Was du dir wünschst
Daisuke saß auf seinem Bett und starrte nach draußen. Es schneite unaufhörlich, schon seit mehreren Tagen. Er hasste Schnee, besonders wenn so viel fiel, denn dann wurde das Fußballtraining abgesagt und er hatte nichts zutun.
Besonders jetzt war es schlimm, denn er hatte sich damit ablenken wollen, davon dass Kari, seine große Liebe, nicht mit ihm zum Essen gehen wollte. Nein, wahrscheinlich würde sie mit Takeru, diesem blonden Möchtegern, ausgehen und ihn ließ sie eiskalt sitzen. Ihm war klar, dass er vielleicht nicht so schlau war, wie es Takeru war, aber er war auch kein so großer Volltrottel, dass man ihn so abservieren musste. Er seufzte und öffnete seiner Schwester die Tür, an die sie schon einige Minuten geklopft hatte.
„Sag mal, spinnst du? Willst du die Tür eintreten?" Er klang nicht ganz so energisch, wie er es sonst tat, was Junes verächtliches Schnauben aber nicht leiser machte. Sie reichte ihm das Telefon (es war schnurlos, so konnte er es mit ins Zimmer nehmen) und verschwand wieder in der Küche. Sie beschwerte sich lautstark über ihren unmöglichen kleinen Bruder.
Daisuke ging wieder in sein Zimmer und fragte sich einen Moment, wer überhaupt dran war, doch als er das Telefon an sein Ohr hielt, wusste er schon, wer es war. Er wurde von der sanftesten Stimme begrüßt, die er kannte.
„Hallo, Daisuke... ich bin's, Kari."
„K... Kari? Warum rufst du um die Uhrzeit hier an?"
„Ich kann auch wieder auflegen."
„Nein, nein!"
Sie kicherte leise und Daisuke konnte vor seinem inneren Auge sehen, wie sie den Kopf schüttelte. Sie hatte natürlich nicht vorgehabt aufzulegen, aber Daisuke einen Streich zu spielen, das schon. Er hoffte nur, dass nicht noch weitere folgen würden. So kurz vor Weihnachten mochte er es noch weniger, wenn ihn ständig jemand reinlegte.
„Ich wollte dich nur fragen, ob du morgen schon was vorhast..."
„Morgen ist Weihnachten."
„Ach, tatsächlich?" Wieder war ihr Lachen zu hören, dieses Mal aber lauter und herzlicher. „Ich dachte, wir könnten etwas miteinander unternehmen?", meinte sie. Daisuke war sich unsicher, ob er ihr das glauben konnte. Es war Weihnachten und er hatte gedacht, sie hätte schon ein Rendezvous mit Takeru, seinem Erzfeind – zumindest wenn es um Karis Herz ging. Ansonsten war er ja ein ganz anständiger Kerl, auch wenn er grausam Fußball spielte.
„Na ja, Zeit hätte ich schon...", antwortete er.
„Gut! Ähm... ich meine...", sie räusperte sich „Das ist schön."
Daisuke überlegte sich, ob er sie darauf ansprechen wollte. Er fragte sich, ob sie gerade rot geworden war, am anderen Ende der Leitung.
„Dann morgen. Ich hol dich gegen sieben Uhr ab, ja?"
„Ja... bis morgen, Davis."
Am nächsten Tag stand Daisuke schon sehr früh auf, was ungewöhnlich für ihn war. June bemerkte das natürlich gleich und zog ihn damit auf. Sie schien etwas zu ahnen.
„Na, bist du für deine Perle heute extra früher aufgestanden? Gut so! Braver Junge." Sie grinste ihn so breit an, dass er sie am liebsten damit beleidigt hätte, sie sähe aus wie ein sehr alter und hässlicher Gaul, aber er hatte an diesem Tag so gute Laune, dass er ihr strahlend zunickte. Das brachte June ziemlich aus der Fassung und ihr fiel der Toast aus dem Mund.
„Du bist einfach komisch.", sagte sie, stand auf und steckte ihren Teller in die Spülmaschine. Anscheinend war ihr der Appetit vergangen.
Daisuke konnte nicht anders, sein Lächeln wurde immer strahlender. Heute würde ihm nichts den Tag vermiesen können. Dafür würde er im Notfall auch selbst sorgen.
Allerdings hatte er ein ziemlicher Problem, eines, dass er vorher noch nie gehabt hatte. Was er anziehen sollte, das wusste er nicht. Er wusste ja auch nicht, was Kari erwartete. Sollte er sie in ein schickes Restaurant ausführen?
Oder wollte sie einfach nur irgendwo mit ihm hingehen, wo sie alleine sein konnten? Ins Kino vielleicht, oder auf einen Rummel? Die zweite Möglichkeit gefiel ihm am besten. Er wollte schon immer mit dem Mädchen seiner Träume alleine in einer der Gondeln des Riesenrads sitzen. Ein Kuss wäre noch schöner, aber so einen großen Erfolg rechnete er sich für heute dann doch nicht aus.
Das war ihm aber auch gar nicht so wichtig. Immerhin würde er heute, am Fest der Liebe, mit Kari zusammensein, anstatt dass sie mit Takeru zusammen war. Das war wohl besser als jeder Kuss, den er hätte bekommen können, wie er dachte.
Er machte sich schon eine Stunde vorher auf den Weg, damit er pünktlich war. Als er bei den Yagamis ankam, öffnete ihm Taichi die Tür. Er hatte stark gerötete Wangen und sah aus, als ob er gerade bei etwas sehr Anstrengendem gestört worden war.
Daisuke sah sich in der Wohnung um und erblickte Joe. Dieser stand vom Sofa auf und grüßte ihn. Daisuke konnte sich nun denken, wobei er Taichi, wie auch Joe, wohl gestört hatte, denn Tais Gesicht wurde noch mal um einen guten Rot-Ton dunkler. Er nahm Joe bei der Hand und zog ihn in sein Zimmer, das vorher einmal das Arbeitszimmer von Tais und Karis Vater gewesen war.
„Kari ist in ihrem Zimmer.", rief Tai ihm noch zu, bevor er die Tür hinter sich schloss. Was auch nötig war, denn Joe hatte schon wieder die Arme um ihn geschlungen.
„Na, hast du sie in flagranti erwischt?"
Kari kam aus ihrem Zimmer und begrüßte Daisuke mit einer Umarmung, die sie sofort wieder löste. Sie schien sich selbst noch nicht so bewusst gemacht zu haben, dass sie jetzt ein Date mit ihm haben würde und eine Umarmung im romantischen Sinne durchaus auch sehr viel anmachender empfunden werden konnte, als sonst.
„Gehen wir?", fragte er, um die Situation wieder etwas zu lockern. Sie nickte und er öffnete er die Tür.
„Ein richtiger Gentlemen?"
„Für dich immer."
Dass sie tiefrot anlief, sah er nicht, da sie schon zum Fahrstuhl vorgelaufen war und ihr Gesicht gut versteckte, indem sie es von ihm abwandte. Sie dachte darüber nach, wie sehr sich Daisuke geändert hatte. Natürlich, es waren immerhin vier Jahre vergangen, aber dennoch war es erstaunlich. Man konnte sich glatt in ihn verlieben...
„Ich hab mir gedacht, wir könnten auf den Rummel gehen? Ich meine, nur wenn du willst..."
Kari hörte ihm schon gar nicht mehr zu, ihre Augen funkelten vor Begeisterung.
„Ja! Ich hab gehört, man soll eine tolle Aussicht vom Riesenrad aus haben."
Daisuke unterließ es, einen Freudenschrei auszustoßen. Nur sein Grinsen wurde breiter. Er war froh, dass Kari das nicht bemerkte, sonst würde sie ihm vielleicht vorwerfen, er sei unmöglich. Ein wenig war er das ja auch. Aber wieso nicht? Das war man eben, wenn man verliebt war und er war schon so lange in sie verliebt gewesen, dass er seine Freude jetzt kaum mehr im Zaum hätte halten können.
Als sie beim Rummel ankamen, war es schon stockduster. Nicht ungewöhnlich für den Winter, aber umso ungewöhnlicher, da es eine sternenklare Nacht war. Es war ziemlich kalt und so blieb der ganze Schnee der letzten Tage liegen. Er knirschte unter ihren Füßen.
Daisuke zahlte den Eintritt und sie gingen durch das große Eingangstor, das aussah, als würde es unter den Schneemassen einbrechen können, die auf ihm lagen.
„Wo willst du zuerst hin?"
Kari lächelte verschmitzt und deutete zum Riesenrad hin. „Aber erst will ich noch eine heiße Schokolade, zum Mitnehmen."
Sie machten sich also auf um sich die Getränke zu besorgen. Daisuke nahm einen Früchtetee, Kari bekam ihre heiße Schokolade. Damit machten sie sich auf in Richtung Riesenrad, an dem schon einige Leute anstanden. Wahrscheinlich hätten sie ihre Getränke noch leergetrunken, bevor sie am Ende der Schlange ankamen.
Und tatsächlich konnten sie, gerade als sie dran waren mit einsteigen, die leeren Plastikbecher in einem Mülleimer entsorgen, der direkt neben dem Riesenrad stand.
Sie setzten sich in die Gondel und Daisuke bat den zuständigen Mann noch, dass er sie bitte nicht drehen sollte.
Langsam drehte sich das Rad und innerhalb von wenigen Minuten waren sie oben angekommen, dann stoppte es und sie konnten die Aussicht genießen. Kari saß Daisuke gegenüber und betrachtete die mit Schnee bedeckte und in allen möglichen Farben glitzernde Stadt. Tokio sah wie immer wunderschön aus, wenn es Weihnachten war.
Daisuke seufzte und starrte seine Schuhe an. Es war schön, hier mit ihr zu sein, das hatte er sich immer gewünscht. Aber es drängte sich ihm die Frage auf, warum sie sich auf einmal dazu bereiterklärt hatte – noch viel mehr, sie hatte ihn um diese Verabredung gebeten.
Vielleicht tat sie das ja nur aus Mitleid? Es würde ihn zumindest nicht wundern. Kari war schon immer sehr mitfühlend gewesen. Etwas, was er besonders an ihr mochte. Aber gerade jetzt wünschte er sich, dass sie diese Eigenschaft nicht haben sollte.
„Sag mal, Kari...?"
Sie wandte den Blick nur kurz vom Fenster ab, sah dann aber gleich wieder hinaus. Daisuke dachte, sie würde ihm nicht zuhören wollen, aber damit lag er ziemlich falsch. Im Halbdunkel der Gondel konnte man den Rotschimmer auf ihren Wangen allerdings auch nicht sehr gut sehen.
„Was ist denn?", hakte sie nach einer Weile nach, da Daisuke nichts mehr gesagt hatte. Sie sah ihn jetzt doch an, auch wenn es ihr peinlich war. Aber ihr war klar, dass es unhöflich wäre, ihn beim Reden nicht anzusehen sondern aus dem Fenster zu starren.
„Oh, nichts..."
„Du lügst. Du bist ein schlechter Lügner, Davis.", meinte sie mit sanftem Nachdruck, damit er nicht aufspringen und sich dagegen wehren würde. Das konnte man durchaus von ihm erwarten. Sie wechselte die Plätze und setzte sich neben ihn, legte ihre Hand auf seine.
„Sag schon."
„Ich dachte nur eben... ich dachte... warum hast du gestern plötzlich angerufen? Ich meine..."
Kari senkte den Kopf und seufzte schwer.
„Tai. Er hat mir ein wenig ins Gewissen geredet. Das kann er ganz gut." Daisuke sah sie daraufhin verwirrt an. Wieso sollte Taichi seiner kleinen Schwester ins Gewissen reden?
Eigentlich wusste sie immer ganz gut, was sie zutun hatte.
„Er hat mich gefragt, was ich mir wirklich für Weihnachten wünsche. Ob es nicht vielleicht etwas Anderes ist, als ich dachte... und er hatte Recht."
Sie wandte sich ihm zu, lächelte sanft, beugte sich zu ihm vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Mehr traute sie sich nicht zu. Doch Daisuke, der vor Schreck den Kopf gedreht hatte, hatte somit auch die Lippen auf Karis gebracht. Sie überlegte sich kurz, ob sie vielleicht den Kuss lösen sollte, ließ es dann aber geschehen. Sie rückte näher zu ihm, er legte ihr einen Arm um die Schultern und küsste sie inniger.
Damit hatte er mehr bekommen, als er für den heutigen Tag erwartet hatte... und alles, was er sich gewünscht hatte, das hatte er auch bekommen.
