Des Weihnachtsengels Lied

Tai saß gähnend im Proberaum von Yamatos Band. Er konnte die Musik, die Matt machte, noch nie besonders leiden. Sie war ihm zu rockig und hart, auch wenn er das nie zugegeben hätte. Wenn Matt ihn nach seiner Lieblingsband fragte, schwieg er und lenkte, so gut er konnte, vom Thema ab. Es war ihm zu peinlich zuzugeben, was er wirklich mochte. Zu seinen Lieblingsmusikern gehörten unter anderem Mariah Carey und Michael Jackson, aber das hatte er niemandem erzählt und würde er in seinem ganzen Leben auch niemandem erzählen.

Matt und er waren alleine in dem Raum. Tai hatte es sich auf einer Bank in der hinteren Ecke gemütlich gemacht und Matt versuchte sich neue Griffe auf der Gitarre beizubringen. Tai verzog des öfteren das Gesicht, wenn dabei ein schiefer Ton herauskam, was gar nicht so selten war. Nach einigen Minuten, in denen Tai sich des öfteren sogar die Ohren zugehalten hatte, legte Matt die Gitarre beiseite und ging zu ihm. Er setzte sich neben ihn und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter.

„Hast du Durst? Ich kann schnell was holen. Der Getränkeautomat ist gleich um die Ecke."

„Nein, aber trotzdem danke."

Tai lächelte matt und stand auf. Yamato sah ihm verdutzt nach, sprang aber erst auf, als Tai schon beinahe aus der Tür war.

„Gehst du schon? Ich dachte, wir könnten zusammen nach Hause gehen, oder so?"

„Nein, ich glaube, das ist keine gute Idee."

Matt stand einen Moment starr und verwirrt im Raum, ging Tai dann aber doch nach, packte ihn am Arm und drückte ihn gegen die nächstbeste Wand.

Tai sah ihn nicht an, sondern durch ihn hindurch. Er ignorierte ihn, seufzte erschöpft und fragte in ruhigem Ton: „Was ist denn, Yamato-kun? Du tust mit weh."

„Was ist eigentlich in letzter Zeit mit dir los?"

„Gar nichts. Du bist nur kein guter Musikant."

Yamato biss sich auf die Unterlippe und zählte bis zehn, um seinem Freund keine runterhauen zu müssen.

„Mag sein, aber darum geht's doch gar nicht. Du bist abweisend und ständig schlecht gelaunt. Heute ist Weihnachten! Und du... du siehst aus wie eine wandelnde Leiche."

„Lass mich doch, wenn es mir Spaß macht."

Tai versuchte sich aus Yamatos Griff zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Dank einem Sportunfall vor einer Woche konnte er seine Hände nicht gut bewegen, waren sie doch alle beide angestaucht.

Tai grummelte und wandte den Kopf ab. Er hatte keine Lust sich noch mit Matt zu unterhalten. Er wusste auch gar nicht, was diesen so störte. Er war wie immer gewesen. Menschen änderten sich mit der Zeit ja auch ein wenig.

Matt hielt ihn weiterhin eisern fest und stierte ihn an. Da er befürchtete, Tai würde ihm entwischen, wenn er eine seiner Hände losließ, konnte er ihn nicht dazu bringen, ihn wieder anzusehen, außer seine Taktik, ihm gut zuzureden, würde funktionieren.

„Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!"

„Du bist wie meine Mutter."

„Sieh mich an, Tai. Komm schon. Oder glaubst du, ich fresse dich mit den Augen auf?"

Widerwillig sah Tai Yamato an. Sein sturer Blick wirkte mit dem neuen Haarschnitt, den er seit wenigen Tagen hatte, im Gegensatz zu früher nicht mehr sonderlich gefährlich, sondern sehr niedlich. Die gewellten Haare, die bis zur Schulter reichten, kitzelten Matt, doch er konnte sich zurückhalten und das Niesen unterdrücken.

„Weihnachten ist einfach nicht so meine Zeit. Nicht dieses Jahr. Okay? Reicht dir das als Erklärung? Ich will nicht darüber reden."

„Ich dachte, wir wären Freunde. Aber gut, wenn du es mir nicht erzählen willst..."

Tai starrte auf seine Füße und entspannte sich soweit, das Yamato keine Sorgen mehr hatte, er würde vor ihm fliehen. Er ließ Tais Arme los und verschränkte seine eigenen vor der Brust.

„Du bist doch sonst nicht so... depressiv."

„Ich bin auch jetzt nicht depressiv, sondern ganz einfach nur schlecht drauf. So einfach ist das!"

Matt rollte mit den Augen und lehnte sich an die gegenüberliegende Wand. Er überlegte, was jetzt am besten zu sagen wäre, ohne dass Tai ihm gleich wieder die Worte im Munde umdrehte. Ihm fiel nichts ein.

„Kann ich dir trotzdem fröhliche Weihnachten wünschen, Tai, der ganz sicher nicht depressiv ist?"

Tai ging einen Schritt auf Matt zu.

„Ja, darfst du."

„Jetzt bist du mir in die Falle gegangen..."

„Was?"

Tai sah verwundert auf. Matt deutete nach oben an die Decke. Tai erblickte einen Mistelzweig direkt über sich. Matt ging auf ihn zu und schlang die Arme um seine Taille. Tai war zu verdutzt, als dass er sich rechtzeitig dagegen hätte wehren können und musste den Kuss, den ihm Matt aufdrückte, annehmen.

„Gefällt dir die Art „Lied" besser, Tai-chan?"

„Lass das!"

Die Ohrfeige, die Tai Matt verpasste, war hart gewesen und Matt hatte sich nicht schnell genug wieder fangen können. Tai rannte – bis er endlich Zuhause war.

„Vollidiot, blöder Vollidiot!", grummelte er immer wieder. Kari verstand nicht, was ihr Bruder hatte, interessierte sich aber auch nicht weiter dafür. Sie war damit beschäftigt, den Weihnachtsbaum anzuhimmeln, den sie selber geschmückt hatte.