Marmeladenweihnacht
In einem kleinen Dorf in Japan gab es lange Zeit eine Tradition. Sie hatte sich ganz alleine entwickelt. Heute wissen nur noch wenige von dieser Tradition, dabei ist es eine sehr schöne und besondere, eine, die ans Herz geht. Zumindest sollte sie das, denn das ist der Sinn dieser Tradition.
Jedes Jahr am 24. Dezember, Heiligabend, schenkten die Mädchens des Dorfes ihren Angebeteten ein Glas Marmelade. Damals wusste man in diesem Dorf noch nichts von Weihnachten, deswegen war es einfach nur das Marmeladenfest. Als die Zeit dann verging und das Dorf auch unter Krieg und Armut zu leiden hatte, vergaßen fast alle dieses Fest. Trotzdem gibt es auch heute noch Leute, die dieses Fest feiern. Genau wie dieses Mädchen hier, das gerade dabei ist, Marmelade zu kochen, für den, den sie liebt. Doch leider hat sie ein kleines Problem...
„Mama! Wir haben ja gar keinen Zucker!"
„Yuiko, deswegen musst du doch nicht so herumschreien.", entgegnete ihre Mutter ruhig und sah selbst in den Vorratsschrank. Tatsächlich war dort kein Zucker anzutreffen. Yuikos Mutter tätschelte den Kopf ihrer Tochter, die anscheinend gleich anfangen würde zu weinen. Es war das erste Mal, dass sie das Marmeladenfest feiern wollte und jetzt hatten sie keinen Zucker. Natürlich war das eigentlich nicht das Weltende, aber für Yuiko fühlte es sich schwer danach an. Immerhin war sie spät dran, an diesem Tag war der 24., was hieß, dass sie die Marmelade spätestens bis Mitternacht abgeben musste und das würde nicht mehr allzu lange dauern.
Ihre Mutter schaffte es nach einer halben Stunde endlich Yuiko zu beruhigen. Danach überredete sie ihre Tochter doch einfach im nächsten Supermarkt einkaufen zu gehen. Zunächst war Yuiko davon nicht so begeistert. Sie wollte lieber weitertrauern. Aber da ihre Mutter sie vor die Tür setzte, blieb ihr nichts Anderes übrig, als doch einkaufen zu gehen.
Der Markt war ja auch nur eine Viertelstunde entfernt, sie würde also bald fertig sein mit dem Einkaufen. Doch sie hasste es, in der Kälte herumzulaufen. Wo es doch nicht mal schneite. Mit Schnee wäre das Alles viel erträglicher, dachte sie bei sich. Ob es wohl noch zu Weihnachten Schnee geben würde oder wie letztes Jahr es erst Mitte Januar richtig schneien würde? Sie wünschte sich sehr, dass es noch heute Abend anfangen würde. Weiße Weihnachten wären schöner als jedes Geschenk.
Im Supermarkt war es brechend voll, die Leute stießen sich die Einkaufswagen pausenlos gegen die Rippen und zwei ältere Damen fingen beinahe an sich um die letzte Gans zu prügeln. Yuiko kam nur mit Mühe und Not bis zu dem Regal mit dem Zucker durch, wo sie erst mal verwundert stehen blieb. Vor dem Regal stand Yayoi, der anscheinend auch nach Zucker suchte. Oder möglicherweise nach Eiern, die gleich danebenstanden. Als er eine der Eierschachteln öffnete war Yuiko klar, dass er nicht auch wegen dem Zucker gekommen war und sie sich vielleicht wegschleichen konnte, bevor er sie entdecken würde. Es gelang ihr nicht, Yayoi begrüßte sie überstürzt mit einer festen Umarmung.
„Yuiko, was für ein Zufall!"
Sie seufzte und gab sich Mühe höflich zu lächeln. Sie hatte jetzt eigentlich keine Zeit für ein nettes Kaffeekränzchen, auch wenn sie durchaus Lust auf ein warmes Getränk hatte.
Yayoi begann sofort sie auszufragen. Was sie denn bei der Kälte und ausgerechnet heute noch hier machen würde, warum sie unbedingt Zucker brauchte und ob sie Fieber haben würde. Auf die Frage nach dem Zucker war Yuiko nämlich ein klein wenig hellrosa angelaufen, was Yayoi natürlich nicht entgangen war. Er musterte sie ja auch besonders gründlich. Das war ihr schon das ganze Jahr über immer wieder aufgefallen, aber sie hatte sich nie viele Gedanken darum gemacht.
Yayoi stellte sich an der Kasse direkt hinter Yuiko, damit er weiter mit ihr reden konnte. Langsam wurde sie nervös, fragte sich, ob sie hier so schnell wieder rauskommen würde. Einerseits war das ja ganz praktisch, aber besser wäre es gewesen, wenn sie ihn später, inklusive Marmelade, angetroffen hätte. Immerhin war er derjenige, der sie bekommen sollte.
Yuiko kam es ewig vor, bis sie endlich an der Kasse dran war. Hinter ihr stand noch immer Yayoi und schien mit Reden gar nicht mehr aufhören zu können. Oder er wollte es nicht, aber das war Yuiko jetzt alles herzlich egal, sie musste los und sich um ihre Marmelade kümmern. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, damit sie fertig wurde, und als ihr Yayoi hinterher jagte, nachdem er auch bezahlt hatte, bekam sie ein ungutes Gefühl, ob sie es überhaupt schaffen konnte.
Sie wollte ja auch nicht unhöflich gegenüber Yayoi sein, also konnte sie ihn schlecht einfach irgendwo im Regen stehen lassen. Sie hätte ihn normalerweise einfach mit zu sich genommen, dann hätte sie trotzdem weiterkochen können, aber in diesem speziellen Fall ging das schlecht. Obwohl sie es auf einen Versuch ankommen lassen konnte, was sie nach einigen Überlegungen auch tat. So wie er ihr hinterherging, würde sie ihn anders nicht loswerden können.
Als ihre Mutter ihnen die Tür öffnete, beeilte sie sich wieder in die Küche zu kommen und raunte ihr nur ein schnelles „Kümmere dich um ihn!" zu. Zeit hatte sie jetzt nämlich keine für Yayoi. Ihre Mutter war so nett zu tun, wie ihr geheißen worden war und führte Yayoi ins gegenüberliegende Wohnzimmer, von dem man aus zwar einen kleinen Blick in die Küche erhaschen konnte, aber nichts Weltbewegendes. Yayoi merkte nicht, was Yuiko da in der Küche tat und Yuikos Mutter Ablenkungsmanöver war so geschickt, dass Yayoi gar nicht merkte, dass er von etwas abgelenkt wurde.
Er unterhielt sich mit ihr über Gott und die Welt und bat gleich um die Hand Yuikos, beteuerte, dass er viel besser sei als dieser merkwürdige Ritsuka, der aussehen würde wie ein Mädchen und redete ohne Punkt und Komma solange, bis Yuiko mit der Marmelade fertig war. Weder Yayoi, Yuiko noch Yuikos Mutter hatten derweil bemerkt, dass drei Stunden vergangen waren.
Yuiko ging, als sie die Marmelade endlich fertig hatte, stolz ins Wohnzimmer. Yayoi sah sie verwundert an. Ihm waren die Stunden nur wie Minuten vorgekommen und er hatte vollkommen vergessen, wo er war und mit wem er sprach.
„Oh, Yuiko... da bist du ja wieder.", meinte er nach einer Weile, in der er nachgedacht hatte, was er am besten sagen sollte. Yuiko grinste und kicherte leise vor sich hin, packte ihn dann am Kragen und zog ihn in die Küche.
Ihre Mutter lächelte leicht und nippte an ihrer Tasse Tee. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass sie auch einmal so gewesen sein sollte. Jetzt fand sie diese jugendliche Freude und den Enthusiasmus geradezu gruselig – aber auch sehr herzlich und niedlich.
Yayoi ließ sich ohne weiter Beanstandung von Yuiko mit in die Küche ziehen.
„Was machen wir denn hier... oh, hast du Marmelade gekocht?" Sein Blick war auf das Glas gefallen, in dem zweifelsohne frische Marmelade war.
Yuiko nickte erfreut und überreichte ihm strahlend das Glas. Sie war stolz auf sich, dass sie noch rechtzeitig fertig geworden war. Sie konnte es ihm sogar noch heute, an Heiligabend, überreichen. Zwar nur durch einen, zunächst sehr dummen, Zufall, aber das war nicht weiter wichtig. Hauptsache, sie konnte das Marmeladenfest als erfolgreich bezeichnen.
Yayois Lächeln wurde immer breiter.
„Die ist für mich? Oh, danke, Yuiko...!"
Yuiko grinste ihn an und nickte. Natürlich war die Marmelade für ihn, warum hätte sie sie ihm sonst überreichen sollen? Jetzt konnte sie nicht nur stolz sein, sondern sich auch noch freuen, weil sich Yayoi tatsächlich über ihr Geschenk freute. Auch wenn er nicht wirklich wusste, um was es ging. Das konnte sie ihm auch auf einem anderen Weg beibringen.
Sie reckte den Hals und berührte mit den Lippen kurz Yayois Wangen, der erschrocken einen Schritt zurücktrat und dessen Gesicht nun aussah wie eine riesige, reife Tomate. Er hätte sicher jeden Gemüsewettbewerb gewonnen, wenn er denn Gemüse gewesen wäre und kein menschliches Wesen. So musste er sich eben mit einem weiteren Kuss von Yuiko abfinden. Dieses Mal wich er nicht zurück.
Er hatte noch nie geküsst und geküsst worden war er zuvor auch nie. Nun stand er hier mit Yuiko, die ganz sanft die Lippen auf seine gelegt hatte. Ein wenig schüchtern, aber auch bestimmt.
„Was war das...?", fragte er, als sie endlich beide wieder dazu kamen, ein wenig Luft zu schnappen.
„Normalerweise bezeichnet man so etwas als Kuss.", meinte sie lächelnd. Yayoi lief daraufhin wieder rot an. Wenn man denn davon reden konnte, dass er die vorige Röte schon bezwungen hatte. Er trat von einem Bein aufs Andere und schien sich nicht sicher, was er jetzt sagen sollte. Yuiko wusste es besser.
„Möchtest du mit uns zu Abend essen?"
Yayoi nickte erleichtert, dass er nicht hatte anfangen müssen mit dem Reden. Er fragte, ob Yuiko kochen würde, oder ihre Mutter und bekam eine erstaunliche Antwort. Yuiko erzählte ihm, dass sie jeden Abend gemeinsam kochen würden. Sie fragte ihn, ob er heute auch mithelfen wollte. Er bejahte.
Das war sein erstes Weihnachtsfest, das er nicht Zuhause verbracht hatte, aber es machte ihm gar nichts aus. Er dachte die meiste Zeit nicht einmal darüber nach, dass er die Bescherung verpasste und er seine Geschenke erst am nächsten Tag bekommen würde.
Da es immer später wurde und schon stockdunkel draußen geworden war, übernachtete er heute bei Yuikos Familie. Er durfte auf der ausziehbaren Couch schlafen, die außerordentlich bequem war, wie er Yuikos Mutter mitteilte. Die hatte nämlich öfter einen skeptischen Blick auf ihn geworfen, ob er etwas Unanständiges mit Yuiko anstellen würde.
Sie kam zu dem Schluss, dass er zwar ein braver Junge sein würde, er aber doch besser auf dem Sofa schlafen sollte, als auf einer Matratze in Yuikos Zimmer. Man konnte ja nie wissen. Sie wollte auf alle Fälle sichergehen. Yayoi machte es nichts aus, auf dem Sofa zu schlafen. Er war noch viel zu abwesend, dank Yuikos Kuss. Dieser bescherte ihm auch die schönsten Träume seit langem.
Als Yuiko ihn dann frühmorgens aus dem Bett – beziehungsweise dem Schlafsofa – warf, war es vorbei mit den schönen Träumen. Dafür war aber noch etwas viel Schöneres geschehen. Yuiko zerrte ihn auf den Balkon und auf einmal war ihm klar, warum sie ihn schon um fünf Uhr aus dem Bett geworfen hatte.
Es hatte über die Nacht geschneit und nun lag eine dicke Schneedecke über ganz Tokio. Yuiko fragte ihn gleich, ob sie eine Schneeballschlacht machen sollten. Ihre eigene Mutter machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Diese fand nämlich, dass gerade junge Leute morgens anständig frühstücken sollten.
Das gemeinsame Frühstück war eine neue Erfahrung für Yayoi. Da seine Eltern schon immer sehr früh zur Arbeit fuhren, aß er meistens alleine oder ließ die Mahlzeiten ausfallen. Besonders das Frühstück. Erst an diesem Tag bemerkte er, wie schön es sein konnte, mit seiner Familie zu essen – und vor allem mit dem Mädchen, das man liebte und das einen ebenfalls liebte. Er fragte sich, was Ritsuka dazu sagen würde, wenn er es ihm erzählte. Falls er es ihm erzählen würde. Als kleines Geheimnis eignete sich diese Sache auch ganz gut. Es war ein vollkommen gelungenes Marmeladenfest gewesen in diesem Jahr.
