Titia Chambers war froh, endlich den kalten Wind hinter sich lassen zu können und auf der breiten Treppe, die in das große Gebäude der Chicagoer Polizei führte, endlich ins Warme zu gelangen. Beeindruckt von der geräumigen Eingangshalle mit dem Marmorfußboden und den hohen Säulen vergaß sie für einen Moment, weiterzugehen und stieß prompt mit jemanden zusammen.

„Tschuldigung", murmelte sie, bevor sie sich an die Wegbeschreibung zum Labor erinnerte und einen der vielen Gänge entlang lief. Nur wenige Minuten später hatte sie sich durch das verwirrende Labyrinth von sich verzweigenden Fluren, Fahrstühlen und Treppenaufgängen gekämpft und stand schließlich vor der ohnehin immer offenen Bürotür von Amy Moreno. Das Büro lag noch im alten Teil des Gebäudes, während nur wenige Meter entfernt der Neubau begann, der die Labors, den Fitnessraum und im Keller die Asservatenkammer beherbergte. Titia klopfte an den Türrahmen und trat ein.

„Hallo, ich bin Titia Chambers, die Profilerin." Die CSI-Leiterin, die bis eben noch konzentriert eine Akte gelesen hatte, stand nun auf und schüttelte Titia die Hand.

„Freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin Amy Moreno." Amy lächelte sie an und Titia konnte gar nicht anders als zurückzulächeln. „Wollen Sie einen Kaffee ... oder vielleicht warmen Kakao? Sie sehen leicht durchgefroren aus."

„Kaffee würde mir reichen ... haben Sie schon etwas heraus gefunden?", fragte Titia, während sie Amy über den Flur folgte und einen größeren Raum betrat. Den bunt zusammen gewürfelten Sitzmöbeln und der Esszeile zufolge war das der Pausenraum. Hohe Fenster gaben den Blick auf den Michigan River und einige seiner zahlreichen Brücken frei, deren Metall noch in den letzten Sonnenstrahlen aufblitzte.

„Mein Team sitzt gerade an der Auswertung der Videobänder aus der Bank und wir untersuchen die Waffe", während sie sprach reichte sie Titia einen Becher Kaffee.

„Eine Waffe?", fragte sie verwundert.

„Ja, sie haben sie am Tatort zurück gelassen", gab Amy zurück.

„Eine Panikreaktion ... " Titia trank einen Schluck und ging in Gedanken noch einmal die Informationen durch, die sie bis jetzt hatte. „Okay, ich hätte folgenden Vorschlag damit wir uns nicht gegenseitig auf die Füße treten. Ich konzentriere mich darauf, dass die Täter aus ihrem Versteck gekrochen kommen und Sie finden Beweise, mit denen wir sie hinter Gittern bringen können." Amy nickte zustimmend. Obwohl sie Titia kaum kannte, hatte sie das Gefühl, dass sie sich gut verstehen würden. „Ich bräuchte dann noch Informationen über die Tote. Ich denke, da kann mir Ihr Detective helfen, ich will Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten."

„Den Gang hinunter und dann die zweite Tür links, Detective Abbott", erklärte Amy ihr den Weg.

„Danke." Titia stellte ihren nun leeren Becher in die Spüle und verschwand aus dem Zimmer. Amy sah ihr für einen kurzen Moment hinterher und beschloss dann, ins Labor zu gehen.

Jedes Mal, wenn man durch die Glastür ging, die den Altbau von dem Neubau trennte, dann war es, als ob man eine ganz andere Welt betrat. Im Labor gab es keine sandfarben verputzten Wände und das Tageslicht wurde meistens durch bläuliches Kunstlicht ersetzt. Amy fiel dieser Gegensatz schon gar nicht mehr auf, so oft war sie schon durch diese Tür gegangen. Ihr heutiger Weg führte sie direkt in die Ballistik, wo Jonah gerade vor einem der Computer saß. Sie blieb einen Moment im Türrahmen stehen und beobachtete ihn. Sie wusste, wie nah ihm dieser Fall ging, und doch arbeitete er so konzentriert wie immer.

„Jonah? Etwas gefunden?", fragte sie und stellte sich neben ihn. Tatsächlich konnte er sich ein kleines Lächeln abringen und seine blauen Augen hatten ein bisschen von ihrer gewöhnlichen Leuchtkraft wieder, das bedeutete gute Neuigkeiten.

„Ja", er deutete auf eine Patrone, die in einem Beweismittelbeutel neben dem Computer lag. „Die Bankräuber waren zwar so clever, keine Abdrücke auf der Waffe zu hinterlassen, aber nicht clever genug, um auch die Patronen mit Handschuhen anzufassen. Ich habe einen Teilabdruck auf einer der nicht abgefeuerten Patronen gefunden und in AFIS eingescannt ... jetzt heißt es warten."

„Gute Arbeit." Sie konnte es nicht erklären, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass AFIS sie weiterbringen würde.

Titia saß Matthew in seinem Büro gegenüber, das, gelinde gesagt, unordentlich war. Die Akten stapelten sich in den Regalen und auf seinem Schreibtisch, so dass dieser garantiert nicht mehr zum Schreiben benutzt werden konnte, allerdings war noch genügend Platz für eine Tasse dampfenden Kaffees von Starbucks. Titia grinste still vor sich hin, die Ordnung in diesem Büro kam ihr sehr bekannt vor. Trotz allem machte Matthew den Eindruck, als ob er sich hier glänzend zurecht finden würde.

„Also", kehrte sie mit ihren Gedanken wieder an Ort und Stelle zurück, „es ist sehr wahrscheinlich, dass die Bankräuber jetzt nervös und in Panik sind, was sie anfälliger für Fehler macht und die Gruppe zerbröseln lässt. So makaber es auch klingen mag, Cassidy Hilleys Tod hat es wesentlich wahrscheinlicher gemacht, dass wir sie schnappen. Für wann ist die Pressekonferenz angesetzt?"

„Um zwanzig Uhr, also noch eine gute Viertelstunde." Er wollte noch etwas hinzusetzen, doch der eintretende Special Agent Johnson unterbracht ihn.

„Also, wie war das mit der Pressekon... Titia Chambers?" Erst jetzt hatte er die kleine Frau mit dem milchkaffeefarbenen Teint bemerkt. Titia hatte seine Stimme sofort erkannt, sie war mit Johnson gemeinsam auf die Akademie gegangen und hatte ihn in wenig guter Erinnerung.

„Hallo, Alistair." Sie lächelte leicht gequält und fragte sich, warum sie in drei Teufels Namen bei den vielen FBI-Agents, die es gab, ausgerechnet auf ihn treffen musste.

„So, so ... die verrückte Titia Chambers. Ich hab das von Miami gehört ... wundert mich, dass du schon wieder arbeitest." Das saß. Matthew schaute sie verwirrt an, während sie versuchte den Drang zu kontrollieren, Alistair einen schönen Kinnhaken zu verpassen. Stattdessen erwiderte sie mit freundlicher Stimme:

„Mir geht's gut, Alistair, danke der Nachfrage." Sie stand mit einem Ruck auf und starrte ihn an. „Kommst du nun mit zur Pressekonferenz?" Alistairs Wangen nahmen einen leichten Rotton an und Titia gönnte sich ein kleines triumphierendes Lächeln, als sie mit ihm im Schlepptau den Raum verließ.

Der Wind war am Abend noch mehr aufgefrischt und steigerte sich zu einem Orkan und so wurde das Geräusch des laufenden Fernsehers immer wieder vom Tosen des Sturmes übertönt, während die Bankräuber zusammengepfercht in ihrem Unterschlupf saßen und nervös darauf warteten, was die Polizei zu verkünden hatte. Denis lachte unterdrückt, als eine relativ kleine Frau mit Stupsnase und einer ziemlich verrückten Frisur ans Mikrophon trat. Er konnte sich partout nicht vorstellen, dass so eine Frau eine Gefahr für ihn und die Anderen darstellen sollte.

„Wie Sie alle wissen", ergriff Titia nun das Wort, „ereignete sich heute gegen siebzehn Uhr ein Überfall auf die Western Union Bank bei dem eine Frau getötet wurde, weil sie ihre Tochter beschützen wollte." Sie ließ die Aussage für einen Moment im Raum stehen und Denis schluckte schwer. „Die Ermittler sind zuversichtlich, dass sie durch die am Tatort zurück gelassenen Beweise bald die Täter ermitteln können." Wieder machte sie eine Pause und Denis' Augen huschten unruhig hin und her um eine Reaktion seiner Partner zu registrieren. „Wenn sie erst einmal festgenommen wurden, werden sie wegen Mordes angeklagt – der Gerechtigkeit wird also Genüge getan." Denis' Herzschlag beschleunigte sich und seine Hände waren plötzlich schweißnass. Er wollte nicht wegen Mordes angeklagt werden, das konnte einfach nicht sein. Es war ja kein Mord gewesen, es war ein Unfall ... nur ein Unfall. Das plötzliche Erlöschen des Bildschirms riss ihn aus seinen Gedanken, Joseph hatte ihn ausgeschaltet.

„Es reicht", brummte er. „Sie redet Blödsinn ... sie haben nichts gegen uns in der Hand – überhaupt nichts." Wie, um seine Worte zu bekräftigen, erstarkte der Sturm, der die Stadt in seinem Griff hielt. Doch Denis glaubte ihm nicht so recht. Er fühlte sich unsicher, nicht ahnend, dass dies genau das war, was Titia mit ihrer Rede bezweckt hatte.

Als die Kameras erloschen waren, war Titia mit sich zufrieden. Sie war sich sicher, dass die Bankräuber die Berichterstattung über ihre Tat genauestens verfolgten und auch diese Pressekonferenz hatten sie sich sicherlich nicht entgehen lassen.

Absolut jeder hat seinen Stein, wiederholte sie in Gedanken den einen Satz, den sie so oft auf der Akademie gehört hatte. Jetzt musste sie nur noch abwarten, bis der Stein im Glashaus einschlug.