Das Geschenk der Kirschblüte
Sakura stand einige Meter entfernt von dem Freudenfeuer. Jedes Jahr wurde es fünf Tage vor Weihnachten entzündet und bisher hatte sie sich noch in jedem Jahr die Haare verkohlt, weil sie zu nahe herangegangen war. Dieses Mal würde sie das aber zu verhindern wissen. Sie hatte ihre Haare stramm nach hinten gebunden, auch wenn dadurch ihre markante Stirn hervorgehoben wurde, das störte sie überhaupt nicht. Da waren ihr ihre intakten Haare wichtiger als einen Tag Hänseleien.
Ino stand neben ihr und kicherte. Sie hatte längere Haare als Sakura, aber sie war noch kein einziges Mal so schusselig gewesen, sich die Spitzen ins Feuer zu hängen, egal, wie nahe sie herantrat.
Ino war ihr schon immer überlegen gewesen. Aber sie störte sich nicht besonders daran, denn Ino war auf ihrer Seite. Sie hatte Sakura schon oft in Schutz genommen, wenn die Jungs sie wieder einmal ärgerten und auf ihr herumhackten.
Sakura war eigentlich ein stolzes Mädchen, doch sie hatte die Angewohnheit, überstürzt zu reagieren und sich zu schnell aufzuregen. Ino sah sie von der Seite an, wie Sakura ängstlich das Feuer betrachtete.
„Jetzt sei kein Baby. Da passiert schon nichts.", meinte Ino gelassen. Es konnte ja auch nichts passieren, immerhin stand Sakura meterweit entfernt. Ino störte sich daran, denn so war es ziemlich problematisch mit ihr zu reden, ausgenommen sie schrie.
Sakura sah unglücklich zu den lodernden Flammen, wollte aber so kurz vor Weihnachten keinen Streit anzetteln und kam widerwillig zu Ino, stellte sich neben sie und hielt den Kopf verkrampft nach hinten, damit auch wirklich gar nichts passieren konnte.
Ino schüttelte den Kopf, packte sie sich und schleifte sie von der Gruppe weg, um allein mit ihr reden zu können.
„Das ist ja peinlich, was du da abziehst, Sakura!"
„Aber meine Haare..."
Ino seufzte genervt und streifte sich den Pony aus ihrem Gesicht. Jetzt, da sie nicht mehr in der Nähe des Feuers standen, konnte man erkennen, dass sie etwas Ruß abbekommen hatte. Ihr Gesicht wirkte dadurch nicht mehr ganz so hübsch, aber immer noch genug, um Sakura neidisch zu machen.
Sie lehnte sich an den Baumstamm und sah schmollend zu Boden. Es waren ja nicht Inos Haare um die es hier ging, sondern ihre und es war doch wohl an ihr zu entscheiden, welche Maßnahmen da peinlich waren und welche nicht. Sie hatte schon genug Schwachstellen, schwarzgebranntes Haar konnte sie nicht auch noch gebrauchen.
Ino tätschelte Sakuras Kopf und sah sie schuldbewusst an. Natürlich war sie wütend und die Sache war lächerlich, doch sie hätte Sakura nicht anschreien müssen. Sie war auch ein Mädchen und wusste, das Haare etwas sehr Wichtiges waren. Besonders wenn man so eine große Stirn hatte. Oder wie in Sakuras Fall es sich einbildete, eine zu haben.
„Es tut mir Leid. Ich bin heute nur ein wenig schlecht drauf. Verzeihst du mir und kommst wieder mit nach drüben? Wir könnten was essen. Man muss ja nicht immer gleich da stehen, wo einem die Glut ins Auge fliegt."
Sie lächelte und ergriff Sakuras Hand. Diese schien zunächst nicht bereit, wieder mitzukommen, ließ sich dann aber von Ino zu den Essensständen ziehen. Nach den ersten paar Bissen hatte sie ganz vergessen, dass sie bis vor kurzer Zeit noch schlechte Laune gehabt hatte.
Für den Rest des Tages vergaß sie einfach ihre schlechte Laune und achtete auch nicht darauf, wie viel und wie fettige Speisen sie zu sich nahm. Sie wollte den Abend einfach nur genießen. Das gelang ihr auch, noch dazu ohne irgendetwas dazu tun zu müssen. Sie redete ausgiebig mit Ino, beobachtete, wie selbige ein paar Jungs verprügelte, die sich hinter ihrem Rücken über Sakura lustig gemacht hatten und aß mehr, als jemals zuvor.
Später, als sie Daheim war und in ihrem Bett lag, fühlte sie sich wie ein prall gefüllter Luftballon, oder Truthahn. Auf alle Fälle war ihr außerordentlich übel. Sie fragte sich, ob der Zustand bis zum nächsten Tag vergehen würde, oder nur, wenn sie sich zum Bad begab und alles erbrach, was sie vor wenigen Stunden noch strahlend zu sich genommen hatte.
Als Sakura am nächsten Morgen noch immer im Bett lag und sich nicht rühren konnte, ohne einen stechenden Schmerz in der Magengegend zu verspüren, wunderte sich keiner darüber. Außer Ino.
Ino hatte sich am vorigen Tag mit Sakura verabredet und nun erschien sie einfach nicht, was so gar nicht ihre Art war. Als gute Freundin machte sie sich natürlich Sorgen und machte sich auf um sie zu besuchen. Und ihr möglicherweise eine Standpauke zu halten, falls sie keinen guten Grund für ihr Wegbleiben haben würde. Doch sie hatte ja eines. Als Sakuras Mutter Ino hereinließ, stürzte diese sofort in Sakuras Zimmer. Zu hören, dass es einer Freundin schlecht ging, war nie etwas Gutes, aber in diesem Fall fühlte sich Ino auch noch schuldig, da sie es gewesen war, die Sakura dazu gebracht hatte, sich auf dem Fest so zu überanstrengen.
Ino stürzte an Sakuras Krankenbett.
„Es tut mir Leid! Das ist alles meine Schuld!"
„Sonst bist du doch gar nicht so diejenige, die sich ständig entschuldigt...?"
Ino zog beleidigt eine Schnute. Wenn Sakura schon wieder Witze reißen konnte, dann konnte es ihr so schlecht ja nicht mehr gehen. Trotzdem war sie noch ziemlich blass und sah gefährlich aus – in dem Sinne, dass Ino Angst bekam, ihr Kleid könne gleich einen neuen Anstrich bekommen, der nicht gut zu ihrer Haut passen würde. Sie rutschte ein gutes Stück von Sakura weg.
„Na ja, ich muss doch wissen, wie es meiner Freundin geht."
Sakura lächelte und schloss die Augen. Sie schien Fieber zu haben, zumindest aber hatte sie die Nacht über sehr geschwitzt, ihr Nachthemd war durchnässt. Sie sah aus wie ein kranker, begossener Pudel mit Magendarmverstimmung. Ino verhielt sich das Schmunzeln gekonnt und zeigte die beste Mitleidsmiene, die sie schaffen konnte, angesichts des Anblicks, der sich ihr bot.
„Sag mal, Ino... wieso beschützt du mich eigentlich immer?"
Sakuras Stimme war leise und kratzig, ihre Augen hielt sie noch immer geschlossen. Anscheinend war es so angenehmer für sie. Ino konnte es ihr nicht verübeln. Wenn ihr schlecht war, dann versteckte sie sich meist unter der Decke. Hauptsache es war kühl und dunkel.
„Weil du meine Freundin bist. Was denkst du denn? Aus Jux und Dollerei sicher nicht!"
„So meinte ich das doch gar nicht." Sie öffnete ihre Augen wieder und sah Ino fragend an. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie es gleich verstehen würde, aber sie hatte sich wohl in ihrem Bodyguard getäuscht.
„Wie meintest du es denn dann?"
„Du opferst dich geradezu auf. Du bist immer für mich da und machst mir Mut... du bist eine tolle Freundin, aber ich hab nie gesehen, dass es bei anderen Mädchen auch so ist."
Inos Wangen hatten sich ein wenig rot gefärbt und sie sah demonstrativ aus dem Fenster, um Sakuras Blick auszuweichen.
„Du meinst also, ich kümmere mich zu sehr um dich? Ich bin eine Glucke!"
„Nein. Aber so... na ja, Mama und Papa verhalten sich so."
Ino räusperte sich und rutschte wieder näher zu Sakura, die sich inzwischen aufgesetzt hatte. Sie zog Sakura zu sich und zischte: „Wehe, du lachst jetzt oder so!"
Sakura wusste nicht, was Ino meinte, verstand es aber spätestens dann, als Ino ihr ins Ohr flüsterte.
„Ich glaub, ich hab mich ein bisschen in dich verliebt!"
Sie wandte das Gesicht wieder ab und dem Fenster zu.
„Findest du das komisch?"
Sakura überlegte einen Moment. Über so etwas hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht und sie mochte es nicht, die Meinungen und Ansichten von anderen nachzuplappern. Sie kam zu dem Schluß, dass sie es zwar komisch fand, aber nicht schlimm. Sie freute sich sogar ein bisschen. Nur fand sie keinen guten Weg, um Ino das zu sagen und stotterte bei jedem Versuch, etwas zu sagen.
„Schon okay, Sakura. Ich hätte das vermutlich nicht sagen sollen."
„Jetzt lauf nicht weg!"
Sakura konnte zwar noch nicht aufstehen, ihre Stimme war aber kräftig genug geworden, damit sie Ino zum Schweigen bringen konnte.
„Ich finde es schon ein wenig komisch... aber auch... ein bisschen schön."
Ino blieb stocksteif sitzen, als ihr Sakura einen Kuss auf die Wange hauchte und sie umarmte. Sie hatte vieles erwartet, vielleicht, dass Sakura sie auslachte, oder wütend rausschmiss und es herumerzählen würde, aber das sicher nicht.
Ino sah sie verständnislos an, noch immer mit rotem Kopf, und schien sich nicht rühren zu können, geschweige denn auch nur die Lippen zu bewegen. Sakura konnte sich das Lachen nicht verkneifen und umarmte Ino fester.
„Nun schau nicht so verdutzt! Es ist doch nichts dabei, oder?"
„Nein, ist es nicht..."
Ino ließ ihren Kopf auf Sakuras Schulter sinken und erwiderte die Umarmung vorsichtig. Sie hatte bisher selten Personen umarmt. Zumindest keine Personen, denen sie gerade ihre Liebe gestanden hatte. Sakura zerstörte die Harmonie allerdings mit einem lauter werdenden Röcheln. Sie stand auf und raste ins Bad, aus dem Würgegeräusche zu hören waren. Ino blieb verdattert sitzen und seufzte, wartete, bis Sakura fertig war und drehte Däumchen.
Erst nach einer geschlagenen Stunde kam Sakura wieder aus dem Bad. Sie sah bleicher aus als zuvor, aber auch erholter. Manchmal half einfach nur noch alles aus sich herauszuspucken. In dem Fall waren das zwar teure Fischgerichte gewesen, aber daran konnte man jetzt auch nichts mehr ändern. Hauptsache, ihr ging es wieder besser.
Ino empfing sie lächelnd.
„Geht's wieder?"
„Ich denke schon."
Sakura setzte sich wieder neben Ino, nachdem sie vorsorglich das Fenster geöffnet hatte und die Heizung heruntergedreht. Zu trockene Luft war nicht gut, wenn man eine Magenverstimmung hatte. Sie bemerkte nicht, wie die Schneeflocken auf den Teppich fielen. Erst, als Ino sie darauf hinwies, ob Sakuras Mutter Flecken mochte, bemerkte sie, dass es angefangen hatte zu schneien.
„Wow! Wir hatten noch nie weiße Weihnachten!"
Ino nickte zustimmend und robbte Sakura hinterher. Die war nämlich zum Fenster gerannt und starrte glücklich in den schneegrauen Himmel, der gar nicht mehr aufhören wollte, die weiße Pracht aus sich zu schütten.
„Wir könnten ja rausgehen und einen Spaziergang machen? Wenn es dir schon wieder gut genug geht, versteht sich."
Sakura schlug das Fenster zu und zog sich an so schnell sie konnte. Ino derweil legte die Hände an die Fensterscheibe, um die Vibration aufzuhalten.
„Ich bin fertig, wir können gehen, Ino!"
„Ist gut..."
Ino ließ das Glas nur widerwillig los, da sie noch immer befürchtete, es könne gleich zerspringen.
Draußen angekommen, bleib Sakura nochmals stehen und tippte Ino an die Schulter, um sie dazu zu bringen, sie anzusehen. Ino erhob skeptisch eine Augenbraue und stemmte die Hände in die Hüften. Es war kalt draußen und sie wollte sich lieber bewegen.
„Du, wir könnten doch Weihnachten auch zusammensein, oder?"
Inos Wangen waren schon von der plötzlichen Kälte rot und konnten es daher nun nicht mehr werden.
„Ja – Ja, das könnten wir wohl."
Sie kratzte sich verlegen am Kopf und sah auf die Schneedecke, auf der sie stand. Sie hatte Sakura das schon gestern fragen wollen und nun war sie ihr zuvorgekommen. Gleich zwei Überraschungen auf einmal. Irgendwie stand sie nicht mehr gut da, dachte sie. Wenn es darum ging, jemanden zu verprügeln, um Sakura zu beschützen, war sie ganz groß. Wenn es aber um eine Einladung ging, dann auf einmal ganz klein.
„Sehr schön! Du kommst zu mir, ja? Dann backe ich Kuchen und Kekse."
„Ja, so machen wir es. Jetzt lass uns aber gehen."
Sakura nickte, nahm Ino bei der Hand und ging zielstrebig mit ihr in Richtung des großen Felds, das an das Dorf angrenzte.
„Wie wäre es mit einem Schneemann? Oder möchtest du lieber noch mal einen Kuss?"
Sakura neckte Ino, die gerade wieder in ihre Gedanken versunken war. Das passierte jedes Mal, sobald sie aufhörte zu reden. Dann starrte Ino Sakura verträumt an, manchmal sogar mit offenem Mund. Sie sah merkwürdig aus, aber Sakura lachte trotzdem nicht über sie. Schließlich waren sie ja Freundinnen.
Ino fand sich wieder und nahm ihren ganzen Mut zusammen: „Also, mir gefällt beides, aber ein Kuss am besten!"
Sakura kam auf sie zu und gab ihr einen Kuss auf die Lippen. Ino taumelte daraufhin und fiel zu Boden.
„He – He... so war das aber nicht... ich meine, nicht, dass es mir was gemacht hätte..."
Sakura grinste sie an und schüttelte den Kopf. Ino brauchte nichts zu sagen. Sie reichte ihr die Hand und zog sie wieder ins Stehen.
„Es hat dir also gefallen? Mir auch.", sagte Sakura unverblümt. „Das können wir ruhig mal wiederholen."
Ino nickte abwesend und sah zu, wie Sakura eine große Schneekugel vor sich herrollte, die wohl der erste Teil des Schneemanns werden würde. Ino bewunderte Sakura für ihre Natürlichkeit. Deswegen war sie ihr von Anfang an sympathisch gewesen. Sie waren sich zwar sehr ähnlich aber auch sehr unterschiedlich in vielen Dingen.
Vielleicht hatte sie sich gerade deswegen in das andere Mädchen verliebt.
„Du, Sakura?"
„Ja?"
„Was wünschst du dir eigentlich zu Weihnachten?"
„Was wünschst du dir denn?"
„Mein Wunsch ist schon in Erfüllung gegangen!"
„Ich kann mir glatt denken, was das gewesen sein könnte."
„Tatsächlich?"
„Was glaubst du denn? Denkst du, ich sei dumm, oder wie?"
„Nein. Das du absolut wundervoll bist."
