- Die Fahrt -

„Steigen Sie ein", hört Leonie sich nach einem Augenblick ungläubigen Schweigens sagen. Sie hat nicht die geringste Ahnung, was sie hier gerade tut. Es war nicht ihre Art wildfremde Männer in ihr Auto zu lassen. Nicht, nach allem was sie heute schon erlebt hat… nicht nach Jan.
Dieser Typ kann alles sein, vielleicht zückt er gleich ein Messer und dann... Sie schüttelt den Kopf. Der Mann ist ganz offensichtlich wirklich verwirrt. Er bewegt sich nicht, als sie ihn anspricht, vielleicht hat er sie gar nicht gehört oder verstanden. Doch dann wendet er ihr langsam den Kopf zu und für einen kurzen Moment treffen sich ihre Blicke.
Leonie hält die Luft an. In seinen Augen erkennt sie ganz deutlich echte Angst.
„Was… wo bin ich?" Die ersten Worte, die er spricht sind so leise, dass sie sie kaum verstehen kann und klingen so verzweifelt, dass sich tiefes Mitleid in ihr regt. Sie verflucht sich innerlich, als sie den Motor ausstellt und die Tür öffnet.
‚So jetzt hast du mich da, wo du mich haben wolltest... ich habe mein Auto verlassen, nun überfall mich!'
Als sie neben ihn tritt, lässt er sie nicht aus den Augen.
„Hören Sie, Sie können hier nicht stehen bleiben…", sagt sie vorsichtig und betrachtet ihn aus einigem Abstand in dem wenigen Licht, das ihre Scheinwerfer und die Warnblinker abwerfen. Er muss frieren… in diesem dünnen Hemd und der Hose, die aussehen als würden sie aus dem Kleiderschrank ihres Großvaters stammen. Wahrscheinlich kommt er von einer Kostümparty und ist zu betrunken, um nach Hause zu finden. Ganz egal.. sie weiß, dass sie ihn zumindest von dieser Straße herunter bekommen muss.
‚Verdammte Gutmütigkeit… Eines Tages kostet sie mich noch den Kopf!'
Ein Auto rast in atemberaubender Geschwindigkeit an ihnen vorbei, so dicht, dass beide den kalten Luftzug deutlich spüren, und hupt. Der Fremde zuckt erschrocken zusammen und sieht dem Auto nach.
„Kommen Sie! Steigen Sie ein, ich fahre Sie nach Hause!" sagt Leonie nun fast flehend und greift beherzt nach seiner Hand. Wie ein willenloser Apparat lässt er sich von ihr von der Straßenmitte führen, wartet gehorsam, bis sie die Beifahrertür geöffnet hatte und auf den Sitz deutet.
„Bitte, können Sie mir sagen, wie ich hierher gekommen bin?" flüstert er, während sie ihn mit sanfter Gewalt auf den Beifahrersitz drängt. Vorerst zieht sie es vor, nicht zu antworten, sondern sich schnellstmöglich wieder auf ihren Platz hinter dem Lenkrad zu setzen, bevor noch wirklich ein Unfall geschieht.
„Die Automobile sehen merkwürdig aus… Das ist doch eines, habe ich recht?" fragt er und blickt sie beinahe flehend an.
Scheinbar ist sie nicht die einzige die an seinem Verstand zweifelt. Leonie verkneift sich ein Seufzen. Was zum Teufel macht sie nur? Bisher hat sie noch nie einen Anhalter mitgenommen und nun lässt sie einen völlig verwirrten Mann in ihr Auto steigen und bietet ihm an, ihn nach Hause zu fahren. Zwar riecht er nicht, wie sie vermutet hatte, nach Alkohol – eher nach Seife und Rasierwasser - aber wahrscheinlich hat er sämtliche Drogen zu sich genommen, die man ihm auf dieser Kostümparty angeboten hatte…
Sie nimmt ihn nur aus einem Grund mit: weil er sie auf seltsame Weise an eines ihrer Portraits erinnert. Nein, erinnert ist nicht das richtige Wort – er gleicht ihm auf ein Haar und was das schlimmste ist, selbst seine altmodische Frisur, die Kleidung - alles ist identisch mit dem Bild, das sie gezeichnet hat.
„Das ist doch ein Automobil, oder?" wiederholte er nun beinahe panisch.
Stirnrunzelnd nickt sie und drehte den Zündschlüssel um, während sie aus dem Augenwinkel seine ungläubigen Blicke wahrnimmt.
„Natürlich ist das ein Auto… Auch wenn es nicht mehr so aussieht, aber fangen Sie jetzt bloß nicht damit an, Ansprüche zu stellen und herumzumäkeln. Sie sollten froh sein, dass ich Sie gerettet habe und nach Hause fahre!"
„Sie fahren nach Paris? Wie lange wird das dauern?" Ängstlich sieht er aus dem Fenster, als sie in den dritten Gang schaltet und beginnt, die fünfzig Stundenkilometer zu überschreiten. Ganz offensichtlich ist ihm selbst diese Geschwindigkeit zu schnell, denn seine Hände suchen nach etwas, das ihm Halt gibt und krallen sich schließlich am Sitz fest.
„Hä? Hören Sie auf mich auf den Arm zu nehmen, okay? Die Party ist vorbei… Sie sollten mir jetzt besser sagen, wohin ich Sie fahren soll.", entfährt es ihr genervt. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, wie alle anderen Autofahrer einfach weitergefahren zu sein.
„Ich weiß nicht… ich möchte nach Hause", stammelt er unsicher und blickt aus dem Fenster. Genervt schüttelt Leonie den Kopf. Schokolade.. sie bräuchte jetzt ganz dringend eine große Tafel Schokolade zur Beruhigung… oder eine Tasse Kakao… Etwas, das ihre Nerven beruhigt und dafür sorgt, dass sie nicht laut wird, nicht anhält und diesen Mann augenblicklich auf die Straße setzt.
„Wo ist Ihr Zuhause? Und jetzt sagen Sie nicht Paris!"
Er schweigt und zuckt mit den Schultern.
Ärgerlich wendet sie sich ab. Scheinbar wird sie so nicht weiter kommen. Vielleicht sollte sie ins nächstbeste Krankenhaus fahren, dort wird man sich besser um ihn kümmern können.
Obwohl es ihr widerstrebt, ihm noch einmal näher als nötig zu kommen, öffnet sie das Handschuhfach… Keine Schokolade.. nichts. Aber wenigstens findet sie an der Stelle, wo sie hätte sein sollen, ihre Frust-CD. Sie lächelt zufrieden. Wenigstens etwas. ‚Bitter sweet symphonie' wird ihre Nerven vielleicht auch beruhigen können. Sie schiebt die CD in den Wechsler und dreht die Lautstärke hoch, als die ersten Takte beginnen. Aus dem Augenwinkel sieht sie, dass der Fremde erschrocken in seinem Sitz zusammensinkt und das Radio anstarrt.
„Ist Ihnen nicht gut?", fragt sie, als sie merkt, wie blass er geworden ist. Langsam und widerwillig schraubt sie die Lautstärke nach unten.
Er deutet mit bebenden Fingern auf den CD-Wechsler.
„Es macht Musik… Ihr Automobil macht Musik!"
„Das haben Autoradios so an sich! Sagen Sie, haben Sie Kopfschmerzen? Ist Ihnen übel oder schwindelig?" Sie zieht eine Augenbraue nach oben und schaltet die Musik dann ganz aus. Okay, ihre Fust-CD rettet sie also dieses Mal nicht.
Er zuckt mit den Schultern und schüttelt schließlich den Kopf.
„Nein mir geht es gut… eigentlich... Warum sollte mir übel sein?" erkundigt er sich leise und kann den Blick noch immer nicht von ihrem CD-Wechsler nehmen. Wenn das ganze nur ein Trick ist, um sie am Ende auszurauben oder andere Dinge zu tun, dann ist es ein verdammt guter und er beherrscht die Rolle des naiven verwirrten Mannes wirklich ausgezeichnet.
Sie zieht die Nase kraus.
„Hören Sie, ich habe nicht die geringste Ahnung, warum ich Sie überhaupt mitnehme. Auf jeden Fall sind Sie entweder krank oder geistig verwirrt… ich fahre Sie jetzt zum nächsten Krankenhaus und dann habe ich meine gute Tat für heute nun wirklich getan und kann beruhigt ins Bett gehen.", erklärt sie gereizt und vermeidet es, ihn direkt anzusehen.
Bis zum Krankenhaus sind es nur noch zwei Kilometer. In wenigen Minuten könnte sie ihn los sein und vergessen was geschehen ist… oder vielleicht wacht sie auch auf, um festzustellen, dass dies alles nur ein bizarrer Traum gewesen ist.
Ihr Beifahrer schüttelt heftig den Kopf und greift hastig nach ihrem Arm. Erst als ihn ihr eisiger Blick trifft, zieht er seine Hand zurück, um ganz in seinem Sitz zu versinken.
„Pardon… Bitte – nicht in ein Krankenhaus. Ich hasse Krankenhäuser! Und ich bin nicht krank! Ich weiß einfach nicht, wo ich bin und wie ich hier her gekommen bin… aber ich will wieder nach Hause! Bitte… helfen Sie mir!" fleht er leise.
„Ich kann Sie unmöglich nach Paris fahren. Ich könnte Sie zum Bahnhof fahren… aber Sie kommen ja nicht einmal aus Frankreich", entgegnet sie und wirft dem Schild, das ihr den Weg zum Krankenhaus weißt ein dankbares Lächeln zu.
„Was unterstellen Sie mir eigentlich! Natürlich bin ich Franzose… meine Familie ist eine der ältesten und angesehensten Familien in ganz Frankreich!" fährt er ungewöhnlich laut auf.
Leonie nickt.
„Hm klar. Rechts kommt gleich die Abfahrt. In einem Kilometer lass ich Sie am Krankenhaus raus."
„Mademoiselle, ich flehe Sie an!"
„Wissen Sie, ich nehme normalerweise nicht mitten in der Nacht wildfremde Männer von der Landstraße mit, die bis oben hin vollgestopft mit irgendwelchen halluzinogenen Drogen sind… Jedenfalls scheint es eine gelungene Party gewesen zu sein. Nur wenn Sie mir nicht einmal sagen können, wo Sie wohnen, dann ist es besser wenn sich Experten um Sie kümmern, ich habe von so etwas keine Ahnung… Vielleicht müssen Sie Ihnen den Magen auspumpen, weil Sie zu viel von dem Zeug genommen haben oder so…", murmelt sie mehr zu sich als zu ihm. Eigentlich versucht sie ihn vollkommen zu ignorieren und sich zu beruhigen.
„Ich verstehe nicht ein Wort von dem was Sie da sagen, aber ich versichere Ihnen, ich weiß wo ich wohne. Ich weiß, wer ich bin. Ich weiß nur nicht, wie ich plötzlich hierher gekommen bin… Ich war einfach… da" hört sie ihn vom Beifahrersitz aus erklären.
Vor ihnen tauchten die Umrisse des Krankenhauses auf. Selbst zu dieser Zeit ist jedes seiner Fenster hell erleuchtet und wirkt… beunruhigend… Plötzlich kann sie verstehen, dass Menschen sich vor diesem Gebäude fürchten, wenn es doch schon von außen so abschreckend und kalt aussieht. Vielleicht liegt es aber auch einfach an ihrer Müdigkeit, der Angst und dem Ärger der letzten Stunden. Sie wünscht sich nun nichts sehnlicher, als diese merkwürdige Fahrt zu beenden.
„Ja klar", sagt sie, nur um etwas auf sein Gerede zu entgegnen, „Übrigens wie geht es Christine und Erik?"
Der Mann wendet traurig den Blick ab und schüttelt den Kopf.
„Sie sind tot… beide… Christine starb in meinen Armen und ich konnte ihr nicht helfen."
Das Auto kommt mit einem ächzenden Geräusch ruckelnd zum Stehen, als Leonie unvermittelt auf die Bremse tritt und ihn anstarrt.
„Hören Sie damit auf!" bittet sie eindringlich. Ihre Augen suchen seine... sie muss doch sehen, dass er sie auf den Arm nimmt, dass er sich einen Spaß daraus macht sie zum Narren zu halten. Doch da ist nichts…
Seine Augen blicken sie vollkommen offen und ehrlich an, als er fragt: „Mit was aufhören?"
„Sie sollen mich nicht mehr auf den Arm nehmen, hören Sie? Es reicht jetzt. Sie hatten Ihren Spaß. Ich habe einen Scherz gemacht, als ich nach Christine und Erik fragte, okay? Und ganz gleich was Sie behaupten, ich glaube Ihnen kein einziges Wort. Sie sind kein Franzose – Sie kommen nicht einmal aus Paris. Sie sprechen akzentfrei Deutsch!"
„Aber Mademoiselle"
Sie hebt die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Auf ihrer Stirn tauchen einige Zornesfalten auf.
„Hören Sie auf, mich so zu nennen! Mein Name ist Leonie Weiß… nicht Mademoiselle!"
„Mademoiselle Weiß", fährt er unbeirrt fort, „ich habe keine Ahnung, was Sie mir vorwerfen. Vor vielen Jahren hat mein Lehrer mich dazu gezwungen, Deutsch zu lernen. Ich wusste nur nicht, dass ich diese Sprache noch heute beherrsche. Und ich komme aus Frankreich, das schwöre ich Ihnen, so wahr ich hier sitze. Bitte verraten Sie mir woher Sie meine Frau kennen? Und was mich noch mehr interessiert, woher wissen Sie von Erik?"
Leonie schüttelt den Kopf und dreht den Zündschlüssel um. Das Krankhaus ist in greifbarer Nähe. Nur noch die wenigen Meter bis zum Parkplatz und sie ist diesen seltsamen Kauz für immer los.
„Ich glaube nicht, dass wir beiden die gleichen Personen meinen.", presst sie genervt hervor, während der alte Polo sich weigert anzuspringen.
Er lächelt… zum ersten Mal, seit er zu ihr in das Auto gestiegen ist, sieht sie ihn lächeln… und obwohl er selbst jetzt sehr unsicher wirkt… Hätte sie ihn unter anderen Umständen kennen gelernt – wäre er nur nicht so seltsam… Sie schiebt den Gedanken verärgert beiseite und konzentriert sich darauf, den Schlüssel noch einmal kräftig umzudrehen und auf das Röcheln des Motors zu hoffen.
„Da muss ich Ihnen recht geben. Besonders bei Erik wäre das sehr verwunderlich gewesen. Wissen Sie, er ist niemals besonders …kontaktfreudig gewesen. Wenn man das so sagen kann", seufzt er schließlich.
Sie lacht verächtlich und klatschte in die Hände, als der Motor endlich anspringt.
„Jaja, ich weiß. Er hat sich unter der Oper zurückgezogen., damit niemand ihn und sein hässliches Gesicht sehen kann.."
Sie könnten schören, dass es in den Augen ihres Beifahrers aufblitzt.
„Also kennen Sie ihn doch!"
Mit einem erstickten Schrei schlägt sie auf das Amaturenbrett und funkelt ihn wütend an.
„Verdammt es reicht! Hören Sie auf mich zu verarschen!" brüllt sie ihn an und ist selbst erstaunt, dass er sie dazu gebracht hat, so die Beherrschung zu verlieren. Umso mehr erstaunt es sie allerdings, dass er sich nun in seinem Sitz aufrichtet und sie ebenso wütend anblickt.
„Das verbitte ich mir!", sagt er seltsam ruhig, obwohl sie an der Ader die plötzlich an seiner Schläfe aufgetaucht ist, sehen kann, wie wütend sie ihn gemacht hat. Außerdem zittern seine Hände, als er versucht den Sicherheitsgurt zu lösen. „Ich bin Raoul, Comte de Chagny und ich habe in meinem ganzen Leben noch niemals jemanden belogen!"
Dann steigt er aus ihrem Polo.