„Ich höre!" Seine blauen Augen fixieren ihre und eine ganze Weile ringt sie mit sich. Irgendwann lässt er kopfschüttelnd die Hand sinken. Immer wieder schweift sein Blick auf das Papier in seinen Händen. „Mademoiselle!"
Leonie seufzt und reibt sich über das Gesicht.
„Ich kann Ihnen das nicht so einfach erklären. Wirklich…"
Mit einer wütenden Handbewegung, die Leonie unwillkürlich zusammenzucken lässt, knallt er ihr das Blatt Papier vor die Füße und verlässt das Zimmer.
Einen Augenblick verharrt sie zitternd auf der Bettkante, dann folgt sie ihm langsam ins Nebenzimmer, wo er sich gerade in seinen Mantel quält.
„Raoul…"
Seine blauen Augen funkeln sie wütend an.
„Vicomte de Chagny. Und für Sie, Mademoiselle, bin ich immer noch Monsieur de Chagny!"
Sie lehnt sich gegen den Türrahmen.
„Was haben Sie vor?" fragt sie leise.
„Es macht doch den Anschein, dass ich Sie und Ihre Wohnung verlassen werde, nicht wahr?" In seiner Stimme schwingt unüberhörbar Zorn und bittere Enttäuschung mit.
Leonie senkt den Kopf.
„Ich könnte versuchen…"
„Es mir zu erklären? Jetzt doch?" Er schnaubt verächtlich.
„Ich muss ein Buch illustrieren…" beginnt sie zögerlich, „Ein Buch über… Ihre Geschichte."
Irritiert mustert er sie.
„Ich wüsste nicht, dass jemals Bücher über mich geschrieben worden wäre."
„Mehrere. Zwei davon habe ich gelesen… Eines von Gaston Leroux…"
„Diesem Kritiker?" unterbricht Raoul sie, während er sich mit einer Hand an die Lehne des Sessels klammert.
Leonie nickt langsam.
„Ja ich glaube ein Kritiker war er auch. 1911 hat er ein Buch mit dem Titel ‚Das Phantom der Oper' veröffentlicht, mittlerweile gibt es zahlreiche Filme, Bücher und Musicals darüber…" Sie macht eine Pause, um aus seiner Reaktion zu lesen.
Erst geschieht gar nichts, er starrt sie nur weiter an, als müsse er jedes einzelne ihrer Worte erst in seine Muttersprache übersetzen. Mit zitternder Hand fährt er sich schließlich durch das Gesicht.
„Ich fürchte ich verstehe nicht."
„Filme sind… bewegte Bilder. Früher konnte man sie auf einem Cinematographen sehen, heutzutage besitzt jeder einen Fernseher," sie deutet auf ihr eingestaubtes Exemplar in der Schrankwand, „Dort laufen von früh bis spät Filme – mit Ton und Farbe. Und… Musicals sind etwa mit Opern zu vergleichen, nur nicht so lang und so… klassisch."
„Und ich bin in diesem…Fernseher?"
„Manchmal. Es gibt zahlreiche Filme in denen Sie eine Rolle spielen und Erik und Christine. Manchmal hat man Ihre Namen verändert…"
„Ich wünschte, das hätte Leroux auch getan," murmelt Raoul.
Leonie zuckt mir den Schultern.
„Ich hab nur sein Buch und das von Susan Kay, einer Amerikanerin, gelesen… Ich weiß nicht, wie viel sich Leroux ausgedacht hat und was von seiner Geschichte wahr ist." Sie wirft ihm einen prüfenden Blick zu.
„Warum geschieht das alles? Warum finden die Menschen diese Geschichte so interessant?" Als sie nicht reagiert, wendet er sich ab, „Ich werde Sie nicht weiter belästigen."
„Und wohin werden Sie gehen?" Leonie kann den Spott in ihrer Stimme kaum unterdrücken.
„Ich werde herausfinden, warum ich hier bin und… wie ich wieder zurück komme..."
Sie schnappt nach Luft.
„Tatsächlich? Ohne Geld in den Klamotten?"
Kopfschüttelnd wendet Raoul sich ab.
„Das geht Sie nichts mehr an. Ich weiß noch immer nicht, was Sie dazu veranlasst hat, mich aufzunehmen und vorzugeben mir helfen zu wollen. Aber im Augenblick wäre es mir lieber, wenn ich mich nicht noch damit befassen müsste. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mich bis hierher mitgenommen haben. Welchen Grund auch immer Sie für Ihr Handeln hatten."
Sie beobachtet, wie er an ihr vorbeigeht, zielsicher auf die richtige Tür zusteuert und ohne sich noch einmal umzudrehen im Treppenhaus verschwindet.
Eine ganze Weile ist sie unfähig sich zu rühren. Er wird nicht weit kommen. Vielleicht bereut er es in wenigen Minuten schon und kommt zurück, um sie um Hilfe zu bitten. Nein… nein das wird er ganz sicher nicht. Dafür ist er zu stolz, und selbst wenn sie ihm nachgeht – was sie verdammtnochmal nicht tun wird, sie läuft keinem Mann nach! – würde er wahrscheinlich nicht mit kommen. Zum Teufel, sie hätte ihm von Anfang an reinen Wein einschenken sollen. Sie hätte ihm sagen sollen, dass sie ihn mitnimmt, um ihn zu zeichnen, weil er eine Romanfigur ist. Sie schnappt nach Luft. Das klingt so blöd, selbst das hätte er ihr nicht abgekauft. Wahrscheinlich wäre er niemals unter diesen Umständen in ihren Polo gestiegen. Und wenn doch… Langsam geht sie zu Sofa und lässt sich darauf nieder, die Knie bis unters Kinn gezogen. Seine Teetasse steht auf einer Papierserviette mit Weihnachtsmotiv – unpassenderweise werden die Dinger ja nie zur Weihnachtszeit vollständig aufgebraucht und liegen nun fast ein ganzes Jahr auf ihrem Tisch. Jan hat sich niemals um solche Kleinigkeiten gekümmert und sie hat jedes Mal Tobsuchtsanfälle unterdrücken müssen, wenn auf ihrem Holztisch unschöne Ringe entstanden sind. Aber Raoul ist vollkommen anders, eben wie ein Mann, der zu einer ganz anderen Zeit mit ganz anderen Werten großgezogen wurde. Kopfschüttelnd nimmt sie den Blick von der Tasse. Sie sollte ihn vergessen. Er wird nie wieder auftauchen und morgen wird sie das alles bestimmt nur noch für einen Traum halten, ausgelöst von Stress, Müdigkeit und einer gescheiterten Beziehung.
Lustlos zappt sie durch das Fernsehprogramm , ertappt sich immer wieder bei dem Gedanken an das, was Raoul wohl zu den vielen nackten Frauen gesagt hätte und ist bald eingeschlafen.

Als sie früh am nächsten Morgen erwacht flimmern ihr billige Laiendarsteller in Pseudo-Gerichtsshows entgegen. Sie fühlt sich wie gerädert und beschließt, den Tag mit einem heißen Bad zu beginnen. Bisher hat sie den Blick in den Spiegel konsequent vermieden und als sie es nun wagt, zuckt sie zusammen. Ihr Jochbein ist noch immer angeschwollen, schillert in einem blau-grün und die Verletzung breitet sich langsam auf das Auge aus. Mit den Fingerspitzen betastet sie die schmerzenden Stellen, wendet sich schließlich ernüchtert ab und legt sich in die Wanne.Diese Verletzung wird sie unmöglich kaschieren können und bis zu ihrem Termin in wenigen Stunden wird sie keinesfalls verheilt sein. Wenn sie Glück hat, wird niemand danach fragen, oder wenigstens ihr Lüge mit der offenen Schranktür glauben. Diese Leute kennen sie nicht gut genug um zu wissen, wie oft sie in den vergangenen Jahren „in offene Schranktüren gelaufen" ist.
Als sie hört, dass die Haustür geöffnet wird, reagiert sie erst gar nicht. Erst wichtige Sekunden später, denkt sie an die Kette, die sie hätte vorlegen können, das Schloss, das sie besser schon gestern hätte wechseln lassen sollen. Verdammt, wie konnte sie vergessen, dass Jan noch immer den Schlüssel zu ihrer Wohnung hat?
Gerade als sie hektisch aus dem heißen Wasser steigt, wird die Badtür aufgerissen.
Erschrocken mustert sie den großen, dunkelhaarigen Mann, der im Türrahmen stehen bleibt und sie mit zu Schlitzen verengten Augen ansieht.
„Hier bist du also."
Automatisch senkt sie den Kopf und wickelt das Handtuch um ihrem nassen Körper noch enger.
„Was willst du noch hier? Ich dachte, du hättest verstanden, dass du dich hier nicht mehr blicken lassen solltest."
Jan legt den Kopf schief, während sein Blick ungeniert an ihrem mit Gänsehaut übersätem Körper hinabgleitet, wieder herauf und schließlich an ihrem Busen hängen bleibt.
Leonie zieht das Handtuch höher. Sie hasst es, wenn er das tut. Und sie hasst ihn… Oh Gott ja, sie hasst ihn und das letzte halbe Jahr, in dem es ihr endlich bewusst wurde, hat sie damit zugebracht sich mit ihm zu streiten, zu trennen, auf sein Gejammer, seine Drohungen einzugehen und ihn schließlich wieder aufzunehmen.
Gelangweilt zuckt er mit den Schultern, macht ein- zwei Schritte ins Bad auf sie zu. Sie weicht zurück.
„Ich dachte, wir könnten noch einmal reden.."
Sie schnaubt.
„Reden? Jan, wir haben die ganzen letzten Wochen nichts anderes gemacht. Als ich deine Sachen rausgeworfen habe, war das endgültig. Ich will dich nicht mehr sehen!"
„Das meinst du nicht so... das ist bloß wieder eine deiner Phasen… Heute ist der zwanzigste, nicht wahr? Du bist bald wieder fällig."
Leonie keucht.
„Zum Teufel mit dir! Ich hab dir gesagt du sollst dich verpissen. Und ich mein es ernst…"
„Dann hast du also doch nen anderen." Er packt sie fest am Arm und zwingt sie ihm in die Augen zu sehen, „Wer, Leonie… Wer ist es? Der Kerl aus dem Buchladen? Dem du jedes Mal schöne Augen machst?"
Während sein Gesicht ihr immer näher kommt, versucht sie verzweifelt sich aus seinem festen Griff zu befreien.
„Du tust mir weh! Lass mich los verdammtnochmal, sonst ruf ich die Polizei."
Jan zieht sie an sich.
„Du machst jeden Kerl an, dem du begegnest…"
Leonie zittert und schließt die Augen. Der Arm wird blau… mal wieder. Aber sie kann ihn unter einem Pullover verstecken. Wenn er ihr nicht wieder ins Gesicht schlägt, muss sie sich keine neue Ausrede für die Leute vom Buchverlag ausdenken, ein zweites Veilchen wäre ein Problem. Wenn sie allein ist… oder wenn sie im Buchverlag ist, wird sie die Polizei rufen, die Schlösser wechseln lassen… Sie wird ihn los sein…
„Jan, bitte. Lass mich los, dann… dann reden wir, ganz in Ruhe. Okay?"
Jan grunzt missmutig ohne seinen Griff zu lockern. Seine braunen Augen halten ihre fest, sie erstarrt in der Bewegung, unfähig noch einen Versuch zu starten, sich loszureißen.
„Sag mir, dass es ein Fehler war. Du hast nicht nachgedacht und heute wolltest du mich um Verzeihung bitten…"
Leonie schluchzt.
„Jan, lass mich los!"
„Sag es!"
„Ich glaube, die Dame fühlt sich von Ihnen belästigt."
Ebenso überrascht wie Leonie, löst sich Jan von ihr und fährt um. Geringschätzig mustert er den kleingewachsenen blonden Mann, der mit geballten Fäusten in der Badezimmertür steht, dann grinst er böse.
„Ist er das? Ist das dein Neuer?" Als Leonie nicht reagiert packt er sie an den Schultern und schüttelt sie heftig.
Raouls Hand schließt sie um Jans Arm.
„Ich meinte, die Dame hätte Sie eben gebeten zu gehen."
Nun sichtlich genervter wendet sich Jan um, befreit sich aus Raouls unerwartet starken Griff und grunzt.
„Was willst du von diesem Würstchen?"
Leonie schnieft zitternd.
„Gehen Sie."
„Du hast mir überhaupt nichts zu sagen. Das ist meine Wohnung!" knurrt Jan.
Unbeirrt sieht Raoul ihn an, hält Jans Blick Stand und packt ihn dann so plötzlich im Genick, das selbst Leonie überrascht zusammenzuckt.
„Verdammt, was soll die Scheiße… Das ist meine Freundin und meine Wohnung!"
„Es sieht nicht danach aus, als würden Sie auch nur eines davon zu schätzen wissen." Mit geringer Kraftanstrengung gelingt es Raoul, Jan aus dem Badezimmer zu zerren. Bevor er ihn jedoch im Hausflur loslassen kann, hat sich Jan befreut und will sich unter lautem Geschrei wieder an ihm vorbei in die Wohnung drängen. Als Raoul sich ihm in den Weg stellt, schlägt er ihm ins Gesicht.
Leonie weicht zitternd noch weiter zurück. Sie kennt dieses Geräusch nur zu gut. Vielleicht die Lippe, vielleicht das Jochbein, wie bei ihr. Raoul ist jedenfalls nicht der erste Mann der für sie eine Tracht Prügel fängt.
Dem ersten Schlag folgt kein zweiter. Irritiert hebt sie den Kopf und lauscht.
„Ich werde mich nicht mit Ihnen schlagen, Monsieur. Aber es wäre klüger von Ihnen, jetzt zu gehen."
Jans gepresstes Keuchen dringt zu ihr. Worte die sie nicht verstehen kann. Und dann… Schritte auf der Treppe. Jan geht…
Es dauert etwas eine Minute, bis sich die Haustür leise schließt und jemand an die offene Badtür klopft. Als sie den Kopf hebt, steht Raoul in der Tür, blickt aber an ihr vorbei auf eine der bemalten Kacheln an der Wand.
„Geht es Ihnen gut?"
„Es… es ging mir schon besser. Was machen Sie überhaupt hier? Ich dachte Sie wären längst am Bahnhof oder Gott weiß wo…."
Zitternd steht sie auf, zieht das Handtuch zurecht und stützt sich mit der Hand an der Badewanne ab.
„Sie… Sie sollten sich besser anziehen, sonst werden Sie sich verkühlen," murmelt Raoul merkwürdig beschämt und verschwindet dann aus dem Türrahmen. Aber er geht nicht. Nein, die Haustür fällt nicht mehr ins Schloss und aus dem Wohnzimmer dringen gedämpfte Geräusche zu ihr. Hastig streift sie sich Pullover und Hose über, schlingt ein Handtuch um den Kopf und folgt ihm dann.
Sie findet ihn auf der äußersten Kante des Sofas sitzend vor. Er knetet seine Hände und sieht nicht auf, als sie eintritt. Wortlos legt sie ihre Decke zusammen und trägt dann die schmutzigen Tassen in die Küche.
Als sie mit einem Tablett mit zwei Tassen und einer frischen Kanne Tee zurückkommt, scheint sich Raoul nicht einen Zentimeter bewegt zu haben. Leonie befüllt die Tasse und stellt sie auf die Serviette vor ihm.
„Danke."
Sie winkt ab.
„Ich sollte mich eher bei Ihnen bedanken, glaube ich… Ich hatte wohl Glück dass Sie noch einmal zurückgekommen sind."
Raouls Mundwinkel zuckt.
„Ich habe nicht einmal diese Straße verlassen…"
„Sie waren die ganze Nacht da draußen?"
Er nickt und greift nach der Tasse, die er mit beiden Händen umklammert.
„Das eben… das war Ihr Mann?"
„Mein Exfreund," als sie seinen verständnislosen Blick sieht fügt sie hinzu, „Der Mann mit dem ich zusammengelebt habe. Aber das ist vorbei…"
„Das scheint er offensichtlich nicht so zu sehen."
„Offensichtlich." Langsam lehnt sie sich zurück und beobachtet ihn aus dem Augenwinkel.
„War er schon immer so?"
„So aufdringlich?" Sie lacht freudlos.
„Nein, so gewalttätig. So böse zu Ihnen…"
„Nein, nur wenn er gerade wieder eifersüchtig auf etwas oder jemanden ist. Aber das ist er die meiste Zeit." Sie zuckt mit den Schultern, „Ansonsten begnügt er sich damit meinen Monatszyklus auswendig zu lernen und mir Hobbies aufzudrücken, die ich nicht mag. Aber das ist jetzt vorbei... Ein für alle Mal!" Sie stellt die Tasse so entschieden auf den Tisch, dass der Tee überschwappt. Mit einem unterdrückten Fluch macht sie sich daran, mit der einer Serviette das schlimmste zu beseitigen.
„Gut."
Überrascht sieht sie auf. Raoul hält noch immer die Tasse umklammert und hat scheinbar noch keinen einzigen Schluck getrunken.
„Warum sind Sie noch hier?" fragt sie schließlich leise.
Seine linke Augenbraue zuckt.
„Ich möchte alles über diese…. Filme und Bücher wissen. Und ich denke, Sie werden mir dabei helfen können. Ich will wissen, was dieser Leroux über uns verbreitet hat und dann… Dann werde ich vielleicht auch wissen, wie ich nach Hause komme."