Am nächsten Morgen hatte sich der Wind wieder gelegt und es versprach, ein warmer und sonniger Herbsttag zu werden.
„Kein Wind – ist das in Chicago überhaupt erlaubt?", hallte Titias Stimme in einem der Laborräume wider, der zu Besprechungen genutzt wurde. Außer Amy und einer jungen blonden Frau in einem anthrazitfarbenem Hosenanzug war niemand weiter anwesend.
„Der Begriff ‚Windy City' hat entgegen der Vermutung vieler nichts mit den, zugegebenermaßen, relativ konstanten Winden hier zu tun, sondern vielmehr mit dem aufbrausenden Temperament einiger Lokalpolitiker", erwiderte die Blonde und musterte sie mit ihren hellgrauen Augen skeptisch. Titia blinzelte für einen Moment unsicher, bevor Amy eingriff.
„Miss Chambers, das ist Pinia McCarthy." Die beiden Frauen reichten sich die Hände und bevor sie ein weiteres Wort wechseln konnten, wurde eine der gläsernen Türen aufgestoßen und ein dunkelblonder Mann kam mit einem Lächeln auf sie zu.
„Jonah, was gibt's?", fragte Amy.
„AFIS hat einen Namen ausgespuckt – Denis Foster. Konnte nicht auf seine Volljährigkeit warten und hat vor sechs Jahren Spirituosen gestohlen. Wurde allerdings erwischt und kam für zwei Monate ins Gefängnis."
„Letzter bekannter Wohnort?", fragte Pinia und Jonah blätterte in dem Ausdruck, den er in der Hand hielt.
„Philadelphia – aber die Adresse ist drei Jahre alt." Er schaute enttäuscht in die Runde. „Das war wohl nichts."
„Familienmitglieder?", erkundigte sich Titia. Jonah fragte nicht wer sie war, also musste Amy ihn informiert haben.
„Seine Mutter lebt in einem Vorort von Philadelphia. Aber wie soll uns das hier weiterbringen?"
„Seine Mutter wird wohl am ehesten wissen, wie er sich in Stresssituationen verhält ... das könnte nützlich für unser weiteres Vorgehen sein. Kann ich bitte die Adresse haben?" Sie streckte ihre Hand aus und er reichte ihr den Ausdruck. „Bis später dann."
Denis Foster kaute nervös an seinen Fingernägeln. Eigentlich hatte er sich das schon vor Jahren abgewöhnt, aber seit letzter Nacht war es so, als hätte er nie damit aufgehört. Der Fernseher lief, aber er beachtete ihn nicht weiter. Er war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, die immer wieder um die gleiche Frage kreisten. Was, wenn er irgendwas übersehen hatte, wenn er doch irgendwie einen Fingerabdruck auf seiner Waffe hinterlassen hatte? Diese Frage warf eine Reihe weiterer Fragen auf. Was, wenn sie schon längst wussten, wer er war? Was, wenn sie gerade in diesem Moment vor der Tür standen um ihn festzunehmen? Eine Berührung seiner Schulter ließ ihn zusammenzucken
„Da verliert wohl jemand die Nerven?", machte sich Tom, breitschultrig und mit raspelkurzen schwarzen Haaren, über ihn lustig und deutete auf Denis' unberührtes Essen. „Magste kein Hühnchen oder haste vor lauter Schiss kein Appetit?" Er zeigte wieder eines seiner arroganten Lächeln. Denis wusste, dass es klüger war, seinen vorlauten Kommentar, den er auf den Lippen hatte, herunterzuschlucken. Auch, wenn er daran fast erstickte.
„Kannste haben", sagte er stattdessen und schob den Teller in Toms Richtung.
„Seid mal still, Leute. Die Nachrichten kommen", meldete sich Peter und augenblicklich kehrte Ruhe in den Raum ein – nur noch die klare Stimme des Nachrichtensprechers war zu hören. Er verlas eine Pressemitteilung der Polizei in der es hieß, dass sie Polizeikontrollen an den Ausfallstraßen, an den Bahnhöfen und den Flughäfen eingerichtet hatten und dass sie einen der Täter bereits identifiziert hatten.
„Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis die Täter geschnappt werden", schloss der Sprecher den Bericht und schaute zuversichtlich in die Kamera. Peter schaltete den Fernseher aus. Denis starrte entsetzt den nun schwarzen Bildschirm an. Ein lautes Scheppern riss ihn aus seiner Lethargie. Tom war aufgestanden und hatte seinen Teller gegen die Wand geschleudert. Gebratenes Huhn schmierte nun langsam die Wand hinunter und hinterließ eine Spur gelber Chilisoße.
„Verdammt!", brüllte Tom und seine dunklen Augen funkelten Denis aufgebracht an. „Was haste für Bockmist gebaut?" Bedrohlich baute er sich vor ihm auf.
„Tom." Peters Stimme hatte eine scharfen Ton angenommen. Toms Blick pendelte zwischen Denis und Peter und schließlich setzte er sich unverrichteter Dinge wieder hin.
„Ist doch wahr ... ", grummelte er.
Sie schwiegen eine ganze Weile und Denis begann wieder an seinen Fingernägeln zu kauen, doch schließlich richtete er sich so unvermittelt auf, dass dieses Mal Tom zusammen zuckte.
„Was?", blaffte er Denis an.
„Wo ist eigentlich Joseph?", fragte dieser.
„Einkaufen. Wieso?"
„Weil er schon seit mehr als vier Stunden weg ist."
„Und?" Tom war auch heute wieder nicht der Schnellste.
„Er ist abgehauen – ohne uns." Zwei Köpfe wirbelten in die Richtung von Peters Stimme.
„Nicht möglich." Toms Mund blieb auch nach dem Sprechen leicht geöffnet. „Er würde nicht ... "
„Anscheinend hat er es getan", sagte Peter ungerührt. Er schien es erwartet zu haben. „Er hat sich mit dem Geld abgesetzt und ist wahrscheinlich längst über alle Berge."
„Und das sagst du so seelenruhig? Das war über 'ne viertel Million!" Toms Faust landete auf dem Tisch.
„Es ist mir gerade eben klar geworden. Ich schaue doch nicht andauernd auf die Uhr."
„Scheiße, scheiße, scheiße." Denis war aufgestanden und lief herum. Er klang panisch. „Was machen wir denn jetzt? Wir sind voll am Arsch ... verdammt ... wir sind in dieser eisigen Stadt und haben kein Geld."
„Nun mal mit der Ruhe." Denis starrte Peter entsetzt an.
„Wie bitte? Eine Frau ist durch unsere Schuld tot. Mein eigener Bruder lässt uns hier ohne Geld sitzen und ich soll mich beruhigen?" Er fing an zu schreien. „Verstehst du das überhaupt? WIR SIND GELIEFERT! WIR MÜSSEN ZU DEN BULLEN UND UNS STELLEN."
Peters Blick war kalt und berechnend als er eine Waffe hervorholte und auf Denis richtete. „Ich verstehe sehr wohl und wenn du noch lauter schreist versteht es auch gleich die gesamte Nachbarschaft." Die Waffe in seiner Hand zielte genau auf Denis' Herz. „Also, sei still und setz dich hin", er betonte jedes einzelne Wort.
„Pe – Peter ... Kumpel, das kann doch nicht dein Ernst sein." Tom hatte sich gegen die Wand gedrückt und merkte nun, wie die Soße sein Hemd durchnässte.
„Du auch, Tom. Sei still." Tom schloss seinen Mund und schaute zu Boden.
„Das ist ein Scherz, nicht?" Aus unerfindlichen Gründen fing Denis an zu kichern. „Du, du richtest eine Waffe auf mich? AUF MICH? EINE WAFFE?" Sein Lachen wurde lauter und hysterischer.
„Ich warne dich. Das hier ist alles beschissen gelaufen, aber ich will nicht wegen einem vom euch im Gefängnis landen." Denis lachte immer noch und machte gleichzeitig einen Schritt auf Tom zu. Schließlich blieb er stehen und hörte auf zu lachen. Nun war er wütend. Richtig wütend.
„WAS FÄLLT DIR EIN? WIR SITZEN HIER ALLE IM SELBEN BOOT! WIR WERDEN HIER NICHT RAUSKOMMEN!" Ein einzelner Schuss beendete die Tirade von Denis und nachdem das Geräusch, das ein fallender Körper beim Aufschlag auf eine harte Unterlage erzeugt, verhallt war, herrschte nur noch Stille. Blut sickerte durch Denis' graues Shirt hindurch auf die schmutzigen Holzdielen. Tom rutschte langsam an der Wand entlang hinunter, sein Gesicht aschfahl.
„Er ist tot ... tot." Sein Gesicht war eine Maske aus purem Entsetzen.
„Er hat es nicht anders verdient." Peter steckte die Waffe in einen Rucksack und sammelte noch einige andere Dinge ein, bevor er zur Tür ging. „Du solltest auch hier verschwinden, Tom. Irgendwer wird den Schuss gehört und die Polizei alarmiert haben." Tom hörte kein einziges seiner Worte und begriff auch nicht, dass er alleine auf dem Boden neben einer Leiche saß.
„Er ist tot", flüsterte er immer wieder in die Stille hinein.
„Danke für Ihre Hilfe", beendete Titia gerade das Telefonat mit Denis' Mutter. Sie machte sich noch ein paar letzte Notizen auf ihrem ohnehin schon vollen Blatt und versuchte, einen Plan für ihr weiteres Vorgehen zu entwerfen, während hinter ihr Matthews Faxgerät ein aktuelleres Bild von Denis ausdruckte, dass seine Mutter geschickt hatte. Sie kam nicht umhin das Gefühl des Triumphes zu genießen, als dem ersten Bild noch ein weiteres folgte. Das von Denis' älterem Bruder Joseph. Es schien so, als ob die Brüder gemeinsame Sache machten. Jedenfalls hatte die Mutter erzählt, dass Denis damals zusammen mit seinem Bruder verschwunden war und außer einer Weihnachtskarte einmal im Jahr kein Kontakt mehr bestand.
„Ich glaube, ich habe gute Neuigkeiten", sagte sie zu Matthew, der gerade sein Büro betrat.
„Warten Sie bis Sie meine Neuigkeit hören, dann entscheiden wir er gewonnen hat", sagte er grinsend.
„Ich höre."
„Es wurden Schüsse aus einer Wohnung an der South Michigan Avenue gemeldet und als zwei Kollegen dort eintrafen haben sie eine Leiche gefunden, von der sie glauben, dass es Denis sein könnte. Allerdings kennen sie nur das sechs Jahre alte Bild, das wir zur Fahndung benutzen."
„Da kann ich helfen." Sie griff nach hinten und gab ihm das aktuellere Photo von Denis.
„Viel verändert hat er sich nicht." Er sah zu ihr auf. „Wollen Sie mich begleiten?" Sie nickte. Umso unverfälschter der Tatort bei ihrer Erkundung war, umso besser konnte sie schlussfolgern, welcher Umstand Denis – falls es Denis war – eine tödliche Kugel eingebracht hatte. „Okay, Amy weiß Bescheid. Wir treffen sie und Jonah dort."
Die Fahrt zur South Michigan Avenue war kurz und als Titia ausstieg, dachte sie, dass dieser Ort etwas sehr Trostloses an sich hatte. Farblose, mehrstöckige Häuser, bildeten auf beiden Seiten der Straße eine Reihe, die kein Ende zu nehmen schien und immer wieder von kleinen dunklen Gassen durchbrochen wurde. Nicht einmal verfärbtes Laub in den Straßenrinnen hellte die Szenerie auf – es gab hier keine Bäume.
Amy und Jonah warteten schon im zweiten Stock auf sie.
„Sieht aus wie ein Schuss direkt durch's Herz, aber dass muss Tyler erst noch bestätigen. Ich habe die Kugel aus der Wand geholt und fahre gleich zurück ins Labor", informierte Jonah die beiden, als sie in die Wohnung gingen. Es gab keinen Flur, die Außentür führte direkt in das, was wohl mal als Wohnzimmer vorgesehen war und nun einen Tatort darstellte. Matthew kniete sich neben den jungen Mann mit den aschblonden Haaren, dessen Augen leblos an die gegenüberliegende Wand starrten.
„Eindeutig. Denis Foster."
