- Papierfetzen -

"Brauchst du noch eins?"
Leonie schüttelt den Kopf und schiebt schluchzend die angebotene Packung Taschentücher zurück.
"Ich glaube, es geht schon wieder", seufzt sie mit leiser Stimme, dann schüttelt sie ein neuer Tränenstrom.
Wortlos drückt ihr Doro die Packung in die Hände.
"Vielleicht sollte ich doch mit dir kommen... oder die Polizei rufen. Ich meine, es ist deine Wohnung und du hast ihn rausgeworfen... Wenn er noch da ist..." Sie lässt hilflos die Hände auf die Beine sinken.
Leonie schüttelt den Kopf ohne etwas zu sagen, und schnieft dann laut in das Taschentuch.
Eine Weile beobachtet Doro sie, dann lässt sie den Blick auf die Papierfetzen vor ihren Füßen gleiten.
"Meinst du, du kannst mir jetzt erzählen, was genau passiert ist? Ich weiß nur, dass ihr mal wieder Stress hattet und am Ende hast du ihn raus geworfen..."
Eine ganze Zeit lang schweigen beide und gerade als Doro es aufgibt, eine Antwort auf ihre Frage zu bekommen, sieht Leonie auf und schluchzt.
"Er ist wieder total ausgerastet... Er meinte, ich würde ihn nicht mehr lieben... würde ihn betrügen mit..." Mit zitternden Fingern deutet sie auf die Papierfetzen auf dem Fußboden. "Dabei ist es mein verdammter Job... Und ja, es macht mir Spaß. Er kann mir doch nicht einfach verbieten..." Sie zuckt mit den Schultern und bricht ab.
"Echt? Er wollte dir allen Ernstes das Zeichnen verbieten? Aber er weiß doch genau dass du den Termin einhalten musst..."
„Wenn er etwas von mir will, sind Termine und meine Wünsche doch scheißegal... Du kennst ihn...", ergänzt Leonie und deutet mit dem Zeigefinger auf die Spuren die er in ihrem Gesicht hinterlassen hatte.
Wieder stöhnt Doro, dieses Mal allerdings so laut, dass es unmöglich war ihren Ärger zu überhören.
„Du hättest ihn viel früher vor die Tür setzen sollen, nicht erst, nachdem er versucht dir an die Kehle zu gehen! Der Typ ist nicht mehr ganz dicht! Anzeigen solltest du ihn... sofort!"
Sie wedelt mit dem Telefon vor Leonies Nase hin und her, doch die schüttelt den Kopf.
„Vergiss es, okay? Ich glaube nicht, dass er noch da ist, wenn ich nachher zurückkomme. Ich habe seine Sachen auf die Straße geworfen", sie lacht unter Tränen, „Weißt du wie lange ich mir das gewünscht habe?"
Doro schüttelt ernst den Kopf und lässt sich auf die Knie sinken. Angestrengt versucht sie, die Papierfetzen auf dem Laminat wieder richtig zusammenzuschieben.
„Die schönen Zeichnungen!" flüstert sie fassungslos.
Ihre Worte dringen wie durch einen dichten Nebel zu Leonie. Sie nimmt kaum wahr, dass Doro irgendwann resignierend aufsteht.
„Wir haben eigentlich nie zusammen gepasst. Und das merke ich erst nach drei Jahren. Du hast mir das von Anfang an gesagt. Aber ich habe nicht hören wollen... Diese Scheiß-Eifersucht!"
„Die ganz Welt dreht sich um mich..." summt Doro leise das Lied von Falco, das sie schon immer mit Leonies Freund verbunden hat. Ihr Blick sucht nach dem Klebeband, das sie hier irgendwo aufbewahrt.
„Aber vielleicht hatte er Recht... ich habe mich da so reingesteigert... Vollkommen übertrieben vorbereitet... bis morgens gezeichnet... Es sind doch nur verdammte Buchillustrationen!"
„Hallo? Nur? Hör mal, er hat von Anfang an gewusst wie ernst du deinen Job nimmst und er wusste dass du ein Perfektionist bist." Endlich entdeckt sie das Klebeband und reißt ein Stück ab, um zwei der Papierfetzen zusammenzusetzen.
„Vielleicht hatte er Angst, er müsste mir zum nächsten Geburtstag Eintrittskarten für das Musical schenken... oder ich würde zu einem dieser fanatischen Anhänger mutieren, die dann beim Sex den Namen des Phantoms stöhnen", sie schüttelte den Kopf ärgerlich und konzentrierte sich auf den Schutz unter ihren Fingernägeln um Doros Blick auszuweichen. „Kannst du dir vorstellen eifersüchtig auf das Phantom der Oper zu sein? Ein Bild?"
Doro lässt die Hände sinken und starrt die Zeichnung an, die sie versucht zusammenzukleben. Ein eisiger Schauer durchfährt sie, als sie das totenkopfähnliche Gesicht auf ihrem Flickwerk erblickt.
„Nein, gut aussehen tut er nun wahrhaftig nicht... nichts gegen dein Bild! Ich denke du hast ihn gut getroffen..."
„Lass es," seufzt Leonie resignierend und folgt Doros Blick auf das halb zusammengeklebte Portrait, „Das Klebeband wird nichts helfen. Ich werde mich morgen noch einmal hinsetzen und neue Zeichnungen machen, damit ich dem Verlag wenigstens ein paar Entwürfe vorzeigen kann.", sie schüttelt verärgert den Kopf, knüllt das Taschentuch zusammen und feuert es in eine Ecke des Zimmers. „Weiß du wie lange es her ist, dass jemand die Ehre hatte Leroux's Phantom der Oper zu illustrieren. Und es wäre eine wirkliche Chance für mich und er verbaut sie mir... Scheiße!"
Sie kniet sich nieder und starrte auf das, was von den Wochen Arbeit die sie investiert hat, übrig geblieben war. Die Bruchstücke zweier Augen starren sie aus dem Papierhaufen an. Doro legt die Stirn in Falten.
„Nichts mehr zu machen, oder? Vielleicht kannst du es ihnen erklären..."
Leonie schüttelt den Kopf.
„Das interessiert die einen Scheiß."
Doro zuckt mit den Schultern.
„Ich kann dir sicherlich auch ein paar Stifte und Papier leihen... Du musst heute Abend nicht zurück..."
„Nein, ich weiß. Aber ich will... Nur kurz..." Fast zärtlich fährt sie mit den Fingerspitzen die Umrisse der Augen nach, die sie vom Fußboden ansehen.
„Und das ist...?"
„Das waren... die Augen von Raoul... du weißt schon Vicomte de Chagny..."
„Ah der Fop!" Doro kann sich das Lachen nicht verkneifen. Auf ihren gemeinsamen Erkundungstouren im Internet sind sie auf zahlreiche Foren gestoßen, in denen sich diese Figur nicht gerade großer Beliebtheit erfreut.
„Doro!", entfährt es Leonie tadelnd und zum ersten Mal seit Stunden grinst sie, „Ich finde das irgendwie fies, ihn so zu nennen... den dämlichen Bart habe ich übrigens weggelassen... meinst du das ist schlimm?"
„Hat ein bisschen was von dem Typen aus dem Film..." meint Doro nachdenklich und erhebt sich langsam.
„Adam Storke? Na danke, der sieht selbst für Leroux' Angaben ein bisschen zu weiblich aus, oder?" protestiert Leonie grinsend. „Und ich hab im Netz nachgesehen. Der Typ ist in Wirklichkeit dunkelhaarig. Ein Latin-Lover als Raoul geht gar nicht. So hat ihn Leroux auch nie beschrieben!"
„Den mein ich nicht... ich dachte so mehr an den Film vom letzten Jahr Weihnachten... Naja egal.", Doro schüttelt den Kopf und ergreift Leonie an den Händen. „Also hör zu, wenn du jetzt wirklich fährst, dann versprich mir dass du sofort umdrehst und zurückkommst, wenn Licht in deiner Wohnung brennt. Hörst du? Beim kleinsten Verdacht dass er noch da ist, verschwindest du und wir rufen gemeinsam die Polizei!"
Leonie nickt gehorsam und verlässt dann mit steifen Schritten die Küche.
Das Lenkrad ihres kleinen Polos ist so kalt, dass sie ein Schmerz bis zum Unterarm durchfährt und sie einige Zeit lang braucht, um das alte Auto zum Starten zu bewegen. Doro blickt ihr unglücklich nach, während sie alleine die Straße hinab fährt.
Sechs Kilometer sind es von hier bis zu ihrer Wohnung im Nachbarort, bis dahin wird es die altersschwache Lüftung nicht geschafft haben, das Fahrzeug zu heizen. Seufzend tastet sie mit der Hand nach einer CD – der Wechsler ist der einzige Luxus, den dieses Auto besitzt.
Vor ihr bremsen einige Fahrzeuge. Ein Stau? Um diese Uhrzeit auf der Landstraße? Sie schüttelt den Kopf und versucht einen Blick zu erhaschen. Vielleicht ein Unfall? Einige der Fahrzeuge setzen sich wieder in Bewegung und entfernen sich lautstark hupend. Schließlich sieht sie, was der Grund für die Aufregung ist: mitten auf der Landstraße steht jemand... offenbar ein Mann. Mitten auf der Landstraße? Ein eisiger Schauer jagt ihr über den Rücken. Es wird doch nicht etwa... nein, die Statue des Mannes war zu schmächtig, als dass es ihr Freund –Exfreund- sein könnte... der Mann steht unbeweglich da, während alle anderen Fahrer nun an ihm vorbeirasten. Leonie runzelt die Stirn. Irgendwie macht er einen ziemlich desorientierten Eindruck… vielleicht sollte sie ihm helfen. Langsam treffen ihn die Lichter ihres Polos und sie hält unmittelbar neben ihm an. Einen Augenblick lang ist sie voll und ganz damit beschäftig das Fenster so weit herunterzukurbeln, dass er sie verstehen, aber nicht zu ihr ins Auto greifen kann.
„Kann ich Ihnen helfen?" fragt sie und blickt ihn an. Im selben Augenblick hat sie das Gefühl nicht mehr atmen zu können.
„Was zum Teufel...?"
Neben ihrem Auto steht ihr Portrait des Raoul de Chagny.