Geheime Wünsche
Tai und Sora hatten sich, wie auch schon im vorangegangenen Jahr, getroffen, um Weihnachtsgeschenke einzupacken. Für eine Person hatten sie aber beide noch kein Geschenk und konnten somit auch nichts einpacken. Beide hatten bei diesem besonderen Menschen lange gerätselt, was ihm gefallen könnte, kamen aber zu keinem guten – und billigen – Schluß.
„Weißt du schon, was du Matt zu Weihnachten schenken wirst?", hatte Soras Mutter Tai gleich gefragt, als er die Wohnung betreten hatte. Er hatte verwundert den Kopf geschüttelt und sich in Soras Zimmer führen lassen. Dort wurde er darüber aufgeklärt, dass Sora sich damit auch noch immer herumquälte. Dabei war schon in 48 Stunden Weihnachtsabend. Sie hatten also wirklich keine Zeit mehr, um noch viel länger darüber zu grübeln, was am besten sein würde. Also machten sie sich auf in die Kälte, um das nächstbeste was ihnen in die Hände fiel zu kaufen. Hauptsache, es kam von Herzen, oder?
Sora war allerdings nicht bei der Sache, als sie nach zwanzig Minuten Fußmarsch endlich beim Einkaufscenter angekommen waren. Sie schien abwesend und mehr am glänzend gebohnerten Fußboden interessiert, denn an den verschiedenen kleinen Geschenken, die überall herumstanden.
Nicht mal als Tai ihr die gebrannten Mandeln unter die Nase hielt, reagierte sie sofort. Erst als er versuchte ihr eine der Mandeln in den Mund zu schieben, war sie wieder ansprechbar. Sie hob den Kopf und so waren auch ihre roten Wangen zu sehen.
„Oh... äh... danke. Hattest du etwas gesagt?"
„Ob du was davon haben willst."
Tai drückte ihr die Mandel wieder an die Lippen. Unwillig öffnete sie ihren Mund und aß die Mandel auf. Tai dachte sich bei solchen Dingen nichts. Zumindest war sie sich recht sicher, dass er das nicht tat. Sie aber bekam davon Herzrasen. In dem Zusammenhang besser bekannt als Herzklopfen und in Manga dargestellt mit „Dodom" und roten Wangen.
„Ich hab gar nicht gemerkt, dass du welche besorgt hast."
Tai grinste sie an und deutete auf den Imbisswagen, der saisonbedingt umgestaltet worden war und an dem man jetzt Crepe, gebrannte Mandeln und anderen Süßkram bekam. Sie sah den Wagen eine kurze Zeit über an und nickte dann. Sie war anscheinend noch immer im Halbschlaf.
„Wie wäre es mit einem Kaffee, Sora? Du siehst irgendwie tranig aus."
„Dankeschön, du Charmeur. Aber okay, ich hätte nichts gegen einen Kaffee, warum nicht..."
Tai nahm sie bei der Hand und führte sie ins naheliegende Café. Dort war es mindestens ein Dutzend Grad wärmer als draußen. Sie entledigten sich ihrer Jacken und setzten sich an einen etwas abgelegeneren Tisch. Sora lehnte sich zufrieden zurück und bat Tai, für sie mitzubestellen.
„Wie immer... einen Latte Macchiato für mich."
Es dauerte keine zehn Minuten, bis sie ihre Bestellung bekamen. Tai zahlte gleich, damit sie später schneller gehen konnten. Sie waren immerhin schon vier Stunden unterwegs gewesen und es wurde Abend.
„Warum bist du eigentlich in letzter Zeit so komisch? Hast du deine Tage?"
Sora schnaubte verächtlich.
„Schon gut, schon gut. War ja nicht so gemeint! Willst du mir vielleicht trotzdem sagen, was los ist?"
Er sah sie eindringlich an und nahm den ersten Schluck seines Kaffees. Vielleicht etwas zu schnell, denn er verbrannte sich die Zunge. Aber es wäre ja auch etwas Neues gewesen, wenn Tai einmal nicht voreilig gehandelt hätte.
„Ich hab da ein Geschenk für jemanden...", fing sie an. Doch weiter kam sie nicht, denn irgendwie wusste sie nicht mehr richtig, wie sie sich formulieren sollte. Immerhin saß „jemand" gerade vor ihr und wenn sie zuviel sagte, dann würde „jemand" vielleicht auch merken, dass er gemeint war.
„Ja, und weiter im Text?"
„Also... und ich weiß nicht, ob ich es ihm geben soll, ob es ihm gefällt... oder ob er mich dann... ich weiß auch nicht."
Tai sah sie lange an und sagte nichts. Sora war sich nicht sicher, ob er jetzt überlegte, oder er wirklich einfach dazu nichts zu sagen hatte.
„Das verstehe ich. Sag mal, was ist das für ein Geschenk?"
Sora schüttelte wild den Kopf, welcher sich schon wieder rot gefärbt hatte und ihre Haare sehr blass erscheinen ließ.
Tai zuckte mit den Schultern und nahm noch einen Schluck aus seiner Tasse. Wenn sie es ihm nicht sagen wollte, dann würde er sie auch nicht dazu zwingen.
Das war etwas, was Sora an ihm schätzte. Vor drei Jahren war er noch nicht so gewesen, aber jetzt hatte er eine erstaunliche Ruhe vorzuweisen. Nicht immer, aber in wichtigen Dingen schon. Inzwischen war er viel erwachsener geworden und reichte Matt in diesem Belang nicht nur das Wasser, er übertraf ihn oft auch noch.
Sora rutschte mit dem Stuhl näher an Tai heran und flüsterte ihm ins Ohr: „Das Geschenk ist eine Liebeserklärung – inklusive Kuss!"
Tai wandte sich ihr verdutzt zu und wuschelte ihr dann durchs Haar. Sie glättete sich empört ihre Haare und dachte schon, er würde jetzt gleich wieder einen Witz reißen oder Ähnliches.
„Ich denke, Matt wird das sicher mehr freuen als mein Geschenk."
Soras Mund öffnete sich langsam, aber weit und schien nicht vorzuhaben, sich demnächst wieder zu schließen. Tai tippte ihr ans Kinn, aber sie schloss den Mund weiterhin nicht.
„Matt? Wieso den Matt?"
„Na ja, ich dachte... etwa nicht Matt? So ganz ehrlich!"
„Ganz ehrlich."
Sie rollte mit den Augen und tippte ihm an die Stirn. Vielleicht hätte sie sich doch nicht so große Gedanken um alles zu machen brauchen. Tai machte sich ja auch selten viele Gedanken um etwas. Zumindest wirkte er so, ganz besonders in diesem Moment, auf sie.
„Vielleicht bist es ja auch du...?"
Tai schüttelte lachend den Kopf. Er schien gar nicht aufhören können zu lachen. Sora derweil überlegte sich, ob sie ihn nicht einfach hier sitzen lassen sollte und ihr Vorhaben streichen.
Gerade als sie aufstehen wollte, packte Tai sie am Arm und hielt sie so auf. Er sah sie lächelnd an. Allerdings mit einem bitteren Unterton.
„Ich mag es nicht, wenn man sich über mich lustig macht, Sora. Das... mir reichen die vorigen fünfzehn Jahre. Jetzt will ich das nicht mehr und ich bin nicht bereit, weiter den Pausenclown zu spielen."
Sora sah ihn verwirrt an. So eine Rede, beinahe schon eine Maßregelung, hatte sie jetzt nicht erwartet. Erst Recht nicht, weil das hier Tai war, der vor ihr saß und das gesagt hatte. Aber sie konnte ihn durchaus verstehen. Wahrscheinlich kam es nach dem, was man schon alles mit ihm gemacht, bei ihm so an, als ob sie ihn nur veralbern wollen würde.
„Das stimmt doch aber gar nicht, Tai. Es tut mir Leid... ich wollte dir nicht wehtun."
Er ließ sie los und betrachtete den Boden der geleerten Kaffeetasse. Eigentlich hatte er ihr das jetzt gar nicht sagen wollen. Zumindest nicht in einem dermaßen lauten Ton. Die meisten der Gäste hatten sich zu ihnen umgedreht und ihn strafend angesehen.
Wieder einmal hatte er sich wie ein Clown aufgeführt.
„Das ist in Ordnung so. Nur gewöhn dir besser an, so was nicht mehr zu machen. Höflich ist das in keinem Fall."
Sora nickte betroffen. Sie war sich nicht sicher, ob sie das Thema noch einmal aufgreifen konnte, ohne dass ihr Tai gleich wieder über den Mund fahren würde.
„Was wäre... lass mich ausreden... was wäre wenn es aber wirklich du wärst? Wenn du mich damit traurig machen würdest, wenn du mir nicht glaubst?"
Tai schien einen Moment überlegen zu müssen, was er darauf sagen konnte. Er konnte ja wirklich nicht wissen, ob es nicht doch die Wahrheit war. Außerdem war ihre Unterhaltung sowieso nur theoretisch. Wahrscheinlich meinte sie doch Matt und war nur zu schüchtern, um es zuzugeben.
„Dann wäre ich ziemlich dumm. Wäre aber auch nichts Neues, oder?"
„Wenn du es selber ständig sagst, natürlich nicht."
Tai nickte darauf, verschränkte die Arme und sah aus dem Fenster. Er hatte spätestens jetzt keinerlei Lust mehr, das Gespräch fortzuführen.
„Ach, Taichi..."
Sie beugte sich etwas noch vorn, um mit ihren Lippen seine Wangen berühren zu können. Anders, als sie erwartet hatte, rührte er sich zunächst nicht. Er strich sich mit einer Hand über die Wange und wandte den Kopf dann ganz langsam wieder zu ihr.
„Warum hast du das gemacht?"
Tais Blick war außergewöhnlich wütend. Allerdings schien er noch nicht so wütend zu sein, um gleich aufzuspringen und zu gehen. Sora atmete tief und ruhig ein, ehe sie zu sprechen begann.
„Das war der erste Teil des Geschenks. Hättest du mich angeschaut, hätte es sicher besser geklappt, aber man kann nicht alles haben. Jetzt kommt der zweite Teil."
Tai stand ohne noch weiter zu warten auf und stürmte aus dem Café – Sora hinterher. Sie würde sich nicht von ihm abhängen lassen.
„Warte doch mal! Wenn ich gewusst hätte, dass du so reagierst, hätte ich dich erst irgendwo angebunden!"
Nach einer Hetzjagd durch halb Tokio hatte sie ihn endlich am Ärmel packen und zum Anhalten bewegen können. Er würdigte sie keines Blickes, ließ sich aber dazu überreden sich mit ihr auf einer Bank niederzulassen und ihr zuzuhören.
„Ich mag dich, Tai. Sogar sehr. Sogar so sehr, dass ich sagen würde, ich bin in dich verliebt. Und das wollte ich dir an Weihnachten sagen... na ja, durch widrige Umstände ist es jetzt etwas zu früh..."
Sie redete ohne Punkt und Komma, Tai bewegte sich nicht weiter sondern starrte verbissen zu Boden und beobachte zwei Spatzen, die durch den frischgefallenen Schnee hüpften.
„Jetzt sag doch auch mal was, Tai!"
Sora war ein geduldiger Mensch. Das hieß aber nicht, dass ihr Geduldsfaden ewig hielt. Irgendwann war auch bei ihr Schluß. Tais Blick streifte sie kurz, konzentrierte sich aber gleich wieder auf etwas anderes. Er wollte und konnte ihr nicht antworten, denn er wusste nicht, was er sagen sollte. Entweder hatte er nur Phrasen parat, die Sora sicher verletzen würden, oder er würde stottern.
Es konnte ja gut sein, dass sie es doch ernst meinte. So aufgeregt war sie selten und wenn konnte man davon ausgehen, dass es ihr sogar bitterernst war.
Sie stand auf, stellte sich vor Tai und stemmte die Hände in die Hüfte. Er sollte ihr jetzt gefälligst eine Antwort geben. Sie hatte nicht umsonst Mut gesammelt, sie wollte jetzt etwas dafür bekommen und wenn es nur eine Abfuhr war.
„Sora... ich finde das... du bist die Erste... also... die mir so was gesagt hat und... ich weiß jetzt nicht, was..."
Sie sah ihn weiterhin streng an. Noch genügte ihr das nicht, auch wenn sie es äußerst niedlich und ansprechend fand, wie Tai schüchtern auf der Bank saß und Worte aus sich herauspressen musste. So sah man ihn selten und sie hatte das Glück, ihn in so einer Situation ganz für sich alleine haben zu können.
„Also, was weißt du nicht!"
„Ich meine, ich mag dich auch und... na ja, vielleicht auch... also..."
„Du bist auch in mich verliebt? Willst du das sagen? Wenn ja, das ginge auch schneller..."
Sie kniete sich vor ihn hin. Die Kälte des Schnees interessierte sie momentan nicht.
„Hast du was dagegen, wenn ich das eine Geschenk noch mal richtig nachhole, Tai?"
Er antwortete zwar nicht, aber sie kannte die Antwort auch so. Sie küsste ihn, ohne lange zu warten, ob er nicht vielleicht doch einen Einspruch erheben wollte.
Tai legte die Arme um sie, zog sie hoch und sie ließ sich auf seinem Schoß nieder. Erst nach langer, langer Zeit lösten sie sich wieder voneinander.
Sora grinste ihn stolz an. Das war das erste Mal, dass sie sich um einen Jungen bemüht hatte und dann auch noch so ein Erfolg. Die anderen Mädchen aus ihrer Clique würden sicher neidisch sein.
„Muss ich jetzt trotzdem noch sagen, dass ich...
„Ja, musst du. Gerade jetzt!"
„... ich bin in dich verliebt."
„Geht doch."
Sie lächelte ihn glücklich an und lehnte den Kopf auf seine Schultern. Sie fühlte sich pudelwohl in seinen Armen und hatte nicht vor, so schnell wieder von ihm herunterzugehen.
Tais Röte verschwand langsam auch wieder aus seinem Gesicht und er entspannte sich spürbar. Er fand es ebenso angenehm wie sie, mal abgesehen davon, dass ihm die Beine einschliefen.
„Tai, wenn du willst, dann kannst du an Weihnachten zu mir nach Hause kommen. Meine Mutter ist nicht da und ich dachte, ich könnte was kochen."
„Du hast doch keine Hintergedanken, oder?"
Tai war in dieser Sache ziemlich konservativ, das wusste Sora. Allein schon wegen Kari war er etwas pingelig, was sich mit der Zeit wohl auch auf ihn selbst übertragen hatte.
„Nein, hab ich nicht. Ich will nur Weihnachten mit dir verbringen... wo ich dich jetzt schon mal bekommen habe, da möchte ich doch auch etwas von meinem Geschenk haben."
Tai lachte und verpasste ihr eine Kopfnuss. Nicht so, dass es wehgetan hätte. Er freute sich schon auf den diesjährigen Heiligabend. Aber er dachte bei sich, dass er sein Wappen zumindest in dieser Sache nicht verdient hatte. Eigentlich hätte er so mutig sein müssen, Sora zu gestehen, was er fühlte. Aber manche Sachen konnten Mädchen wohl einfach besser. Das wusste er ja schon von Kari. Sora hatte den Verdacht erhärtet. Mädchen waren mutig, wenn es darum ging, einen Mann (oder Jungen) zu gewinnen und das war auch gut. Denn so konnten alle noch so geheimen Wünsche erfüllt werden.
