-Vertrauen-

Leonie hängt ihren Mantel an den Haken und gibt Raoul ein Zeichen, ihr zu folgen. Ein wenig ängstlich stößt sie die Tür zu ihrem Wohnzimmer auf. Die Wohnung ist leer. Jan scheint tatsächlich verstanden zu haben, dass er sich besser nicht mehr blicken lassen sollte.Als sie sich umdreht, steht Raoul noch immer wie angewurzelt im Türrahmen und blickt zu ihr ins Wohnzimmer. Nein, er starrt vielmehr auf den Fernseher hinter ihr, und auf das Regal daneben, in dem ihre Stereoanlage steht. Seufzend winkt sie ihn zu sich und weißt ihn an, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Nur zögerlich folgt er ihrer Aufforderung und tritt näher, während sein Blick immer wieder unruhig durch den Raum schweift... immer wieder neue unbekannte Objekte entdeckt, die für sie vollkommen selbstverständlich sind.
Für einen kurzen Augenblick scheint er seine Frage vergessen zu haben und so tut sie nichts, um das zu ändern.
„Soll ich einen Tee kochen?" fragt sie leise, während er vorsichtig am äußersten Rand des angenutzten Sofas Platz nimmt.
Langsam sieht er auf, blickt sich suchend um und zuckt mit den Schultern.
„Das wäre sehr nett... Ihr Hausmädchen hat wohl schon frei?" Erstaunt stellt er fest, dass sie auf seine ernstgemeinte Frage zum ersten Mal in lautes Lachen ausbricht und den Raum verlässt, um in die Küche zu gehen.
„Glauben Sie mir, wenn ich mir ein Hausmädchen leisten könnte, würde ich nicht in so einer Wohnung leben sondern in einer... Villa", ruft sie ihm zu, während sie den Wasserkocher befüllt und einschaltet. Als sie sich umdreht, ist er ihr gefolgt und steht mit unsicherem Blick hinter ihr.
„Es hat sich einiges verändert in den letzten hundert Jahren, nicht wahr?" fragt sie leise und kramt ein paar Teebeutel aus der Schublade, die sie in ihre Glaskanne hängt.
Er zuckt mit den Schultern, betrachtet erst die Mikrowelle, dann den Toaster und räuspert sich.
„Ich könnte Ihnen das alles erklären", fährt sie fort, als er nichts sagt.
Er legte die Stirn in Falten.
„Tut das weh?"
Sie zuckt zusammen. Unbewusst berührt sie ihr Jochbein, das wohl noch immer gerötet und angeschwollen ist. Ohne ihn anzusehen schüttelt sie den Kopf und gießt das heiße Wasser in die Teekanne.
„Wo ist er jetzt?" fragt er leise.
„Ich hoffe ganz weit weg und jetzt reden wir nicht mehr drüber okay? Ganz rechts sind die Tassen.", sagt sie hastig. Sie deutet auf den alten Küchenschrank.
Er folgt ihrem Blick, nickt und rührt sich nicht. Kopfschüttelnd zieht sie eine Augenbraue hoch, sieht ihn auffordernd an.
„Würden Sie bitte zwei Tassen nehmen!"
Irritiert setzt er sich schließlich tatsächlich in Bewegung, nimmt zwei Tassen und folgt Leonie wieder ins Wohnzimmer.
Eine ganze Weile überlegt sie, wie sie ihm am besten erklären sollte, was sie tatsächlich von ihm will, doch ihr kommt keine Idee. So schweigt sie und kaut auf ihrer Unterlippe herum. Erst als sie merkt, dass er seine Augenbrauen nach oben zieht, hört sie auf und sieht ihn an.
„Ich werde Ihnen das alles erklären, okay? Aber nicht mehr heute Nacht... Vielleicht... möchten Sie mir aber etwas erzählen."
Er zuckt mit den Schultern und umklammert seine Teetasse, als versuche er, an ihr Halt zu finden.
„Ich wüsste nicht, was ich Ihnen erzählen könnte, das für Sie von Interesse wäre." murmelt er.
Sie setzt die Tasse ab, seinen abweisenden Ton ignorierend.
„Mich interessiert vieles... was wurde aus Christine... warum ist sie tot? Und Erik..."
Die Erwähnung dieses Namens scheint einige unliebsame Erinnerungen hervorzurufen, denn nun umklammert er seine Tasse noch fester und seine Fingerknöchel färben sich weiß.
„Ich weiß nicht ob ich darüber reden möchte..."
„Sie meinen, ob Sie imit mir darüber reden möchten", berichtigt Leonie ihn barsch und stand auf. Sie hätte es wissen sollen. Es wäre einfach zu schön gewesen, wenn er ihr die Dinge erzählt hätte, die sich zugetragen hatten, nachdem Leroux' Roman endete. Wenn Leroux' Roman überhaupt stimmt.
„Mademoiselle bitte", ruft er aus und steht nun ebenfalls auf. „Nichts länge mir ferner als Sie vor den Kopf zu stoßen, nach allem was Sie heute Nacht für mich tun. Ich fürchte nur, die Geschichte ist nicht so einfach zu erzählen, besonders nicht, wenn Sie eine Freundin von Christine sind. Und ich weiß nicht, ob ich dazu in der Lage wäre..."
Sie nickt nur steif. Okay, er wird nicht reden, wahrscheinlich würde er gehen, wenn Sie ihm den wahren Grund für seinen Eintritt in Ihre Wohnung sagen würde. Vorausgesetzt, sie hindert ihn nicht mit Gewalt daran.
„Ich werde Ihnen das Gästebett in meinem Arbeitszimmer richten. Warten Sie hier so lange auf mich!"
Mit diesen Worten ist sie auch schon verschwunden, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen. Wie nur soll sie ihm klar machen, dass sie seine Anwesenheit braucht? Wahrscheinlich länger braucht als für diese Nacht...
Mit hastigen Fingern breitet sie das Spannbetttuch aus und glättet es sorgfältig. Wenn er tatsächlich der Adlige aus dem 19. Jahrhundert ist, der er vorgab zu sein, würde er wahrscheinlich auf ein akkurat gemachtes Bett Wert legen. Außerdem beruhigt sie die Arbeit und lässt ihr etwas Zeit zum Nachdenken. Kaum hat sie jedoch das Kissen in die Hülle gestopft, erklingt aus dem Wohnzimmer ein ohrenbetäubender Lärm, der sie veranlasst, das Kissen hastig in die nächstbeste Ecke zu feuern und ins Nebenzimmer zu eilen.
Wie angewurzelt steht Raoul vor ihrer Stereoanlage, die Augen vor Entsetzen geweitet, die Hände auf die Ohren gepresst, während die Anlage die Liveversion der „Fetten Elke" dröhnt.
Mit einem einfachen Druck auf die Fernbedienung bringt Leonie die Anlage zum Schweigen.
„Hatte ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen nichts anfassen, was Sie nicht kennen?" giftet sie ihn wütend an, während er langsam und zitternd die Hände von den Ohren nimmt.
„Aber ich..."
„Hat Ihnen niemand Manieren beigebracht auf der Militärakademie? Das hier ist meine Wohnung und wenn ich sage, Fassen Sie nichts an', dann ist das hier Gesetz!" macht sie ihrem Ärger weiterhin Luft, ohne zu merken, dass er noch immer ungläubig die Anlage ansieht.
„Was war das?" fragte er leise mit bebender Stimme.
Sie runzelt die Stirn und ruft sich selbst zur Ruhe.
„Die Ärzte", entgegnet sie schlicht und schüttelt den Kopf, als ihr Blick auf sein Hemd fällt, über das er sich vor Schrecken wohl den letzten Rest Tee geschüttet hat.
Er zieht eine Augenbraue in die Höhe und funkelt sie wütend an.
„Dann haben Sie es doch getan! Und ich habe Ihnen vertraut, weil Sie vorgaben eine Freundin Christines zu sein!" Zornig wendet er sich ab und geht an ihr mit raschen Schritten vorbei in den Hausflur.
„Bitte? Hallo, was habe ich denn getan? Sie waren es doch, der an meiner Musikanlage herumgespielt hat!" Hastig setzt sie hinter ihm her und tatsächlich gelingt es ihr, ihn am Hemdsärmel zurückzuhalten.
„Ich habe nur auf einen Knopf an dem kleinen Kasten gedrückt und das bereue ich auch... Aber Sie! Sie locken mich in Ihre Wohnung unter dem Vorwand mir helfen zu wollen und doch scheint das nur eine andere Taktik gewesen zu sein, um mich in eine Klinik zu bringen!" fährt er wütend auf, während seine blauen Augen sie trotzig anblitzen.
„Was?" Jetzt versteht sie nun wirklich gar nichts mehr. Scheinbar hat ihn die laute Musik vollkommen verwirrt.
„Sie haben irgendwie nach den Ärzten gerufen und die sollen mich jetzt abholen und in ein Krankenhaus bringen. Ich sagte Ihnen doch, ich werde in kein Krankenhaus gehen!"
Sie lacht freudlos auf, obwohl sie eigentlich erleichtert hätte sein sollen. Seine Anwesenheit scheint sich als weitaus schwieriger herauszustellen, als sie gedacht hat. Von seinen verwunderten Blicken gefolgt hastet sie nun zurück ins Wohnzimmer, greift nach der CD-Hülle und eilt zurück zu ihm.
„Da! Lesen Sie!" sagt sie nur und drückt ihm die Hülle in die Hand. Unsicher lässt er den Blick auf den ihm unbekannten Gegenstand gleiten, den sie ihm in die Hände gedrückt hat.
„Die Ärzte?" liest er stockend, dann hebt er den Blick. „Was ist das?"
„Die Musik die Sie eben gehört haben. Die Männer die das singen... die nennen sich so." erklärt sie und beobachtet, wie seine Augen abermals ungläubig den Titel der CD lesen.
„Aber warum tun sie so etwas?"
„Wie bitte?"
„Warum singen Sie, wenn Sie doch einen so angesehenen Beruf haben?" Er zieht die Stirn in Falten und sieht sie um Erklärung flehend an.
Leonie seufzt und entnimmt ihm die CD Hülle wieder.
„Hören Sie, wenn ich es nicht besser müsste, würde ich sagen, Sie wollen mich...", sie bricht resignierend ab, nur um einen erneuten Streit zu vermeiden. „Das sind keine Ärzte. Sie nennen sich bloß so. Heutzutage singt kaum ein Mensch noch unter seinem wirklichen Namen. Jedenfalls hoffe ich, dass Sie mir jetzt glauben, dass ich wirklich nur Ihr Bett gemacht habe."
Er nickt und sieht nun wirklich betroffen aus.
„Bitte verzeihen Sie, dass ich an Ihrer Aufrichtigkeit Zweifel hatte." bittet er leise.
Sie nickt nur abwehrend und vermeidet einen weiteren Blick in seine Augen.
„Wenn Sie hier bleiben wollen, dann sollten Sie mir schon ein wenig vertrauen...", sagt sie leise und winkt ihn zu sich, „Und nun zeige ich Ihnen, wo Sie schlafen können."
Zögernd setzt er sich in Bewegung und sie bemerkt wie seine Hände über die braunen Teeflecken auf seinem Hemd fahren.
„Ich könnte Ihnen etwas... anderes zum Anziehen geben, glaube ich... Wenn ich nicht alles aus dem Fenster geworfen habe..." schlägt sie ihm vor, lässt ihn an ihr vorbei eintreten und verschwindet dann im Nebenzimmer, in dem sie ihre Bügelwäsche aufbewahrt. Tatsächlich findet sie dort auch noch zwei Hemden und eine Hose von Jan, mit denen sie zurück in ihr Arbeitszimmer geht. Raoul ist inzwischen eingetreten und sieht sich um.
„Das ist etwas... zeitgemäßer... glaube ich. Jan ist etwas größer und kräftiger als Sie, aber mit etwas Glück..." Sie reicht ihm die Kleidungstücke ihre Exfreundes und er nickt dankbar.
Stirnrunzelnd sucht sie nach dem Kissen, das sie irgendwohin geworfen hatte, als die Musik ertönt ist. Raoul folgt ihrem Blick und entdeckt schließlich das Kissen zwischen einigen Papierstapeln auf ihrem Tisch. Bevor sie es verhindern kann setzt er sich in Bewegung, um das Kissen zu holen. Leonie zieht scharf die Luft ein und schließt die Augen. Sie weiß, was nun kommen wird. Das Kissen ist auf ihren Entwürfen gelandet... den wenigen Zeichnungen, die Jans Wutausbruch überlebt haben und die sie nachdem er verschwunden ist, zusammengesucht hat.
Sie hört Papierrascheln, zuerst langsam, dann immer hastiger. Er atmet kurz und heftig, dann nähert er sich ihr mit schnellen Schritten. Eine Hand umfasst ihr Handgelenk fest, und als sie die Augen wieder öffnet, sieht er sie kalt an, während er mit einer Skizze vor ihren Augen wedelt.
„Vertrauen Mademoiselle? Nun ich denke, Sie sind mir einige Erklärungen schuldig!"
In seinen Händen erkennt sie, dass es die Skizze seines Gesichtes ist, die er ihr vor die Nase hält.