Es war kurz vor elf Uhr nachts, als Det. Matthew Abbott auf der durchsichtigen Seite eines Einwegspiegels stand und sein Glück kaum fassen konnte. Auf der anderen Seite des Spiegels saß Tom Maynard auf einem Stuhl und starrte auf die grob verputzte, sandfarbene Wand.

„Wow."

„Sie wiederholen sich", erwiderte Titia, die neben ihm stand, grinsend.

„Trotzdem wow. Monyas Rekonstruktion seines Gesichtes hat genau hingehauen und im Harrah's ist er uns ja faktisch in die offenen Arme gelaufen." Er drehte seinen Kopf. „Was halten Sie davon dauerhaft hier zu arbeiten? Könnte das Ganze ein bisschen einfacher machen." Jetzt grinste er auch und sie lachte.

„Ich glaube nicht, dass das FBI damit einverstanden wäre." Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das andere Zimmer, das eben von einem Anwalt betreten worden war. „Also los."

Colin streifte ziellos durch die Flure des Labors. Eigentlich hatte das gesamte Team schon lange Feierabend, doch nur Amy und Jonah waren nach Hause gegangen. Amy musste auf eines ihrer Enkelkinder aufpassen und Jonah hatte schließlich noch zwei Töchter, die etwas Zeit mit ihrem Vater verbringen wollten. Colin dagegen hatte zuviel Kaffee im Verlauf des Tages getrunken und war viel zu aufgekratzt um nach Hause zu gehen und zu schlafen. Also konnte er genauso gut hier bleiben und das Ergebnis des Verhörs abwarten. Ohne es zu merken war er dann auch in den alten Teil des Gebäudes gelangt und stoppte. Wenn er schon mal hier war, konnte er sich genauso gut das Verhör anschauen. Er öffnete die Tür zum Beobachtungsraum und staunte nicht schlecht, als er im Dunkeln Trent March, den Techniker, entdeckte.
„Trent? Was machst du hier?"

„Colin ... ich ... war neugierig."

„Ah." Colin stellte sich neben seinen Freund und gemeinsam beobachteten sie die fünf Leute auf der anderen Seite des Spiegels. „Hey, Pinias Frisur sieht ja selbst nach elf noch gut aus", sagte er grinsend. „Findest du nicht?" Trent antwortete nicht, sondern starrte nur stur geradeaus.

„Also, Mr Maynard. Es hat keinen Zweck zu leugnen." Pinias Stimme duldete keinen Widerspruch. „Anhand von Fingerabdrücken können wir beweisen, dass Sie in der Wohnung waren. Außerdem ließen Sie dort Kleidung zurück, an der wir DNA gefunden haben, die eindeutig Ihnen zuzuordnen ist. Des weiteren können wir beweisen, dass die fragliche Hose beim Banküberfall getragen wurde – und zwar von Ihnen."

„Haben Sie dazu irgendetwas zu sagen?" Titia beugte sich nach vorne und warf einen Blick zu Matthew, der sich links neben Maynard gegen die Wand gelehnt hatte. Tom fuhr sich mit seinen großen Armen durch die kurzen Haare und machte einen verlorenen Eindruck. Sein Anwalt beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte ihm etwas zu. „Also?"

„Was wollen Sie von mir?"

„Das ist ja wohl klar." Matthew kam nun zum Tisch und stützte die Arme auf. „Wie heißt Ihr Partner und wo ist er?"

Tom wechselte noch einen Blick mit seinem Anwalt und als der nickte, ergab er sich anscheinend seinem Schicksal.

„Sein Name ist Peter Conally." Pinia notierte den Namen und verschwand aus dem Zimmer, um ihn in den Computer einzugeben. „Aber ich habe keine Ahnung wo er ist."

„Und das sollen wir Ihnen glauben? Schließlich wusste Peter auch, wo Joseph ist." Als Tom zusammen zuckte, wusste Titia, dass sie mit der Erwähnung seines toten Kumpanen einen Nerv bei ihm getroffen hatte.

„Ich ... ", Tom begann unruhig seine Hände zu kneten.

„Lassen Sie mich so fragen: Hat er irgendwelche Freunde hier? Bekannte? Familie? War er schon einmal hier und hat irgendwelche Lieblingsplätze? Kino? Restaurant?", auch Matthew hatte nun einen härteren Tonfall angeschlagen. Tom schwieg für einige Minuten.

„Nicht dass ich wüsste."

„Und vielleicht 'ne Idee, wo er jetzt hinwill?"

„Keine Ahnung."

„Okay. Das war's." Matthew öffnete die Tür und winkte einen Officer herein, damit er Tom abführen konnte.


Keine fünf Minuten später hatten sich vier Leute versammelt, dieses Mal jedoch im Pausenraum, um sich mit einer weiteren Tasse Kaffee zu stärken. Mit einem strahlenden Lächeln kam Pinia als fünfte dazu.

„Gute Neuigkeiten. Peter hat in Chicago eine Großmutter."

„Und du glaubst allen Ernstes, dass er bei ihr ist?" Colin war nicht gerade überzeugt von der guten Neuigkeit.

„Möglich ist es jedenfalls, oder?" Pinia sah ihn herausfordernd an.

„Peter hat soweit wir wissen, hier kein Auto. Falls er Chicago also mit dem Zug verlassen will, dann könnte er bei ihr bis zur Abfahrt Unterschlupf suchen", mischte sich nun Titia ein.

„Worauf warten wir dann noch?" Matthew war schon dabei, sich sein Jackett anzuziehen. Titia und Colin folgten ihm schließlich aus der Tür.

„Was machst du eigentlich noch hier, Trent?"

„Darauf warten, dass ihr den Fall löst." Er stand auf. „Du musst los, ohne dich werden die Anderen die Frau nicht finden."

„Was?" Er deutete auf das Blatt. „Oh ... ja. Bis Morgen."

„Bis Morgen."


Die Fahrt bis zu Peters Großmutter dauerte eine gute viertel Stunde und es war bitterkalt, als sie aus dem Auto stiegen. Der Himmel war wolkenlos und es wehte mal wieder kein Wind, wie Titia amüsiert feststellte.

„Guten Morgen", sagte Colin in die Runde, während sie auf dem Bürgersteig standen und im Halbdunkeln nach der richtigen Hausnummer suchten.

„Guten Morgen?" Titia drehte sich verwundert zu ihm um und blickte in ein grinsendes Gesicht.

„Es ist genau Null Uhr und eine Minute."

„Ach so", sie zwinkerte ihm zu. „Na dann, Guten Morgen."
„Ich habe sie gefunden", sagte in diesem Moment Matthew. „Die arme Frau wird sich bestimmt zu Tode erschrecken, wenn wir um diese Uhrzeit klingeln."

„Müssen wir ja nicht unbedingt, wozu gibt's Dietriche?", bemerkte Colin grinsend.

„Lernt man sowas in der CSI-Ausbildung?", fragte Titia,

„Nein, das lernt man auf der Straße", antwortete er und wollte gerade klingeln, als ihm das Schloss auffiel. „Aber manchmal muss man auch einfach nur Glück haben." Er stieß die Tür lautlos auf. „So hören die Leute auf die Polizei, die vor solchen Unvorsichtigkeiten warnt. Na dann." Einer nach dem anderen betrat das Treppenhaus und schließlich standen sie vor der Wohnungstür von Ms Conally und klingelten. Eine Weile passierte nichts und Matthew wollte gerade zum zweiten Mal klingeln, als sie in der Wohnung Schritte hörten. Irgendjemand begann zu flüstern. Eine zweite, aggressiv klingende Stimme gesellte sich dazu. Alle vier zogen ihre Waffen. Plötzlich erklang ein Schrei:

„LASS MICH LOS!"

„Verdammt, er bedroht sie." Colin trat die Tür ein und Matthew stürmte als Erster in die Wohnung.

„Keine Bewegung! Chicago Police Departement." Peter Conally ließ seine Großmutter los und versuchte sich mit reiner Körperkraft einen Weg durch die vier Polizisten zu bahnen. Er stieß Matthew gegen die Flurwand und rannte ins Treppenhaus. Matthew rappelte sich hoch und stürmte hinter Colin her, der die Verfolgung aufgenommen hatte. Auf dem zweiten Treppenabsatz hatte Colin Peter zu Fall gebracht und hielt ihn auf dem Boden fest, bis Matthew mit den Handschellen kam.

„Alles okay?" , fragte Colin. Matthew nickte und half Colin, den sich heftig wehrenden Peter auf die Füße zu stellen

„Peter Conally, hiermit verhafte ich Sie wegen des Mordes an Denis und Joseph Foster, verschiedener Banküberfälle, sowie wegen des Todes von Cassidy Hilley. Sie haben das Recht ... ", begann er seine Litanei und schleppte ihn in Begleitung von Colin aus der Wohnung in den herbeigerufenen Streifenwagen.

„Wie geht es Ihnen?", fragte Titia seine Großmutter, die im Nachthemd vor ihr stand.

„Es ... ich weiß nicht ... was sagte der Polizist? Mord? Und Banküberfall ...meinen Sie die Western Union Bank?" Titia nickte und legte einen Arm um die alte Frau.

„Wie wär's, wenn Sie sich jetzt anziehen und ich fahr Sie dann ins Krankenhaus?"

„Ja", die alte Dame schaute sich unschlüssig um. „Ja, ich sollte mich anziehen ... gute Idee."

„Madam?", lenkte nun Pinia die Aufmerksamkeit auf sich.

„Ja?"

„Darf ich mich in Ihrer Wohnung umsehen? Wir müssen mögliche Beweise sichern." Die alte Dame nickte und ging dann den dunklen Flur entlang um in einem der Zimmer zu verschwinden.

„Ich bin dann im anderen Zimmer", wandte sich Pinia an die Profilerin.

„Mhhm." Titia ging durch die offene Küchentür und setzte sich auf einen der unbequemen Holzstühle um zu warten. Durch die Fenster strahlte das blinkende Licht des Streifenwagens und streifte ihr Gesicht. Ihr Blick schien in weiter Ferne zu ruhen.

„Hey, Titia", holte sie Pinias Stimme zurück. „Gute Arbeit. Wirklich."

„Ebenfalls." Sie lächelte und Titia öffnete die gegenüberliegende Tür um sich an die Arbeit zu machen. Von draußen hörte man, wie der Motor des Streifenwagens ansprang und sich das blinkende Licht in der Dunkelheit verlor. Nur noch das schwache Licht der Straßenlaterne beleuchtete die Tischdecke mit dem Blümchenmuster, auf der Titias Hand lag. Sie hörte Colin wieder die Wohnung betreten und sah ihn im gleichen Zimmer wie Pinia verschwinden. Wenig später stand Ms Conally in der Küchentür, Titia stand auf und begleitete sie nach unten. Es war windig, als sie auf die Straße traten.

„Immerzu Wind", murmelte die alte Dame. Titia lächelte in sich hinein und hielt ihr Gesicht dem Wind entgegen, bevor sie in den Wagen stieg und losfuhr.

Sie mochte den Wind.

Ende


Weiter geht's mit C.S.I. Chicago, Episode 1.o2. "Rufmord" - bald auf