Colin Sullivan war stinksauer. Sie waren fünfzehn Minuten nach dem Überfall am Tatort gewesen, hatten abgesperrt und sich sofort an die Arbeit gemacht. Zeit war hierbei ein entscheidender Faktor. Diese Bankräuber hatten jetzt insgesamt sechs Banken ausgeraubt, alle in verschiedenen Bundesstaaten und in unterschiedlichen Zeitabständen. Das Problem mit den jeweils anderen Staaten war, dass das FBI für den Fall zuständig war, da es als einzige Strafverfolgungsbehörde staatenübergreifend operieren durfte. Dies führte natürlich immer zu Kompetenzgerangel und behinderte so die Ermittlungen ganz erheblich. So auch in diesem Fall.

Fast das ganze Team war ausgerückt um den Tatort in der kürzestmöglichen Zeit zu untersuchen. Jetzt hatte Colin sich hier vor einem aufgeblasenen Special Agent aufgebaut, sein furchteinflößendstes Gesicht - was wirklich beeindruckend war - aufgesetzt und drohte dem Agenten mit vor Wut funkelnden Augen, auf keinen Fall die Absperrung zu passieren.

„Erst die Rettungskräfte, dann wir, dann die Polizei", schnauzte er Special Agent Johnson gerade an.

„Ich glaube, Sie wissen nicht, wen Sie hier vor sich haben... ich bin kein einfacher Dorfbulle, ich bin Special Agent des FBI." Johnson betonte jedes einzelne Wort.

Normalerweise war eine FBI-Marke ziemlich respekteinflößend, Colin jedoch hatte einen Teil seines Lebens auf der Straße verbracht und daher war es ausgesprochen schwierig, ihn zu beeindrucken. Er war der Auffassung, dass man sich Respekt verdienen musste und nicht zusammen mit einer FBI-Marke verliehen bekommen konnte. Die einzigen Menschen, die Colin respektierte, waren die, mit denen er tagtäglich zusammenarbeitete und den größten Respekt hatte er vor seiner Vorgesetzten Amy Moreno, die sich Johnson gerade von hinten näherte.

„Wissen Sie was, Special Agent Johnson", seine Stimme troff vor Sarkasmus, als er über Johnsons Schulter hinweg Amy auf sie beide zusteuern sah. Ihre Stärke war zweifellos die Diplomatie - sie würde das FBI schon im Zaum halten können. „Wenn Sie mich meinen Kollegen helfen lassen, dürfen Sie früher an den Tatort, also seien Sie ein braver Agent und bleiben sie hinter der Absperrung." Colin Sullivan drehte sich herum und ließ Johnson einfach stehen. Dieser wollte sich gerade unter der Absperrung hindurch ducken und diesem unverschämten CSI Manieren beibringen, als er eine Hand leicht auf seiner Schulter spürte. Überrascht drehte er sich herum und sah sich einer etwa fünfzigjährige Afroamerikanerin gegenüber, die ihn sanft ansah.

„Special Agent Johnson? Ich bin Amy Moreno, die Leiterin dieser CSI-Schicht." Ohne zu zögern ergriff sie seine Hand und schüttelte sie. „Kann ich Ihnen helfen?"

Johnson war sprachlos, als Amy ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. Der Ausdruck in ihren dunklen Augen war durch ihre Lebenserfahrung geprägt und ließ sich am besten mit dem Begriff ‚Weisheit' beschreiben. Auf einmal fühlte er sich ganz klein und ziemlich albern.

„Na ja", stotterte er verlegen. „Ihre Leute wollen mich nicht an den Tatort lassen..."

„Sehen Sie, Special Agent Johnson, meine Leute lassen niemals Zivilisten an den Tatort..."

Als sie sah, dass Johnson sie unterbrechen wollte, hob sie die Hand und bedeutete ihm so, sie ausreden zu lassen. „Und Zivilisten sind nun einmal alle, die nicht zum CSI gehören, verstehen Sie?" Amy lächelte ihn gewinnend an. „Bitte bestätigen Sie mein Vertrauen in das FBI, indem Sie mir sagen, dass Sie Verständnis dafür haben."

„Also schön", gab sich Johnson nach einem kurzen Zögern geschlagen. „Die Tatort-Arbeit obliegt Ihrer Behörde, die Ermittlungsarbeit liegt bei uns, in Ordnung?"

„Das ist ein guter Kompromiss, Special Agent." Bei diesen Worten drückte Amy sanft Johnsons Arm und passierte die Absperrung auf der Suche nach Jonah Umney, der sie angerufen hatte, als er bemerkt hatte, dass der Streit zwischen dem FBI-Menschen und Colin zu eskalieren drohte.

Amy fand ihren Stellvertreter in einer Ecke des Schalterraums, zusammen mit dem Pathologen Tyler Paretsky, der sich über eine Leiche beugte.

„Was haben wir?", wandte sie sich an Jonah. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und sie auch nicht kommen gehört, so dass er jetzt erschrocken herumfuhr.

„Mord!", lautete seine leise Antwort. Er deutete traurig auf die Leiche. „Die Mutter versuchte lediglich, ihr Kind zu schützen. Die herabstürzende Kamera hat sie genau im Nacken getroffen und ihr das Genick gebrochen."


Zur gleichen Zeit entbrannte im Unterschlupf der vier Bankräuber eine hitzige Diskussion. Die Vierlinge, die sich ohne ihre Verkleidung nicht im Mindesten ähnlich sahen, standen selbst noch unter Schock, als sie vor einigen Minuten die ersten Meldungen über ihren jüngsten Raub in den Nachrichten verfolgt hatten.

„Die Frau ist tot, Mann", schnauzte der Anführer Joseph gerade seinen jüngsten Partner Denis an.

„Das war doch keine Absicht." Denis schaute sich hilfesuchend nach Tom und Peter um, doch die mieden betreten seinen Blick. „Sie wurde von der Kamera erschlagen... das war ein Unfall", stotterte er.

Joseph trat einen Schritt auf Denis zu. Seine Stimme war gefährlich leise. „Du bist dir wohl über die Gesetze nicht im Klaren... wenn ein Mensch bei der Ausübung einer Straftat stirbt, ist das MORD!"

Denis' Augen weiteten sich entsetzt. „Aber... aber..."

„Ja genau... ‚aber'", unterbrach Joseph ihn barsch. „Das bedeutet Todesstrafe, wenn sie uns erwischen, denn deinetwegen sind wir jetzt alle Mörder! Und du lässt auch noch deine Waffe am Tatort zurück... wie kann man nur so blöd sein."

Denis versuchte seinen Boss zu beruhigen. „Ich habe die Waffe immer nur mit Handschuhen angefasst, wie du es immer gesagt hast. Die Waffen selbst sind nicht registriert, dafür hast du gesorgt... also führt trotzdem keine Spur zu uns." Josephs Blick war so vernichtend, dass Denis' Selbstvertrauen wie Eis in der Sonne schmolz. Er war sich seiner Sache gar nicht so sicher, wie er es vorgab zu sein.


In der Schalterhalle beendete Matthew gerade seine Befragung der letzten Zeugen. Die Bankräuber hatten es mit ihrer eigentümlichen Maskerade geschafft, furchteinflößender zu wirken, als sie es mit normalen Skimasken jemals gekonnt hätten. Die Menschen waren immer noch völlig verstört und das lag nicht ausschließlich daran, dass sie nicht jeden Tag einen Menschen sterben sahen.

Er sah sich um und musste sich eingestehen, dass die Täter überaus effizient vorgegangen waren. Wenn man den Zeitungsberichten Glauben schenkte, war es bisher noch nicht einmal möglich gewesen, festzustellen, ob die Aufgabenverteilung bei den Überfällen immer die selbe war. Der Tod von Cassidy Hilley war zwar nicht beabsichtigt gewesen, doch war dieser Umstand keineswegs tröstlich. Es machte ihn nur noch wütender, denn ihr Tod war dadurch umso sinnloser.

Matthew beobachtete Jonah, der sich rührend um Cassidys achtjährige Tochter kümmerte und fragte sich unweigerlich, wie er sich fühlen musste. Jonahs jüngste Tochter hieß ebenfalls Lucy und war nur ein paar Jahre älter.

Pinia McCarthy, eine mitunter etwas kratzbürstige Ermittlerin, die vor etwa zwei Jahren von San Francisco zusammen mit ihrem Kollegen Trenton March nach Chicago gewechselt war, hatte ihre Arbeit, die leeren Patronenhülsen und die Geschosse einzusammeln und einzutüten gerade beendet und kam nun zu Matthew herüber. Die Waffe, die die Täter vor Schreck zurückgelassen hatten, war gleich als erstes sichergestellt worden. Pinia hatte ihre blonden Haare, wie an jedem Tatort, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, um nicht unabsichtlich den Tatort zu kontaminieren. Sie wirkte ungewohnt schockiert über das Vorgefallene.

„Hi Matthew", begrüßte sie ihn. „Bitte sag mir, dass die Zeugenbefragungen etwas ergeben haben..."

Matthew schüttelte traurig den Kopf. „Nein... jeder sagt dasselbe. Dass die Männer einfach alle gleich ausgesehen haben – sie waren sich nicht einmal sicher, ob sie unterschiedlich groß waren. Ich muss schon sagen, das war eine clevere Verkleidung..."

Pinia schaute ihn wütend an. „Das klingt ja fast so, als würdest du diese...", sie suchte nach einem passenden Ausdruck für ihre Wut, „diese Verbrecher bewundern!" Ihre Augen blitzten ihn gefährlich an.

„Nein", entgegnete Matthew ruhig. „Aber wir werden sie nicht erwischen, wenn wir uns nicht bemühen, sie zu verstehen... apropos ‚verstehen' eine Profilerin wurde auf diesen Fall angesetzt – sie ist bereits auf dem Weg hierher."

„Eine Profilerin? Wozu soll das denn gut sein?", schnaubte Pinia verächtlich.

„Sie hilft uns dabei, die Bankräuber zu verstehen..."

„Wenn sie die Bankräuber so gut verstehen würde, dann hätte sie uns vielleicht auch sagen können, dass diese Bank hier die nächste ist... und Cassidy Hilley wäre noch am Leben." Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und rauschte davon.

Colin, der den Streit mitbekommen hatte, gab Matthew grinsend ein Zeichen, dass er sich wohl gerade die Finger verbrannt hätte. Matthew zuckte nur hilflos mit den Achseln und machte sich auf den Weg zu diesem FBI-Menschen, mit dem er in diesem Fall wohl oder übel zusammenarbeiten musste.
‚Hoffentlich ist das keiner dieser eingebildeten Affen", dachte Matthew bei sich. Nachdem er sich etwa fünf Minuten mit Special Agent Johnson unterhalten hatte, bemerkte er mit einem stillen Grinsen, dass Amy Moreno den ‚Affen' bereits dressiert hatte.

Jonah hatte Lucy, die sich die ganze Zeit weinend an ihre tote Mutter geklammert hatte, zu einem Krankenwagen begleitet und sie dort einer Psychologin vom Jugendamt übergeben. Wer ihn kannte, konnte erkennen, wie sehr ihn der ganze Vorgang belastete – mehr als gewöhnlich.

In der Zwischenzeit hatte Tyler Cassidys sterbliche Überreste in einen Leichenwagen bringen lassen und fuhr mit ihr zusammen in die Leichenhalle, um sie sich dort genauer anzusehen. Normalerweise liebte Tyler seine Arbeit, oder vielmehr, die Herausforderung, die sie ihm bot; in diesem Fall allerdings waren seine Gefühle eher gemischt...

Colin ließ sich gerade die Überwachungsbänder aus der Bank aushändigen, in der verzweifelten Hoffnung, dass die Kameras vielleicht doch etwas brauchbares aufgezeichnet hatten, bevor sie vernichtet worden waren. Die Bänder und die Waffe waren die ersten Fehler und gleichzeitig die einzigen Spuren, die die Bankräuber und jetzt auch Mörder hinterlassen hatten und die es dem CSI ermöglichen könnten, sie zu fassen. Amy half Pinia dabei, ihre Ausrüstung zusammenzupacken. Hier konnten sie nichts mehr tun, den Rest mussten die Ballistik und die Videoauswertung bewerkstelligen... und eventuell diese Profilerin.