer natürlich – ich wünschte, ich hätte flüssigen Käse gehabt, aber in den japanischen Supermärkten gibt es das leider nicht. Jedenfalls habe ich keinen gefunden."
Rei begann unweigerlich zu grinsen, als Max ihnen mit Servietten, Toast und Besteck auftischte. Offenbar war er hier nicht der einzige mit einem schlechten Gewissen … außerdem wusste er jetzt endlich, wie Max es geschafft hatte, drei Jahre lang in New York zu leben und trotzdem so gertenschlank zu bleiben. Lachsschinken aus dem Ofen war die Lösung. „Das wär' doch nicht nötig gewesen, Max. Und warum nur zwei Teller?"
„Ich muss weg, sorry. Ach, und fast hätte ich es vergessen" Er machte auf halbem Weg zur Tür kehrt und kam zurück, um eine Flasche Ahornsirup zwischen die beiden Verdutzten auf den Tisch zu stellen. „Guten Appetit!"
Damit fegte er aus der Küche – doch diesmal wollte Rei nicht locker lassen und stürmte ihm hinterher. Es schien so offensichtlich, alles passte zusammen, wie die Teile eines Puzzles: es war eine Flucht, die Flucht vor der Realität. Und Rei war dabei, diese Schlacht zu verlieren – erneut hatte er mitten ins Herz des Blondschopfs getroffen, seine Worte hatten sich tief in sein Fleisch gebohrt, und obgleich sie gerade noch fröhlich gelacht hatten – es war nur eine Farce. Er konnte einfach nichts richtig machen. Außer Max aufzuhalten vielleicht.
„Max, wo gehst du hin?"
„Weg!"
„Das sehe ich! Wohin?"
„Vielleicht erzähle ich es euch heute Abend!"
„Ach so, Max, heute Abend, da –"
„Ich muss mich beeilen, Rei! Und wehe, ihr esst nicht auf!"
Die Haustür fiel scheppernd ins Schloss. Rei wusste nicht, wie ihm geschehen war, zu schnell war alles von statten gegangen; allein stand er in seinem eigenen, finsteren Flur, in dem er sich nie zuvor fremder gefühlt hatte, als in diesem Augenblick. Eine Diele knarrte unter seinen Füßen: es musste dieselbe sein, auf welche Max am Morgen zuvor getreten war. Rei fühlte sich weit mehr als elendig und schuldig – Max Stimme hing noch in der Luft, falsch, zerschmetternd, verletzt. Ihm war übel.
Er ballte die Hände zu Fäusten. Hinter ihm atmete Kai leise aus. „Warum, Kai? Wieso hast du es ihm erzählt!", stieß er heiser aus, stampfte herum und spürte einen ungebändigten Selbsthass in sich aufsteigen. Waren die Götter gegen ihn? Warum? Wie, zur Hölle, konnte in nur zwei Tagen alles den Bach runter gehen! „Warum hast du das gemacht?", schrie er plötzlich und ehe er sich versah, schlossen sich seine Hände um Kais strammen Hals. Sein Herz begann zu pumpen wie ein Presslufthammer, schlug schmerzhaft gegen seinen Brustkorb und jagte unkontrollierte Wut durch seine Arterien. Er fühlte es kommen. Doch er konnte nicht das Geringste dagegen tun. „Warum hast du das gemacht! Hast du nicht gesehen, dass er ohnehin schon so viele Sorgen hat! Musste das sein! Du verdammter …"
„Rei!", stieß Kai wie vom Donner gerührt aus und packte seine Handgelenke, befreite sich von dem zittrigen Würgegriff. „Ruhig!" Was folgte, war ein blitzschneller Schlagabtausch von verheerenden Unglücken.
„DU MACHST IMMER NUR DAS, WAS DU WILLST, NIMMST DU JEMALS RÜCKSICHT AUF ANDERE! LASS MICH LOS! LASS MICH IN RUHE!" Es krachte einmal laut und als Kai sich dessen bewusst wurde, was geschehen war, hing er halb über dem Schuhschrank, einen stechenden Schmerz im Arm, und schnappte nach Luft. Rei wütete ins Schlafzimmer – und damit schmorte in ihm eine Sicherung durch. Er brüllte aus voller Kehle, stolperte wie erblindet vor Zorn und Raserei über die Kante des tief gelegten Futonbetts und fiel in die aufgewühlten Decken, beschimpfte Kai bis aufs Blut, obgleich dieser nur die Hälfte davon verstand, griff sich wahllos eines der Kopfkissen und schleuderte es ohne jegliche Orientierung ins Zimmer.
„DU RATTE! DU VERDAMMTE RATTE! DU MACHST ALLES KAPUTT! ALLES GEHT KAPUTT! WEIL DU EINFACH NIE DIE FRESSE HALTEN KANNST!" Klappernd und polternd räumte das Kissen die auf dem Nachttisch positionierten Photos und den Wecker ab. Kai, der sich vor Schreck am Türrahmen festhalten musste, fing das zweite Kissen auf, warf es von sich – und sah gerade noch, wie sich Rei am Spiegel des Kleiderschrankes hochzog.
Kai blieb fast das Herz stehen, als es einmal schrill und ohrenbetäubend schepperte. Im dämmrigen Licht des Schlafzimmers sah er funkelnde Glassplitter herabregnen, klirrend ergossen sie sich über den am Fußboden knienden Rei – die Schreie hatten sich verloren, die Beleidigungen waren im Meer der Spiegelscherben ertrunken. Kai zögerte keine Sekunde, war mit ein, zwei Sätzen bei Rei, der wie paranoid seine blutigen Hände anstarrte, packte grob seine Schultern, während die Scherben unter seinen Füßen knirschten und sich in seine Socken bohrten, und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Eine warme Blutspur zog sich über seine Handfläche – die Blutspur einer Schnittwunde, die ein Glasstück in sein schönes Gesicht gefetzt hatte.
Schmerz und Schall brachte Rei sofort zur Besinnung. Und im selben Atemzug überrollte ihn die dunkle Erkenntnis dessen, was in der letzten Minute mit ihm durchgegangen war – sein Kopf fuhr hoch, seine Augen trafen die Kais, blickten hinein in die Tränen eines Eisblocks. Kai weinte. Rei wollte sein Gesicht bedecken, schämte sich bis aufs Knochenmark, doch von seinen Händen, die so wundervolle Dinge zu nähen vermochten, tropfte der rote Lebenssaft herab, und mit ihm wich die Hitze in seinen Fingern einer stetig wachsenden Kälte. Eine Entschuldigung lag ihm auf der Zunge, doch sie schmerzte auch dort, denn sie war nicht imstande, wieder gut zu machen, was er getan hatte. Ein Schluchzen entrang sich seiner Kehle. Alles geht kaputt.
„Pscht", zischte Kai mit erstickter Stimme und strich ihm durch das Haar, „ist gut … ist schon gut. Komm. Komm."
Er bewegte Rei dazu, sich aufs Bett zu setzen, holte einen Erste-Hilfe-Kasten aus dem Badezimmer und verarzte ihn sorgfältig. Sie sprachen kein einziges Wort miteinander, doch saßen sie sich noch lange gegenüber, während über Chiba die Sonne aufging; Kai streichelte den verschrammten Arm Reis und betrachtete sein Gesicht, Verständnis und Mitleid standen ihm ins Antlitz geschrieben, seine Augenwinkel waren feucht und seine Hände zitterten. Rei sah all dies nicht – sein schlechtes Gewissen war wie ein Luftballon geplatzt und hatte nichts als Schuld und Leere zurückgelassen.
„Rei", flüsterte Kai und hob das tief gesenkte Kinn des Chinesen mit dem Handgelenk an, „wenn er früh genug erfährt, was passieren könnte, hat er länger Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Denk' an heute Abend. Es wird ohnehin Zeit."
Rei nickte teilnahmslos.
„Komm. Max hat für uns gekocht. Komm …" Zögernd beugte er sich vor und küsste Reis bebende Lippen. Er wollte es verdrängen, dieses Gefühl der Schuld, wollte nicht daran zergehen, zu wissen, dass Rei sich Vorwürfe machte. Gut, sie brauchten einen neuen Spiegel und Worte trafen tiefer, als jeder Speer es vermochte … doch auch dann … „Ich liebe dich, Rei", wisperte er, „das wird sich nie ändern."
Kai, wollte Rei rufen und die Worte quollen ihm aus dem Magen, um an dem Kloß in seinem Hals zu scheitern, es tut mir so leid! Ich liebe dich doch auch! Verzeih' mir bitte!
Doch seine Worte blieben nur unausgesprochene Gedanken, verborgen hinter finster verschleierten Augen, aus denen die Tränen rannen. Er hatte es wieder geschafft. Ganz so, als saß er in einem Karussell, das völlig außer Kontrolle geraten durch die Welt raste, beging er einen Fehler nach dem anderen, schmiss im Glashaus mit Steinen um sich und wollte nichts weiter, als nach draußen rennen, fort von diesem unaufhaltsamen Gänsemarsch von Desastern, fort von der Wirkung seiner eigenen Worte.
Mit diesem Gedanken übergab er sich auf den Boden.
Bis zum Nachmittag hatte sich Rei zu Kais grenzenloser, wenn auch verborgener Erleichterung wieder bis zur eigenen Erträglichkeit abgekühlt. Er hatte den Tag im Bett verbracht, nachdem er das Unglück beseitigt hatte, hinter herab gelassenen Jalousien, und dem pulsierenden Schmerz in seinen Händen gelauscht; als er sich letztendlich schwer taumelnd aus dem Zimmer wagte, begegnete er Kai, der soeben auf dem Weg zu ihm gewesen war und ließ sich von ihm in den Arm nehmen.
„Einmal ist mir das passiert", sagte er leise und rau, „und nie wieder. Nie wieder."
Es gab so Vieles, was Kai auf dieses Versprechen hätte antworten wollen – vertraute ihm Rei so wenig, dass er ob seiner eigenen Probleme bereits kurz vor dem Durchdrehen stand? Zum ersten Mal in seiner Beziehung mit Rei war er sich der unerschütterlichen Ruhe seines Freundes nicht mehr ganz so sicher. Viel mehr noch als bei Max, schien hinter diesen faszinierenden Katzenaugen ein unberechenbares Wutpotential zu schlummern, eine wahrhaftige Furie, die nur auf ihren großen Moment wartete. Rei neigte dazu, Stress und Sorgen in einen imaginären Topf zu sperren und fröhlich durch die Welt zu laufen. Nun war der Topf übergelaufen und Kai fragte sich, weshalb er die vibrierende Gefahr diesmal nicht gespürt hatte. Er beschränkte sich auf einen tröstenden, jungfräulichen Kuss, strich ihm über den Rücken und antwortete: „Lass uns endlich essen, was Max für uns gekocht hat. Und dann holen wir die Umzugskartons aus dem Keller. Einverstanden?"
Rei nickte und versuchte sich in einem Lächeln. „Es tut mir so leid, Kai", flüsterte er. „Ich bin so ein Idiot."
Nachwort
Möp und das 12. Kapitel folgt in ungewisser Zeit. Leider bin ich derzeit echt nicht in der Lage, Zeitangaben zu machen, wo bei mir eh momentan alles so schleppend läuft ... >>
Dank an alle Kommentatoren!
Ogama Shi
