Das
Kinn in die Handflächen gestützt, sitzt Erik am Fenster und
starrt nach draußen. Seit der Morgendämmerung hat er sich
nicht mehr von seinem Platz bewegt, sondern nur die Schneeflocken
beobachtet, die langsam tanzend zur Erde schweben. Nun dringen von
unten Lärm und der Geruch von Gebackenem zu ihm. Aber er geht
nicht wie jedes andere Kind nach unten, um die ersten Gebäckstücke
zu stibitzen.Weihnachten!
Jeder benimmt sich, als sei dies der wichtigste Tag im ganzen Jahr,
doch außer der Tanne im Wohnzimmer und der bunten Dekoration
überall im Haus hat sich nichts geändert.
Er
wendet sich nicht um, als er hört, dass jemand ins Zimmer tritt.
Ohne Zweifel ist esMarie Perrault, die sich ihm mit langsamem
Schritt und raschelnden Röcken nähert. Von ihr geht der
gleiche intensive Geruch aus, der auch von unten aus der Küche
strömt.
„Erik,
mein Lieber."
Gelangweilt
wendet er den Blick von draußen und dreht sich zu der kleinen,
blassen Frau um, die mit mehlbestäubter Schürze mitten im
Raum stehen geblieben ist.
„Mademoiselle
Perrault, schickt meine Mutter Sie zu mir?"
Nervös
reibt sich Marie die Hände.
„Nun,
sie wünscht, dass du dir etwas Angemessenes anziehst, während
wir in der Kirche sind."
„Warum?"
Marie
weicht dem bohrenden Blick der bernsteinfarbenen Augen aus und beugt
sich schließlich, um den Spaniel zu streicheln, der ihr um die
Füße streicht.
„Nun,
siehst du, es ist Weihnachten. Das ist ein ganz besonderer Festtag."
stammelt sie ohne aufzusehen „Wir feiern die Geburt unseres Herrn
Jesus Christus... aber das... das weißt du doch."
Erik
schnaubt verächtlich. Auf einen kurzen Pfiff hin setzt sich
Sasha vor ihn und wedelt mit dem haarigen Schwanz über das
Parkett.
„Ein
Geburtstag also." Sein Mund zuckt, als Sashas feuchte, kalte Nase
gegen seine Hand stößt. Langsam lässt er die Finger
durch das rote Fell des Hundes gleiten.
Marie
richtet sich wieder auf. Für einen kurzen Augenblick sieht auch
sie aus dem Fenster.
„Es
wird ein besonderes Essen geben – Truthahn. Und deine Mutter backt
einen Baumkuchen für morgen."
„Sie
wissen, ich interessiere mich nicht für Essen."
entgegnet Erik steif.
Marie
seufzt.
„Vielleicht
hilfst du mir, den Baum zu schmücken? Und ich würde so
gerne die Weihnachtskrippe darunter aufbauen." Nach einem kurzen
Blick auf Erik und den Hund fügt sie hinzu „Madeleine sagte,
dass sie auf dem Dachboden steht." Ihre Finger krampfen sich in die
Schürze.
„Dort
oben sind Spinnen..." Er pfeift durch eine Zahnlücke und
beobachtet, wie die rothaarige Frau noch blasser und nervöser
wird.
„Oh...
oh ja, bestimmt." Sie lächelt unsicher. Einen kurzen Moment
lang schweifen ihre Gedanken ab zu der Zeit, als Erik noch Spinnen in
ihrem Schal versteckte. Aber das ist vorbei, sagt sie sich hastig.
„Erik, mein Lieber, wärst du so gut und würdest mir die
Krippe holen?"
Betont
gelassen richtet sich der Junge auf, verlässt wortlos das Zimmer
und kehrt nach kurzer Zeit mit einer großen Holzkrippe im Arm
zurück.
„Ich
werde sie Ihnen unter den Baum stellen, Mademoiselle."
Marie
ihm nach unten, wo er die Krippe vorsichtig auf dem Boden absetzt.
„Nun
fehlen die Figuren." murmelt Marie, geht zielstrebig auf den
Schrank zu und zieht eine Schachtel hervor, in der liebevoll in
Stofftücher eingeschlagen alle Figuren der Weihnachtsgeschichte
liegen. Mit den Fingerspitzen streicht sie über das zart bemalte
Porzellangesicht des Jesuskindes.
Eine
Weile beobachtet Erik sie schweigend, dann tritt er zu ihr und nimmt
ihr den Karton aus der Hand.
„Ich
werde die Figuren arrangieren, kümmern Sie sich um den Baum!"
Marie
zuckt zusammen, denn Eriks Tonfall duldet keinen Widerspruch und sie
ist es nicht gewohnt Befehle eines nicht einmal Neunjährigen
entgegenzunehmen. Allerdings hat sie von jeher Respekt vor Erik, und
wie ein Kind gebärdet er sich fast nie.
Mit
schweißnassen Händen fördert sie eine weitere
Schachtel zutage, in der sich Kugeln und der Engel für die
Christbaumspitze befinden. Sie macht sich seufzend daran, den Baum zu
schmücken.
Eine
Weile kniet Erik vor der Holzkrippe und drapiert die Figuren so, wie
es ihm angemessen erscheint. Marie beobachtet ihn stirnrunzelnd, hält
immer wieder in ihrer Tätigkeit inne und schüttelt den
Kopf, bis sie sich schließlich neben Erik hockt.
„Du
kannst doch Maria und das Kind nicht draußen stehen lassen."
protestiert sie leise. Irritiert starrt Erik zuerst Marie, dann seine
Arbeit an.
„Was
ist daran falsch? Es ist hübsch so! Und die Tiere sind im Stall
und müssen nicht frieren."
Marie
entfährt ein entrüstetes Grunzen.
„Die
Schafe gehören zu den Hirten nach draußen und Maria und
Joseph stehen gemeinsam an der Wiege des Kindes."
Angestrengt
runzelt Erik die Stirn.
„Maria
hat einen Mann, aber das Kind ist nicht von ihm..."
Marie
nickt langsam.
„Meine
Mutter hat keinen Mann, aber mich und..." Er springt auf und kehrt
nach kurzer Zeit mit dem kleinen Hirtenjungen zurück, den er vom
Nachttisch seiner Mutter geholt hat.
Marie
beobachtet, wie er die Figur liebevoll in die Krippe bettet, aus der
er zuvor das Jesuskind entfernt und achtlos in eine Ecke des Zimmers
geworfen hat. Entrüstet schnappt sie nach Luft.
„Was
tust du da?"
Erik
antwortet nicht, betrachtet nur einen Augenblick zufrieden sein Werk
und wendet sich dann den goldenen Kerzenhaltern zu, die er an den
Ästen des Tannenbaumes befestigt.
Fassungslos
beobachtet Marie, wie er auf einen Stuhl klettert und schließlich
den Engel an die Spitze des Baumes hängt. Ihre Hände
spielen mit einer Falte ihrer Schürze.
„Wirst
du uns heute Abend etwas auf dem Klavier vorspielen?" Ihre Stimme
zittert leicht, als sie sich daran macht, die Figuren in der Krippe
zu richten und den Hirtenjungen wieder durch das Jesuskind zu
ersetzen.
„Wird
Mutter singen?"
Schnell
nickt Marie.
„Oh
ja, wie in jedem Jahr an Weihnachten."
Erik
klettert von dem Stuhl und lässt sich im Schneidersitz neben der
Krippe nieder.
„Dann
singen Sie auch?" fragt er beinahe teilnahmslos.
„Ja,
wie in jedem Jahr..."
„Sie
können nicht singen, Mademoiselle."
Erschrocken
über seinen ernsten Tonfall weicht Marie ein wenig vor ihm
zurück, kräuselte die Oberlippe und macht sich daran, die
Kerzen aus dem Karton zu fischen.
„Nun,
an Weihnachten und in der Kirche singe ich trotzdem."
„An
meinem Geburtstag singt niemand." Mit der Fingerspitze stößt
er Jesus aus der Krippe und legt den Hirtenjungen an seine Stelle.
„Oh,
Weihnachten ist etwas ganz anderes."
„Es
ist ein Geburtstag und... und normale Kinder bekommen Geschenke."
knurrt Erik.
Marie
hält inne und nach einer Weile legt sie ihm eine Hand auf den
dürren Arm.
„An
Weihnachten geht es doch nicht um Geschenke, sondern..."
Erik
schnaubt.
„Sie
hat mir Ihr Geschenk nie gegeben. Aber manchmal, wenn sie schläft,
schleiche ich mir in ihr Arbeitszimmer und nehme mir das Buch
einfach." Er duckt sich instinktiv, als erwarte er, für sein
Geständnis Schläge zu bekommen. Erstals Marie ihn
nur weiter ruhig ansieht, fährt er fort: „Es ist doch nicht
recht, ein Geschenk zurückzuhalten, nicht wahr? Es gehört
ihr nicht und sie will es mir doch nicht geben."
Marie
schnappt nach Luft. Das einzige Geburtstagsgeschenk, das er je
bekommen hat – das einzige Geschenk überhaupt, denn Madeleine
hat ihm seinen Wunsch verweigert. Sie wird es nie über sich
bringen können, ihrem Sohn seine Bitte zu erfüllen – den
Kuss, um den er an seinem fünften Geburtstag gebettelt hat.
Seitdem hat sie ihn nicht mehr gefragtob er sich etwas
wünscht, und Marie verboten, Erik jemals wieder ein Geschenk zu
machen.
Unsicher
hebt sie den Blick, starrt die verschlossene Tür an, bevor sie
sich näher zu Erik beugt.
„Ich
verspreche dir, dass du heute Abend etwas bekommen wirst, das sie dir
nicht wegnehmen kann."
Erik
mustert sie halb interessiert, halb misstrauisch.
„Was
verlangen Sie dafür von mir?"
Marie
zuckt mit den Schultern. Es ist erbärmlich, dass Madeleine
dieses Kind nur durch falsche Versprechungen zu Dingen zwingt, die er
sonst nicht tun würde.
„Nichts.
Weihnachten bekommt jeder Geschenke."
„Mutter
sagt, nur brave Kinder. Und weil ich das ganze Jahr so ungezogen bin,
kommt der Nikolaus nie zu mir." Er schneidet eine Grimasse. „Dabei
gibt es gar keinen Père Noël!"
Marie
lächelt schwach.
„Vielleicht
kommt der Nikolaus wirklich nur zu lieben Kindern." flüstert
sie geheimnisvoll, „Aber ich... ich kann dich ja beschenken."
Ungläubig
starrt Erik die blasse Frau an.
„Meine
Mutter schenkt mir bestimmt nichts... und ich mag sie nie wieder
um... ein Geschenk bitten. Außerdem wird sie nicht zulassen,
dass Sie mir etwas geben."
„Dieses
Geschenk wird unser Geheimnis bleiben." entgegnet Marie leise.
„So
wie die Sache mit Sasha und der Schokolade?"
Marie
nickt.
„Dieses
Jahr wirst du ein schönes Weihnachtsfest haben."
Nach
dem Abendessen, draußen ist es bereits seit einiger Zeit
stockfinster, setzt sich Erik an das Klavier und beginnt zu spielen.
Marie lauscht ihm eine ganze Weile andächtig, während sie
Madeleine aus dem Augenwinkel beobachtet. Schließlich erhebt
sie sich, geht zur Krippe unter dem Baum und tauscht die Hirtenfigur
wieder gegen Jesus aus, bevor sie die Kerzen anzündet. Der ganze
Raum ist nunerfüllt von einem warmen Kerzenlicht und dem
Knistern des Kaminfeuers.Als
Erik geendet hat, dreht er sich auf der Klavierbank um. Marie hat
sich wieder neben Madeleine gesetzt. Ihre Hände spielen wie
immer nervös mit einer Falte ihres Rocks und als sie Eriks Blick
bemerkt,lächelt sie unsicher.
Plötzlich
stößt Madeleine einen spitzen Schrei aus. Sasha hat sich
von ihrer Decke erhoben und stolziert nun mit dem Hirtenjungen im
Maul zu Erik.
Sie
springt auf den Hund zu, der sich ängstlich und mit
eingekniffenem Schwanz unter ihr wegduckt.
„Sasha,
pfui!" brüllt sie entsetzt.
Der
Spaniel flüchtet vom Sofa zu Baum, als Madeleine die Hand hebt,
um nach ihr zu schlagen.
Mit
einem Satz ist Erik an Madeleines Seite und fällt ihr in den
Arm.
„Nicht!"
Madeleine
funkelt ihn zornig an.
„Du!
Das ist deine Schuld. Du hast die Figur in die Krippe gelegt!" Sie
befreit sich aus dem Griff ihres Sohnes, packt den Hund im Genick und
schüttelt ihn. „Sasha, pfui!"
„Mutter,
nicht!" ruft Erik fassungslos und schubst seine Mutter grob zur
Seite, sodass sie mit dem Rücken gegen den Schrank prallt und
ihn einen Moment lang erschrocken ansieht.
Sasha
flüchtet sich indes mit der Hirtenfigur im Maul unter das Sofa.
„Du
wagst es!" Madeleines Schlag trifft Eriks Gesicht so hart, dass die
Bänder der Maske reißen und sie zu Boden fällt. „Du
wagst es, du kleines..."
„Madeleine!"
keucht Marie entsetzt.
Hastig
wendet Madeleine sich um und erkennt die Freundin, die ihr mit
zitternden Händen die Hirtenfigur entgegenhält.
„Es
war meine Schuld, ich habe sie wieder gegen das Jesuskind
ausgetauscht und war achtlos." murmelt Marie leise. Als ihr Blick
kurz auf Erik fällt, sieht sie, dass er lautlos weint, aber sie
weiß nicht, ob es Tränen der Angst oder der Wut sind.
Hastig
entreißt Madeleine ihr den Hirtenjungen, presst ihn an sich und
wiegt ihn in ihren Armen, als sei er ein kleines Kind.
„Bring
den Hund nach draußen und geh!" flüstert sie tonlos „Und
du, Erik, du gehst auf dein Zimmer!"
„Madeleine..."
Maries Stimme klingt sehr sanft.
„Verschwinde
und sprich nie wieder mit mir!"
Mit
gesenktem Kopf wendet sich Erik ab und verlässt das Zimmer.
„Ich
fand Weihnachten schon immer doof."
Traurig
sieht Marie ihm nach. Ein unvergessliches Weihnachtsfest hatte sie
ihm versprochen. Es scheint, als würde jeder Festtag in einer
Katastrophe enden.
„Ich
werde nach ihm sehen." Sie wendet sich ab. Aus dem Augenwinkel
sieht sie, wie der Spaniel sich geduckt an Madeleine vorbeischleichen
will. Mit einem wütenden Knurren vertreibt Madeleine ihn, der
Hund macht einen erschrockenen Satz zur Seite und reißt den
ohnehin wackelnden Christbaumständer um.
„Madeleine!"
ruft Marie entsetzt, als Sasha winselnd flüchtet.
„Verschwinde
endlich. Und nimm den Köter mit!"
„Madeleine, der Baum brennt."
Madeleine
wirbelt herum, und tatsächlich hat ein Ast bereits Feuer
gefangen. Als Marie ihr zu Hilfe eilen will, wirft sie ihr nur einen
weiteren kalten Blick zu.
„Lass
mich in Ruhe! Geh von mir aus zu dem Kind, aber lass mich!"
Nach
einem weiteren Moment des Zögerns weicht Marie zurück und
verschwindet, als Madeleine den Baum ohne größere
Schwierigkeiten mit einer Decke gelöscht hat, von Sasha gefolgt,
ins Dachbodenschlafzimmer.
Erik
kauert, das Kinn auf die angezogenen Knie gestützt, auf den
nackten Bodendielen. Auch jetzt trägt er noch keine Maske.
Unglücklich kniet sich Marie neben ihn.
„Es
tut mir leid."
Erik
zuckt mit den Schultern und schweigt. Langsam streicht er mit einer
Hand über Sashas Fell, den Blick starr auf etwas gerichtet, das
nicht da ist.
„Ich
hatte dir ein wunderschönes Weihnachtsfest versprochen und
nun..." Sie beißt sich auf die Unterlippe.
„Ich
nehme an, nun kommt der Nikolaus nicht zu mir." murmelt Erik
sarkastisch.
Marie
ringt sich ein schwaches Lächeln ab, setzt sich nun neben Erik
auf das Parkett und seufzt.
„Ich
dachte, an den glaubst du sowieso nicht. Außerdem habe ich dir
ein Geschenk versprochen und ich möchte mein Versprechen
halten."
Erstaunt
hebt Erik den Blick.
„Aber
ich war nicht artig. Sie hat nach mit geschlagen und nach Sasha
auch... Und sie wird mir mein Geschenk wieder wegnehmen."
Marie
schüttelt den Kopf.
„Das
wird sie dir nicht wegnehmen können. Es ist eine Geschichte und
die erzähle ich nur dir. Und wenn sie in deinem Kopf ist, dann
kann Madeleine sie dir nicht wegnehmen."
Interessiert
mustert Erik sie.
„Eine
Geschichte?"
„Ein
Märchen. Vielleicht magst du es ja... ich habe es einmal von
einem fremdländischen Mann gehört, in Paris. Meine Eltern
haben eine Reise mit mir unternommen."
„Ein
Märchen aus einem fremden Land?" Erik richtet sich auf und
lässt für einen Augenblick die Hand sinken, was Sasha mit
einem erneuten Anstubsen quittiert.
„Aus
dem Orient, glaube ich. Da haben sie andere Götter als wir. Sie
nennen ihren Gott Allah."
„Götter."
Eriks Blick verfinstert sich und er will sich gelangweilt abwenden.
„Eine Geschichte wie die von Vater Mansart..."
Hastig
schüttelt Marie den Kopf.
„Nein,
die ist ganz anders. Ich dachte, ich erzähle sie dir. Bisher
habe ich noch niemanden gefunden, dem ich sie erzählen konnte."
„Nicht
mal Mutter?"
„Nicht
mal ihr."
Erik
dreht sich wieder zu ihr und nickt zufrieden.
„Gut."
Nervös
fährt sich Marie durch die aufgelöste Frisur, als ihr Blick
einen Moment lang am Gesicht des Jungen hängen bleibt.
„Es..
es war einmal in einem fernen Land," beginnt sie schließlich,
während Erik sich wieder dem Hund zuwendet, „Weit weit fort
von hier. Dort gab es einen Vogel der wunderschön singen konnte.
Eine Nachtigall. Und in diesem Land gab es eine Blume, die sehr
hübsch anzusehen war. Es war die weiße Rose. Der kleine
Vogel fand bald Gefallen an dieser Blume und er besuchte sie Nacht
für Nacht, verharrte auf einem Baum, ganz in ihrer Nähe und
sang dort für sie. Die Rose mochte den Gesang des Vogels wohl,
aber sie wollte sich ihm nicht öffnen. Eine Liebe wie diese war
nicht recht, dachte sie sich."
Erik
hört auf, den Hund zu streicheln und starrt wieder auf einen
nicht vorhandenen Punkt vor ihm.
Marie
beobachtet ihn einen Augenblick aus dem Augenwinkel. Dann – sehr
langsam legt sie den Arm um seinen mageren Körper. Ganz
automatisch versteift sich das Kind, das mit jeder Berührung
nichts als Schmerzen und Schläge verbindet. Marie schluckt
schwer und zieht ihn dann vorsichtig näher an sich.
„Eines
Tages aber konnte die weiße Rose ihre Scheu überwinden,
ließ den Vogel in ihre Nähe und öffnete sich für
ihn. Allah sah das gar nicht gern. Und er versuchte, die beiden zu
trennen. Doch die Liebe dieser beiden Kreaturen, die nicht
füreinander geschaffen schienen, war viel stärker, als
Allah und aus dieser Liebe wuchs eine neue Blume. Eine wunderschöne
rote Rose..." Als Marie vorsichtig den Kopf zu dem Jungen in ihrem
Arm dreht, ist er eingeschlafen, und wenn sie sich nicht täuscht,
lächelt er sogar ein wenig.
Eine
ganze Weile sitzt sie da und wagt es nicht, sich zu bewegen. Wenn er
schläft, sieht er beinahe harmlos aus, als würde all die
Streiche, die Hirtenfigur, die Madeleine langsam den Verstand zu
rauben scheint, nicht seiner Phantasie entspringen.
Wenn
dieses Gesicht nicht wäre, hätte Madeleine ihn geliebt und
er wäre niemals zu diesem furchteinflößenden Kind
geworden. Es ist nicht sein Gesicht, das ihr Angst macht, es sind die
Ideen, die er hat…
Sie
erhebt sich sehr langsam, nimmt Erik auf den Arm und trägt ihn
in sein Bett. Nachdem sie die Decke über ihn gezogen hat,
verharrt sie noch einen Augenblick an seiner Seite. Im Schlaf stöhnt
er und klammert sich plötzlich ängstlich an ihrer Hand
fest. Erschrocken fährt sie zusammen, weicht zurück und
verlässt leise das Zimmer.
