Letzte Weihnachten, diese Weihnachten
Es war beinahe stockduster draußen. Nur der Vollmond machte der vollkommenen Dunkelheit einen Strich durch die Rechnung, genau wie der Schnee, der einiges an Helligkeit abgab. Tai hasste es, wenn Vollmond war. Er konnte dann nie einschlafen, geschweige denn durchschlafen. Er drehte den Kopf, sodass sein Gesicht nun im Kissen vertieft war. Nun war es endlich duster genug, dass er hätte einschlafen können. Das Problem daran war, dass er so ersticken würde.
Tai drehte sich also wieder zurück auf den Rücken und starrte die Decke an. Man konnte jeden winzigen Riss erkennen. Ihm gingen viele Dinge durch den Kopf, aber am meisten beschäftigte ihn, neben wem er hier lag, einem seiner ältesten und besten Freunde: Neben Joe!
Tais Eltern waren über Weihnachten verreist, aber da Tai noch ein wichtiges Fußballspiel gehabt hatte, war er zuhause geblieben. Das Spiel war gut gelaufen, sie hatten drei zu null gewonnen und die Party danach war auch schön weihnachtlich gewesen. Er vermisste seine Familie nicht sonderlich.
Erst als er bemerkte, dass er seinen Schlüssel in der Wohnung vergessen hatte und ihm niemand einfiel, zu dem er könnte, bekam er Sehnsucht nach ihnen. Er war durch Tokio gelaufen, es hatte geschneit, und an die Zeit gedacht, in der er und seine sogenannten Freunde in der Digiwelt gewesen waren. Inzwischen hatten sie kaum Kontakt mehr. Matt nannte ihn zwar noch immer seinen besten Freund, aber wenn sie sich mal aus Versehen in der Schule sahen, war das schon viel. Tai hasste ihn inzwischen regelrecht. Er fungierte nur noch als Überbringer der Fanbriefe für Matt, mehr war er ihm anscheinend nicht wert. Und die anderen ehemaligen Digiritter waren über die ganze Welt verstreut. Außer Joe, Matt und Sora war keiner mehr in Tokio ansässig. Und nur einer dieser Drei war noch nett zu Tai. In dieser Nacht war er sogar besonders nett gewesen.
Jetzt, da er neben Joe lag und dessen Arm um die Taille geschlungen hatte, kam es ihm wie ein böser Traum vor, was geschehen war, wie sie sich getroffen hatten, im verschneiten Tokio. Es war kalt geworden, dunkel und die Straßen immer leerer. Tai hatte nicht vorgehabt, stehen zu bleiben. Er war in Joe hineingelaufen, der ihn entsetzt angesehen hatte, sich die Jacke ausgezogen und Tai um die Schultern gelegt hatte. Er hatte ihn zu sich nach Hause gebracht, war aufgescheucht durch die Wohnung gerannt und hatte ihm einen Tee gekocht. Tai hatte sich die Zunge daran verbrannt, aber vor Erstaunen über das, was passierte, hatte er den Schmerz gar nicht wahrgenommen. Erst etwas später, als Joe ihn zum ersten Mal geküsst hatte, hatte er bemerkt, dass er eine leicht kratzige Stelle auf der Zunge hatte. Aber der Kuss war so gut gewesen, dass ihm dieser Schmerz nichts ausgemacht hatte.
Joe war auch alleine gewesen. Beide hatte man sie alleine gelassen, aber jetzt hatte Tai das Gefühl, dass es vielleicht Schicksal gewesen war. Eigentlich glaubte er ja nicht an Dinge wie Schicksal, oder Horoskope, aber an solche Zufälle auch nicht. Tokio war eine große Stadt, mit vielen Menschen. Aber ausgerechnet sie beide waren sich begegnet, im Schnee, alleine und an Heiligabend. An Weihnachten, dem Fest der Liebe.
Sie hatten miteinander geredet, Joe war immer näher an ihn herangerückt. Er hatte Tai gesagt, wie schön er aussehen würde, mit offenen Haaren. Er solle sie doch besser immer so tragen. Tai hatte sich einen Moment lang überlegt, ob er zurückweichen sollte, doch er hatte es nicht getan. Er hatte sich an Joe geschmiegt und den Kuss geschehen lassen. Sonst ließ er sich nicht einfach so anfassen. Erst recht nicht ließ er sich runterdrücken auf eine Couch und sich unters Hemd fassen. Tai ließ sich für gewöhnlich auch nicht in ein Schlafzimmer bugsieren und legte sich auf fremde Betten. Er hatte sich auch seit seinem vierten Lebensjahr nicht mehr von jemand anderem ausziehen lassen. Das hatte sich in dieser Nacht geändert.
Wenn er daran dachte, dass er letztes Jahr an Weihnachten mit seiner Familie gefeiert hatte, keinen Gedanken an Joe verschwendet hatte. Er hatte einfach nur das Essen genossen, sich gefreut, das seiner Schwester das Geschenk gefiel, das er ihr gekauft hatte und war schlafen gegangen. An diesem Weihnachten hatte er nun mit Joe geschlafen. Einfach so, ohne speziellen Grund, ohne Vorgeschichte. Tai dachte, dass er sich besser dafür schämen sollte, so eine Dummheit begangen zu haben. Vielleicht dachte Joe so. Beunruhigt wandte er sich von Joes Gesicht ab und sah aus dem Fenster. Der Vollmond erhellte das Zimmer nun vollen Endes, denn die Wolken waren vorbeigezogen. Es war eine sternenklare Nacht.
Tai wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen, als er einen Kuss an seiner Schläfe spürte. Tai zuckte zusammen und Joe lachte.
„Hast du vergessen, wo du bist?"
„Nein, natürlich nicht."
Tai lächelte matt und drehte sich zu Joe herum. Der lächelte ebenfalls, strich Tai eine Strähne aus dem Gesicht und gab ihm einen weiteren Kuss. Tais Gedanken, dass das alles nur ein dummer Unfall gewesen war, verschwanden sofort. Wenn Joe es bereut hätte, dann hätte er ihn doch kaum ein weiteres Mal geküsst.
Joe zog Tai fester in seine Arme.
„Warum schläfst du nicht? Ist es zu hell?"
„Das auch... und ich dachte, das..."
„Was hast du gedacht?", hakte Joe bestimmt nach. Er wollte wissen, über was Tai sich solche Gedanken – wohl auch Sorgen – machte. Vielleicht konnte er ihm ja helfen, sie loszuwerden.
„Na ja, das was passiert ist..."
„Bereust du es?"
„Ich? Ganz sicher nicht! Ich meine, also..."
Tai stotterte. Er wusste nicht, ob die schnelle Antwort so gut gewesen war. Wenn Joe nichts von ihm wollte, dann fühlte er sich jetzt vielleicht überrumpelt.
„Ist schon gut, Tai. Ich bereue es, ganz sicherlich, auch nicht. Es wäre wahrscheinlich überstürzt zu sagen, dass ich... dass ich dich liebe, auch wenn es so ist...?"
Tais Gesicht verfärbte sich tiefrosa und ihm fehlten die Worte, was äußerst selten geschah. Er hatte eine große Klappe, nur jetzt nicht. Er starrte Joe an, ungläubig, und doch konnte er seine Begeisterung nicht verstecken.
„Das wäre nicht überstürzt. Gar nicht!"
„Wie viel sich in einem Jahr ändern kann..."
„Sag es!"
„Ich liebe dich, Tai."
„Geht doch."
Tai grinste ihn an. Wenn es nicht mitten in der Nacht gewesen wäre, da war er sich sicher, hätte er einen Freundsschrei von sich gegeben. So hielt er sich aber zurück, so gut er konnte. Nur den Kuss, den er Joe schenken wollte, den konnte er nicht auslassen. Und auch beim nächsten und übernächsten Weihnachtsfest liebten sie sich noch und wieder.
