Chorknaben
Marik trat von einem Bein aufs andere und sah mit Unmut zu dem großen Tor, das ihm in wenigen Minuten den Eintritt in die große Konzerthalle geben würde. Er hatte mit Odion und Ishizu geschlagene zwei Monate geübt, auch wenn er überzeugt war, dass er ein grauenvoller Sänger war und die Veranstaltung verhauen würde.
Widererwarten konnte Odeon nämlich sehr gut singen und Ishizu hatte eine wunderschöne, klare Stimme. Sie würde das Solo singen – Marik hatte sich erfolgreich geweigert.
Ishizu und Odeon hatten ihn unbedingt dazu bewegen wollen, aber nach mehreren großen und kleinen Wutanfällen, hatten sie es dann doch aufgegeben. Warum sie das so dringend gewollt hatten, leuchtete Marik so oder so nicht ein. Seine Stimme war furchtbar, er konnte nicht im Rhythmus bleiben und außerdem sang er meist auch viel zu leise, wenn man den Gesang unter der Dusche ausklammerte.
Doch jetzt bekamen sie langsam große Probleme. In zehn Minuten wäre ihr Auftritt und Ishizu war noch immer nicht da. Odeon hielt Ausschau nach ihr, doch sie schien nicht zu kommen. Vielleicht war ihr ja etwas passiert?
Marik machte sich einerseits Sorgen um seine Schwester und andererseits um sich selbst. Wenn das nur einer ihrer Pläne gewesen wäre, damit er schließendlich doch das Solo singen musste?
Gerade als er anfangen wollte, sich lautstark bei Odeon über seine Schwester und deren Unzuverlässigkeit zu beschweren, klingelte sein Handy. Er sah auf das Display und fluchte leise. Seine Schwester war es.
„Du, Marik? Es tut mir Leid, ich bin erkältet. Ich kann so unmöglich singen, aber du kannst das ja machen, in Ordnung?"
„Ishizu!"
Sein empörter Aufschrei kam ein paar Sekunden zu spät, denn seine Schwester hatte schon aufgelegt. An ihrem Ende der Leitung grinste sie und setzte sich einen Tee auf. Sie würde sich das Konzert im Fernsehen ansehen und wehe ihrem kleinen Bruder, wenn er nicht den Mut zusammenbrachte, dass er für sie sang.
Sie machte es sich auf dem Sofa gemütlich, schaltete den Fernseher an und wartete darauf, dass ihr Bruder und Odeon mit ihrem Auftritt dran waren.
Marik sah Odeon wütend an und schüttelte den Kopf. Er würde nicht singen, um keinen Preis. Doch Odeon schien der Unwillen Mariks nicht zu interessieren, er lächelte nur und legte ihm eine Hand auf die Schulter, schob ihn so in den hinteren Teil der Halle hinein.
„Du kannst sehr schön singen, also tu es auch. Es ist für deine Schwester."
„Die spielt doch nur krank.", meinte er empört.
„Selbst wenn..."
Marik verschränkte die Arme und setzte sich auf den Boden. Das hatte er auch schon als kleiner Junge immer gemacht, wenn ihm etwas nicht gepasst hatte. Er war stur wie er es immer schon gewesen war. Nur jetzt hatte Odeon nicht mehr viel Zeit, ihn umzustimmen. In wenigen Minuten würde der Vorhang aufgehen und sie müssten ihren Song zum Besten geben.
„Bitte, es ist doch nur dieses eine Mal. Vielleicht wird es ja ganz... witzig?", sagte Odeon möglichst ruhig, auch wenn er langsam nervös wurde, denn die Ansprache für ihren Auftritt wurde schon gehalten.
Marik schnaubte und wandte sich von ihm ab, die Menge draußen klatschte schon zur Begrüßung.
„Marik... wenn sie dich so sehen, ist es noch viel peinlicher..."
Da hatte Odeon nicht ganz unrecht, musste sich Marik eingestehen. Wenn ihn Hunderte, durch die Fernsehübertragung sogar womöglich Millionen, schmollend wie ein Kleinkind auf dem Boden hocken sahen, dann war das sogar mit Sicherheit peinlicher, als seine grauenvolle Stimme.
„Okay, ich mach's."
Marik erhob sich, klopfte sich den Staub von den Klamotten; gerade noch rechtzeitig, denn der Vorhang ging in diesem Moment nach oben. Selbstbewusst ging er nach vorne, wo eigentlich Ishizu hätte stehen sollen und begrüßte die Zuhörer.
Odeon wunderte sich etwas über die plötzliche Sinneswandlung, aber ihm war auch klar, dass Marik wohl lieber die Peinlichkeit ertrug zu singen, als die Peinlichkeit, die ihm sonst passiert wäre. Obwohl es ja durchaus niedlich war, wenn er so stur war.
„Wir werden ihnen heute ein sehr bekanntes Lied vorsingen. All I want for Christmas is You! Ich hoffe, sie werden ihren Spaß haben."
Marik versteckte den bitteren Unterton des letzten Satzes gut, aber Odeon hatte ihn trotzdem herausgehört, das Lachen konnte er sich aber noch verkneifen. Er stellte sich an sein Mikrofon und wartete darauf, dass das Lied begann.
Die Scheinwerfer gingen aus und es wurde dunkel in der Halle, die Melodie begann leise zu ertönen und die Anspannung, die von Marik ausging, war immer deutlicher zu spüren. Doch als das Licht wieder heller wurde, war davon nichts mehr zu bemerken.
Die ersten Strophen sang er noch etwas zu kleinlaut, doch als das erste Mal der Refrain ertönte, fand er seine Stimme anscheinend wieder und sie klang erstaunlich gut.
I I don't
want a lot for Christmas
There is just one thing I need
I don't
care about presents
Underneath the Christmas tree
I don't need
to hang my stocking
There upon the fireplace
Santa Claus won't
make me happy
With a toy on Christmas day
I just want you for
my own
More than you could ever know
Make my wish come true
All
I want for Christmas is you...
You baby /I
Beim zweiten Refrain war es dann um sein Lampenfieber gänzlich geschehen und er sang mit voller Stimme, bezog das Publikum mit ein und empfing strahlend die Rosen, die ihm kleine Mädchen nach vorne brachten.
Er schien ganz in seinem Element zu sein und das obwohl er sich vorher doch so sehr gewehrt hatte. Aber gut, so war er eben und genau das mochte Odeon so sehr an ihm. Vielleicht liebte er es sogar an ihm...
Ganz in seinen Gedanken versunken bemerkte er nicht, dass Marik auf ihn zugekommen war und ihn nun ansang.
I I won't ask
for much this Christmas
I won't even wish for snow
I'm just
gonna keep on waiting
Underneath the mistletoe
I won't make a
list and send it
To the North Pole for Saint Nick
I won't even
stay awake to
Hear those magic reindeer click
'Cause I just
want you here tonight
Holding on to me so tight
What more can I
do
Baby all I want for Christmas is you
You... /I
Odeon verstand zunächst nicht, was Marik damit bezweckte, doch er kramte sein gesamtes Englischkönnen hervor und übersetzte sich den Text. Vielleicht meinte Marik ja mit damit ihn?
Er verwarf den Gedanken schnellstens wieder und konzentrierte sich darauf beim Refrain seine Aufgabe zu erledigen und im Background zu singen. Marik entfernte sich wieder von ihm und brachte die Menge dazu, mit ihm mitzusingen. Einige der Leute standen auf und wippten im Takt, ein Mann im Rollstuhl klatschte mit.
Das Konzert war ein voller Erfolg und als der Vorhang nach unten ging, wandte sich Marik zu Odeon um und lächelte ihn freudestrahlend an.
„So schlimm war das gar nicht." Odeon nickte ihm zu und sie verließen den Saal.
Draußen hatte es geschneit und sie konnten nun vom Hotelzimmer aus, in dem sie wohnten, sehen, wie langsam die letzten übrigen Flocken hinunterrieselten.
Marik schnappte sich gleich das Telefon und rief bei Ishizu an, die ihm begeistert ins Ohr brüllte, wie toll er doch gewesen sei und wie stolz sie sei.
Nachdem er sie einige Minuten ausgehalten hatte, legte er auf und setzte sich neben Odeon auf den Fenstersims.
„Ich liebe Schnee." Marik seufzte glücklich und sah nach draußen. Die Lichter der Stadt erstrahlten in allen Farben, die er kannte. Vielleicht waren auch ein paar dabei, die er nicht kannte.
„Das weiß ich. Dabei hast du heute gar nicht darum gebeten."
„Stimmt. Aber jetzt habe ich alles..." Marik sag zu Odeon, rutschte näher zu ihm und küsste ihn.
Odeon fiel vor Schreck beinahe um, konnte sich aber noch fangen. Verdutzt sah er Marik an, der nun an die Decke zeigte.
Dort hing ein Mistelzweig, direkt über den Beiden.
„Eigentlich mache ich mir nichts aus solchen Traditionen... aber diese hier... finde ich ganz praktisch."
Seine Wangen hatten sich gerötet und Odeon fragte sich, ob das vom Temperaturunterschied kam, oder er möglicherweise etwas damit zutun hatte. Er entschied sich für die zweite Möglichkeit.
„Dann war das vorhin kein Zufall, dass du mich angesungen hast, hm...?"
Odeon zog Marik in seine Arme, der lehnte sich an seine Brust an und wandte den Blick wieder nach draußen, wo der Schnee wieder etwas schneller vom Himmel fiel.
„Das war kein Zufall."
Sie saßen noch einige Stunden so da, bis auch der letzte Schnee zu Boden gefallen war und die Wolken einem klaren Sternenhimmel gewichen waren. Marik sah zur Uhr, es war schon weit nach Mitternacht – Heiligabend war angebrochen. Er erhob sich, nahm Odeon bei der Hand und zog ihn ins Schlafzimmer.
„Ich hab da noch ein Geschenk für dich..."
„Noch eines?"
„Noch eines.", sagte er leise, legte Odeon einen Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen und schloss die Tür hinter ihnen.
