Part 7: diagnose

„Darf ich vorstellen," sagte Reinold wenig begeistert. „Mein Kollege, Dr. Michael Sullivan."

Noch weniger begeistert fügte er hinzu: „Psychiater."

Der kleine Mann versuchte noch seinen Kittel wieder glatt zu streich und wippte dabei nervös auf und ab, als wüsste er nicht so recht, was er sagen sollte. Dann aber reichte er beiden Männern die Hand und blieb stehen, sah sie an.

Als dann die Sekunden vergingen und nichts geschah, zog Don die Augenbrauen hoch. Anscheinend wurde auch Reinold ungeduldig, denn er räusperte sich, was den kleinen nervösen Arzt sichtlich aus einer Traumwelt holte. Don wurde es augenblicklich flau im Magen, als er daran dachte, dass dieses Nervenbündel seinen Bruder behandelte.

„Ähm, Verzeihung," sagte er überrascht und schien erst jetzt wieder das Klemmbrett in seiner Hand zu bemerken.

Ziellos und verwirrt suchte er darin herum, schlug Blätter vor und wieder zurück.

„Charles Epps, Sullivan! Der Epps-Fall!" stöhnte Reinold sichtlich genervt.

„Ach, ja. Epps…"

Als ob der Name des Patienten ihn wieder in die Realität geholt hätte, wurde Sullivan plötzlich ruhig und wusste genau, wo er nachzuschlagen hatte. Von einem Augenblick auf den nächsten legte er so etwas wie… Professionalität an den Tag.

„Eindeutig traumatisiert, erhöhte Werte, die auf Stress hinweisen, hoher Puls. Jaaaa… sie sind sein Vater?"

Als Don „traumatisiert" hörte, gingen bei ihm die Alarmglocken an. Alan nickte und suchte Unterstützung in den Augen seines Sohnes. Was er darin sah, ermutigte ihn allerdings nicht sehr, auch wenn dieser sich die allergrößte Mühe gab, sich nichts ansehen zu lassen.

„Ihr Sohn hat ein schweres Trauma. Wie groß die Schäden sind, können wir noch nicht sagen, da er erst 12 Stunden unter Beobachtung ist. Es gibt Anzeichen von Verstörtheit, Unaufmerksamkeit, Angstzuständen, wobei er so wenig wie möglich aus sich heraus geht. Ich nehme an, sie haben auf mich gewartet?" fragte er seinen Kollegen.

Reinolds war nun, wenn überhaupt möglich, noch ernster als zuvor. Seine grauen Augen fixierten Don, anscheinend weil er wusste, dass dieser die Informationen besser verarbeiten würde.

„Wir haben verschiedene Medikamente in seinem System gefunden. Antibiotika, wahrscheinlich wegen den Brüchen und Verletzungen. Aber auch Valium…"

„Valium!" platze Alan heraus. „Warum denn Valium? Wie kommt er dazu, so etwas zu nehmen?"

Sullivan hob einen Finger…

„Er muss es ja nicht freiwillig genommen haben, Mr. Epps. Möglicherweise hat man versucht ihn ruhig zu halten. Vergessen sie nicht, eine gefügige Geisel ist besser zu handhaben, als eine die andauernd aufbegehrt."

Don atmete tief und hörbar ein, wodurch er Sullivans Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Arzt nickte Don zu.

„Allerdings ist es auch möglich, dass er das Medikament aus freien Stücken zu sich genommen hat. Eventuell wollte er die Gefangenschaft so erträglicher machen… oder auch…"

„Ich habe ihnen vorhin von Narben erzählt," half Reinolds Sullivan auf die Sprünge.

Dieser nickte.

„Narben an seinen Handgelenken weisen auf einen Selbstmordversuch hin."

Alle im Raum sahen nun Alan an. Dons Vater stand da und regte sich nicht. Anscheinend zu getroffen von dieser Nachricht.

„Dad?" fragte Don vorsichtig.

Alan nahm sich langsam einen Stuhl. Für Don sah es aus, als wäre er plötzlich um Jahre gealtert.

„Es ist schon gut," versicherte Alan, als er sich gesetzt hatte. „Bitte. Ich will wissen, was mit meinem Sohn los ist."

Sullivan nickte.

„Wie Dr. Reinolds ihnen sicher erklärt hat, ist seine körperliche Verfassung nicht das Problem. Doch der seelische Zustand von Charles ist möglicherweise schwerwiegend beeinträchtigt. Durch den Stress kommen natürlich auch körperliche Faktoren hinzu: er hat einen Hörsturz erlitten, wir denken, dass er sich wieder davon erholt. Außerdem könnte er Ermüdungserscheinungen oder Hyperaktivität aufweisen. Es gibt hunderte von Arten, wie sich Stress zeigen kann. Die Frage ist nur: Wie gehen WIR jetzt damit um?"

„Wie meinen sie das, Dr?" fragte Don vorsichtig.

„Einen traumatisierten Menschen zu behandeln, geschweige denn zu heilen, ist eine langwierige und schwierige Sache. Manche seelische Wunden heilen vielleicht niemals. Ich habe Familien erlebt, die daran zerbrochen sind…"

„Ich werde nicht daran zerbrechen," sagte Alan, so fest wie es nur ging.

„Wir werden nicht daran zerbrechen, Dad," sagte Don und war überrascht, aber auch ein wenig verletzt, dass sein Vater von der Familie nur von sich sprach.

„Don… die Arbeit. Schon vergessen? Du musst einen Job machen."

Don schüttelte den Kopf.

„Du kannst dir das nicht alleine aufhalsen, Dad. Ich sehe tagtäglich Traumatisierungsopfer. Glaub mir, das ist kein Zuckerschlecken."

„Wie lobenswert ich Ihre selbstverständliche Hilfe auch finde, es ist natürlich auch noch eine andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen…"

„Nein."

Dons Antwort auf Sullivans unausgesprochenes Angebot war eindeutig und ließ keinen Platz für Widersprüche.

„Ich stecke meinen Bruder nicht in ein Irrenhaus."

„Psychiatrie, bitte sehr," kam nun Reinolds seinem Kollegen etwas zur Hilfe. „Auch wenn diese Möglichkeit für sie unsinnig erscheinen mag, so ist es doch eine Tatsache, dass Charles professionelle Hilfe braucht, die sie ihm nicht geben können. Er braucht Aufsicht, die ganze Zeit über. Das alles wird nicht leicht zu bewerkstelligen sein."

Don ließ langsam die Luft entweichen.

„Ich weiß…"

„Ich bin Rentner," warf sein Vater ein. „Ich kann bei ihm sein, Tag und Nacht. Wir wohnen sowieso zusammen."

Ein Lächeln erschien auf Sullivans Gesicht. Seine Züge waren gegenüber Reinolds geradezu sanftmütig.

„Ich hatte gehofft, dass sie ihn zu sich nehmen," Sullivan nahm sich einen Stuhl und setzte sich verkehrt herum drauf, was ihn sehr jugendlich aussehen ließ. „Wissen sie, hingegen mancher Kollegen, bin ich der Meinung, dass familiäre Umgebung etwas sehr Wichtiges für den Heilungsprozess ist. Mein Kollege und ich wollten lediglich klarstellen, dass es hier um viel Verantwortung ging. Es steht ihnen jederzeit offen, sich an mich zu wenden, wenn ihnen das alles zu viel wird, denn glauben sie mir: Sie überschätzen sich, oder sie unterschätzen die Angelegenheit. Es kann sehr aufreibend sein und wegen der kurzen Behandlungszeit kann ich Charles noch nicht abschätzen. Es könnte sehr schwierig sein, ihn zu behandeln, dazu sind Geduld und viel Aufmerksamkeit nötig. Ich möchte ihn noch ein paar Tage hier behalten, bis ich die Behandlung einschätzen kann und dann darf er nach Hause. Aber zuerst… muss er mal den Mund aufmachen."

Don zog eine Braue hoch.

„Bitte?"

Sullivan lächelte etwas.

„Er spricht kein Wort."

„Warum nicht?" fragte Alan etwas überrascht.

„Ich habe ihn gefragt. Aber er verrät es mir nicht," war die einfach Antwort. „Vielleicht verrät er es aber ihnen? Wollen sie es gerne versuchen?"

Alan nickte. Zusammen verließen alle den Raum. Aber Don nahm Reinolds unauffällig am Arm und brachte etwas Abstand zwischen den Psychiater und sich selbst.

„Ist das klug? Ich meine… also…" Don wusste gar nicht, wie er sich ausdrücken sollte.

„Sie zweifeln an Sullivans Fähigkeiten," stellte Reinolds fest.

Don wollte etwas dagegen sagen, aber konnte einfach nicht, weil es der Wahrheit entsprach. Sullivan war ihm von der ersten Sekunde an aufgedreht und nervös vorgekommen, wenn man mal von seinem plötzlichen Wandel im Besprechungszimmer absah.

Reinolds blieb kurz mit ihm stehen und sein Ton war nüchtern, aber leise.

„Dr. Sullivan mag etwas seltsam wirken. Das kommt daher, dass er selbst ein psychisches Problem hat."

Don war im ersten Augenblick schockiert darüber, dass man einen solchen Mann als Psychiater arbeiten ließ. Aber dann legte Reinolds ihm eine Hand auf den Arm.

„Er ist hyperaktiv, hat ein paar kleine Ticks und man merkt es ihm häufig an. Wenn ich ehrlich bin, treibt mich das oft zum Wahnsinn. Aber wenn ich eines über diesen Mann weiß, dann dass er der verdammt noch mal Beste in seinem Fachgebiet ist, auch wenn einige neidische Stümper dieses Krankenhauses das nicht wahrhaben wollen. Durch seine, nennen wir es mal Krankheit, hat er ein außerordentliches Gespür für seine Patienten. Ihr Bruder ist in besten Händen, das versichere ich ihnen."

Reinolds graue Augen waren so ernsthaft und auch ein wenig drohend, Don glaubte ihm. Auch wenn Reinolds anscheinend nicht gerne mit Sullivan zusammen arbeitete, so schien er eine ungeheuer gute Meinung von ihm zu haben.

„Wenn sie das meinen," gab er ein.

„Sie werden sehen…"