Disclaimer: Mittelerde und alle bekannten Personen und Orte gehören Tolkien.

Von den Ländern des Ostens

Die Koldar-Ebene

Lange vor der Ankunft der Götter aus dem Westen lebten in der Koldar- Ebene nur einige vereinzelte Nomadenstämme. Es war ein ungastliches Land mit kargem Bewuchs; im Winter zu kalt, im Sommer zu warm und zu trocken. Die Nomaden überlebten, indem sie den Kuhantilopen folgten, die in riesigen Herden über die Ebene zogen. Wenn im Frühling der Satar über die Ufer trat und riesige Flächen überschwemmte, zogen die Herden langsam nordwärts, auf das Wintergebirge zu. Wo der Fluss in sein Bett zurückkehrte, liess er eine äusserst fruchtbare Schlammschicht zurück, auf der bald einmal saftiges Gras spross. Dies war die Zeit des Überflusses, in der die jungen Kuhantilopen geboren wurden und die Stämme sich zur grossen Jagd zusammenschlossen. Doch der Sommer brachte Dürre und Hitze mit sich. Der Satar trocknete aus und die Herden zogen weiter nach Norden, wo die Dürre dank des Schmelzwassers aus dem Wintergebirge nicht so schlimm war wie im Süden. Für die Nomaden kam nun eine Zeit der Entbehrungen, denn die hungrigen Antilopen waren vorsichtig und liessen sich nicht mehr so leicht jagen. Da kaum etwas wuchs, legten die Herden jeden Tag grosse Entfernungen zurück und die Nomaden mussten ihnen folgen, wodurch ihnen keine Zeit blieb, Wurzeln und Beeren zu sammeln.

Wenn der Herbst nahte, hatten die Herden den Fuss des Wintergebirges erreicht und labten sich an den wilden Früchten, die gerade reif geworden waren. Für die Stämme blieb Zeit, so viele Vorräte wie möglich zu sammeln, bevor man sich wieder auf den Weg in den Süden machte. Wenn nämlich in den Bergen der erste Schnee fiel, wurden die Kuhantilopen unruhig und zogen wieder südwärts in wärmere Gegenden. Die Nomaden folgten ihnen etwas später und liessen sich auf der Reise Zeit, denn sie hatten genügend Dörrobst und Trockenfleisch, um den Winter ohne Jagd zu überstehen. Erst mit dem ersten Frost zogen auch sie wieder in den Süden, dem ausgetrockneten Flussbett des Satar folgend. Dort wo Koron und Satar zusammenflossen, schlugen die Nomaden ihr Winterlager auf. Das warme Wasser des Koron hielt den Frost fern, so dass an seinem Ufer selbst im tiefsten Winter essbare Pflanzen wuchsen. Im Wasser lebten seltsame Fische, die die Nomaden von einfachen Flossen aus jagten.

Im Frühling tauchten dann die Antilopen wieder auf, die den Winter noch weiter im Süden verbracht hatten. Sie zogen rasch am Ufer des Koron entlang nach Westen, weg von der Flussmündung des Satar, und die Nomaden folgten ihnen. Sobald nämlich im Wintergebirge die Schneeschmelze eintrat, kam der Satar in einer gewaltigen Flutwelle angetost und riss alles mit sich, was sich ihm in den Weg stellte. Tiere und Menschen warteten dann jeweils begierig auf den Moment, wo der Satar wieder in sein Bett zurückkehrte und der Zug nach Norden beginnen konnte.

Die Zeit verging, und in einem Sommer, der nicht so trocken war wie die anderen, blieb ein Nomadenstamm an der Flussmündung zurück. Als die anderen Stämme im Winter aus dem Norden herabkamen, stand am Ufer des Koron ein kleines Dorf.

Weitere Sippen wurden im Norden sesshaft, wo sie Städte am Fuss der Berge erbauten. Es gab zwar immer noch wandernde Nomaden, aber ihr Leben war nicht mehr wie früher, denn die Sesshaften schätzten es nicht, dass sie ihr Hab und Gut mit den Herumziehenden teilen mussten, wann immer diese vorbeikamen. Insbesondere das Volk der Karmandi, das sich am Ufer des Koron niedergelassen hatte, wollte nicht mehr, dass die Nomaden ihr Winterlager in ihrem Gebiet aufschlugen. Dann begannen sich auch die Tarvik im Norden gegen die Wanderhirten zu wehren, und es kam zu einem langen und blutigen Krieg. Die Nomaden, die weiterhin ihren Herden folgten, wurden im Norden wie im Süden angegriffen und konnten keine Vorräte mehr sammeln.

Die letzte Frühlingszusammenkunft der Nomaden stand unter einem schlechten Stern. Beim Versuch, im Koron zu fischen, war es zu einer Schlacht mit den Karmandi gekommen, und es waren viele Tote zu beklagen. Die Herden waren klein, da die Antilopen die Dörfer mieden und daher die meisten von ihnen den Fluss weit westlich von der Stelle überquert hatten, an der die Nomaden auf sie gewartet hatten.

Unter den Nomaden war ein junger Mann, den als einziger der Mut noch nicht verlassen hatte. Er war es, der die letzten Stämme um sich sammelte und sich daran machte, seinen verzweifelten Plan zu verwirklichen. Den ganzen Frühling über arbeiteten die Nomaden am Flussbett des Satar. Sie hoben Gräben und Becken aus, bauten hohe und breite Wälle und zäunten grosse Flächen ein. Die Antilopen waren längst nach Norden gezogen, aber nicht alle; einige hundert Tiere waren in den Einzäunungen gefangen und harrten ihres Schicksals. Als das Wasser des Satars zurückging, war die Arbeit der Nomaden beendet. Ein riesiger See, umgeben von Dämmen erstreckte sich nach Norden hin, soweit das Auge reichte. Führte auch der Satar kein Wasser mehr, so würde es doch einige Zeit dauern, bis dieser See ausgetrocknet wäre. Der junge Mann, der die Idee zum Bau des Stausees gehabt hatte, wurde zum Anführer über die Stämme gewählt und trug von da an den Namen Satarne – Bezwinger des Satar. Die Zeit der Nomaden war zu Ende; das Zeitalter der Städte war angebrochen.

Die Völker des Ostens

Jahre vergingen, und am Ufer des Sees entstand die Stadt Satar-Ai, erbaut auf einem künstlichen Hügel, der die Ebene weit überragte. König Satarne hatte den Grundstein zu einem reichen Land gelegt, denn durch geschickt angelegte Schleusen konnte man jedes Jahr die Felder überschwemmen und den Satar seinen nährstoffreichen Schlamm abladen lassen. Die Flutwelle im Frühling wurde an den Dämmen aufgehalten und füllte den See wieder auf, dessen Wasserstand während der Trockenzeit stark gesunken war. Doch selbst in den trockensten Jahren hatte es stets genug Wasser im See, so dass die ganze Stadt und einige umliegende Dörfer davon leben konnten. Die Kuhantilopen, die man gefangen hatte, gediehen prächtig, und man hatte damit begonnen, sie vor Pflüge zu spannen, um die Felder besser bewirtschaften zu können. Ausserdem konnte man ihre Milch verwerten und den daraus gewonnenen Käse den Tarvik verkaufen, die inzwischen mit den sesshaft gewordenen Nomaden Frieden geschlossen hatten.

Nach König Satarne regierte sein Sohn Far, den man auch den Weisen nannte, die Stadt. Während seiner Amtszeit traf er sich mit vielen Abgesandten aus anderen Ländern und man teilte die Koldar-Ebene in Gebiete auf, deren Grenzen eindeutig festgelegt wurden. So fanden endlich auch die ständigen blutigen Stammesfehden ein Ende. Zu Ehren des Königs wurde das Land, dessen Hauptstadt Satar-Ai war, Farad getauft.

Die zentrale Lage inmitten der Koldar-Ebene und der Wohlstand der Einwohner von Satar-Ai liess die Stadt mit der Zeit zum Handelszentrum werden, wo man Menschen aus allen Ländern antraf. Die Tarvik aus dem Norden hatten im Wintergebirge grosse Erzlager entdeckt und handelten nun mit Metallen, was ihnen grossen Reichtum einbrachte, denn die Völker im Süden hatten bis dahin nichts Härteres als Stein, Holz und Knochen gekannt. Die Karmandi aus dem Süden lebten von der Landwirtschaft, denn das warme, mineralreiche Wasser des Koron begünstigte das Wachstum der Pflanzen. Manchmal kamen Reisende aus dem Osten nach Satar-Ai. Sie kamen aus dem fernen Valdograd am Rande der Schwefelsümpfe, wo sie schon in steinernen Städten gelebt hatten, als die Koldar-Ebene noch von Nomaden bevölkert gewesen war. Man wusste nicht viel über den Osten, denn die Valdograd waren geheimnisvolle Menschen, die lange, dunkle Gewänder trugen und ihre Gesichter hinter goldenen Halbmasken verbargen, die mit Edelsteinen verziert waren. Oft bezahlten sie auch mit Edelsteinen, die fein geschliffen waren und in allen Farben funkelten. Hauptsächlich handelten die Valdograd jedoch mit Sklaven. Es handelte sich dabei um kleine, zierliche Menschen mit hellbrauner Haut und dunklem Haar, die sich selbst Shadri nannten. Bald war es überall in Farad gang und gäbe, sich ein paar Shadri zu halten, die für einen die schwere Arbeit erledigten.

Viele Jahre kamen und gingen, und Farad erstrahlte in unermesslichem Reichtum. So kam es auch, dass die Tarvik den Bewohnern von Satar-Ai ihr Glück zu neiden begannen, auch wenn sie diese Gedanken nur im Verborgenen hegten.

Das Bündnis von Farad

Unter König Sotaren, dem Beredten, kam es wieder zu einer einschneidenden Veränderung in Farad. Sotaren war nämlich der erste König, der eine Reise in den Osten unternommen hatte, um sich mit dem Herrscher von Valdograd zu treffen. Sein Sohn Tarros, damals noch fast ein Kind, hatte ihn auf diese Reise begleitet. Ein halbes Jahr später war König Sotaren alleine nach Satar-Ai zurückgekehrt. Die Einladung nach Valdograd war eine Falle gewesen, und nur dem König war es gelungen, als karmandischer Händler getarnt aus dem Land zu fliehen. Es folgte ein langer und erbitterter Krieg mit Valdograd, dessen Herrscher sich das fruchtbare Land Farads und die Reichtümer seiner Bewohner aneignen wollte. Die Farad hatten nur wenig Kriegserfahrung und ihre Hoffnung schwand, als die Tarvik sich mit den Valdograd verbündeten und ein riesiges Heer zu deren Unterstützung in den Kampf schickten. Ausserdem versorgten sie die Angreifer mit eisernen Waffen und schweren Rüstungen, während in Farad die Metalle knapp wurden, die sie nur von den Tarvik kaufen konnten.

Doch am Abend vor der entscheidenden Schlacht, als sich ein gewaltiges Heer am Fuss des Hügels gesammelt hatte, auf dem Satar-Ai erbaut war, kam plötzlich dichter Nebel auf, der alles in undurchdringliches Weiss hüllte. Die Verteidiger der Stadt hörten dumpfe Schreie und das Klirren von Waffen, aber es war ihnen nicht möglich zu sehen, was im Nebel geschah. Laut schallten Hornsignale durch die hereinbrechende Nacht, und plötzlich strömten die Shadri-Sklaven aus allen Häusern, bewaffneten sich mit Hacken, Messern und Holzscheiten und stürmten damit auf das Stadttor zu. Einen Moment lang fürchteten die Farad, es käme zu einem Sklavenaufstand, aber die Shadri, welche der Sprache Farads mächtig waren schrieen ihren Herren zu, es sei an der Zeit, einen Ausfall zu wagen. Ihre Kampfeswut war so gross, dass die Farad von ihrem Eifer angesteckt wurden. Mit lautem Geschrei stürzten sich Sklaven und Herren, Shadri und Farad den Hügel hinab in die Schlacht. Was sie im sich langsam lichtenden Nebel erwartete, übertraf all ihre Vorstellungen. Das Heer der Angreifer war in Auflösung begriffen. Die Krieger der Tarvik flohen in heller Aufregung vor seltsamen Fabelwesen, die weder menschlich noch tierisch zu sein schienen. Die Valdograd schienen sich nicht vor den Geschöpfen zu fürchten, aber ohne die Hilfe der Tarvik waren sie den seltsamen Angreifern zahlenmässig weit unterlegen. Als sich nun die Bewohner der Stadt auch noch in den Kampf einmischten, war der Ausgang der Schlacht entschieden. Die Valdograd wurden gnadenlos niedergemacht, während man die Tarvik lebendig gefangen nahm, wo immer man konnte. Es war wichtig, dass man mit den Nordländern so schnell wie möglich Frieden schloss, damit Farad wieder zu den wertvollen Metallen kam, die man nur im Wintergebirge abbauen konnte. Die Valdograd dagegen hatten sich mit der Ermordung des Königssohnes jedes Recht auf Gnade verspielt.

Als der Morgen anbrach, war der Nebel verschwunden und die ersten Sonnenstrahlen beschienen einen breiten Streifen von zertrampelter und blutgetränkter Erde, der von Toten und Sterbenden übersät war.

Am östlichen Ende des Schlachtfeldes hatten die geheimnisvollen Retter der Stadt ihr Lager aufgeschlagen. Inzwischen hatten die Farad gemerkt, dass es sich bei ihnen nicht um Fabelwesen handelte, sondern um ganz normale Menschen, die jedoch auf dem Rücken von grossen, fremdartigen Tieren in die Schlacht geritten waren. Viele dieser hellbraunen, höckerigen Tiere lagen tot auf dem Schlachtfeld, aber ungleich viel mehr von ihnen standen angepflockt am Ufer des Sees, hinter dem Lager der Fremden. Bis am Mittag wanderten Farad und Fremde schweigend über das Schlachtfeld und sammelten ihre Toten und Verletzten ein. Kein Farad wagte es, ein Wort an die Fremden zu richten, die wie die Valdograd in lange Gewänder gehüllt waren, aber anstelle der Halbmasken dunkle Schleier trugen, die nur ihre Augen freiliessen.

Als die Sonne am höchsten stand, kam eine kleine Gruppe von Reitern aus dem Lager der Fremden und hielt auf das Stadttor zu. Sie trugen keine Waffen, als Geste des Friedens, aber einer der Männer hielt ein Banner in die Höhe, auf dem die rote Sandkatze, das Zeichen König Sotarens, abgebildet war. Der Anführer der Gruppe sass auf einem schneeweissen Reittier und trug eine weisse Rüstung die mit blauen Edelsteinen besetzt war. Sein weisser Helm bildete den Kopf einer Sandkatze nach. Auch auf seinem schwarzen Umhang war eine rote Sandkatze zu sehen.

Als die Reiter das Stadttor erreicht hatten, öffnete man die schweren Torflügel und König Sotaren trat ihnen mit seiner Wache entgegen. Der Anführer der Reiter sagte ein einziges befehlendes Wort, und die Reittiere der Gruppe legten sich nieder. Während die anderen Reiter neben ihren Tieren stehen blieben, kam der Anführer mit klirrender Rüstung auf König Sotaren zu und fiel vor ihm auf die Knie.

„Das Heer der Shadri steht zu Euren Diensten, König Sotaren von Farad", sagte er mit klarer Stimme, und in diesem Moment wusste derKönig, dass sein Sohn zu ihm zurückgekehrt war.

Der geheimnisvolle weisse Reiter war niemand anderes als Tarros, dem es mit Hilfe von Sklaven gelungen war, aus dem Hinterhalt der Valdograd zu entkommen. Zusammen mit diesen Sklaven war er weit in den Osten geflüchtet, auf die Insel Qippan, auf der sich das Reich Shadrinam befand. Shadrinam lag seit langem im Krieg mit Valdograd, weil viele Shadri von den Menschen aus den Schwefelsümpfen gefangen genommen und als Sklaven verkauft worden waren.

Tarros hatte sich seinen Rettern gegenüber als Königssohn zu erkennen gegeben und hatte eine Audienz beim Tanai, dem Herrscher des Landes gewährt bekommen. Die Shadri wussten nichts von dem, was jenseits der Schwefelsümpfe lag, da sie die Insel Qippan so gut wie nie verliessen. Als der Tanai nun von Tarros erfuhr, dass es jenseits der Sümpfe andere Völker gab, die ihrerseits nichts von der Existenz der Shadri wussten, war er bald einmal bereit, den jungen Mann zurück in den Westen ziehen zu lassen, begleitet von einigen Abgeordneten, die mit den Farad, den Tarvik und den Karmandi über mögliche Bündnisse und Handelsabkommen verhandeln sollten. Tarros hatte dem Tanai nicht verschwiegen, dass es in Farad Shadri gab, die ihnen von den Valdograd als Sklaven verkauft worden waren. Die Offenheit des jungen Prinzen beeindruckte den Tanai so sehr, dass er Tarros bei sich im Palast wohnen liess und lange Gespräche mit ihm führte, während denen er viel über die Farad und ihr Land erfuhr. Doch es entging dem Tanai nicht, dass Tarros um seine Heimat fürchtete, denn zu Recht glaubte er, dass das Attentat auf ihn und seinen Vater zu einem Krieg zwischen Farad und Valdograd führen würde.

Zwei Monate lang blieb Tarros am Hof des Tanai und dieser liebte ihn wie einen Sohn. Doch die Angst um seine Heimat liess den Prinzen nicht zur Ruhe kommen und schliesslich versprach der Tanai, ihm zu helfen. Er stattete Tarros mit einer Rüstung, Waffen und einem Reittier aus und gab ihm das Kommando über dreihundert Reiter, um Farad in seinem Krieg gegen Valdograd zu unterstützen. Auf sechs grossen Segelschiffen reisten sie der Küste entlang nach Norden, um die Schwefelsümpfe zu umgehen. Dort wo die letzten Ausläufer des Wintergebirges weit ins Meer hinaus ragten, legten die Schiffe an und Tarros machte sich mit seinem Heer auf den beschwerlichen Weg nach Westen. Zwischen steilen Felswänden und trügerischen Sümpfen zogen sie immer weiter, gedrängt von Tarros, der um das Schicksal Farads bangte.

Auf ihrer Reise hatten sie einmal einen Trupp Tarvik gesichtet, der eilig nach Süden zog, und es war ihnen gelungen, einen ihrer Kundschafter gefangen zu nehmen. So hatten sie von dem geplanten Angriff auf Satar-Ai erfahren und waren so schnell wie möglich weiter gezogen, um König Sotaren noch rechtzeitig zu Hilfe zu kommen.

Sie hatten den See am Morgen vor der Schlacht erreicht und beschlossen, auf den Abend zu warten und den Feinden in den Rücken zu fallen, wenn diese die Stadt angreifen wollten. Die Shadri mit ihrem zierlichen Körperbau schienen dem Gegner in einem Kampf Mann gegen Mann nicht gewachsen zu sein, aber Tarros hatte während seiner Zeit am Hof des Tanai am eigenen Leib erfahren, dass sich die Shadri in einer Kampfart auskannten, die es ihnen erlaubte, mit blossen Händen einen grösseren und stärkeren Gegner zu besiegen, bevor dieser auch nur merkte, dass er angegriffen wurde. Doch die Shadri waren nicht nur äusserst geschickte Kämpfer, sondern sie hatten auch andere Mittel um den Feind im Kampf zu bezwingen. So schleuderten sie mit gelbem Pulver gefüllte Glaskugeln auf den Feind, die, wenn sie zersprangen, einen dichten Nebel erzeugten. Vor allem aber verwendeten die Shadri Tiere zum kämpfen. Nicht nur, dass sie auf so genannten Kamelen in die Schlacht ritten, nein, sie hatten auch eine kleinere Art von Sandkatzen zum Kampf abgerichtet.

Im künstlich erzeugten Nebel hatten die Shadri die Belagerer angegriffen, die nicht erwartet hatten, dass man ihnen in den Rücken fallen würde und dadurch völlig überrascht worden waren. Die Sklaven in Satar-Ai hatten die Hornsignale ihres Volkes erkannt und sich daraufhin auch in die Schlacht gestürzt. So geschah es, dass Satar-Ai gerettet wurde.

König Sotaren war so glücklich über die Rückkehr seines tot geglaubten Sohnes, dass er diesem ein Jahr nach der Schlacht die Krone übergab. Der junge König Tarros verbot daraufhin die Sklaverei im ganzen Lande Farad und erlaubte allen Shadri in ihre Heimat zurückzukehren.

Viele der ehemaligen Sklaven verliessen nun das Land und kehrten zurück in den Osten; aber die meisten Shadri fürchteten sich vor der langen Reise, die sie durch das Land der Valdograd führte und beschlossen, in Farad zu bleiben.

So kam es, dass sich unter König Tarros die Stadt Satar-Ai bedeutend veränderte. Die Shadri, die geschickte Künstler waren, bauten ihm nämlich einen neuen Palast in der Art, wie man im fernen Shadrinam zu bauen pflegte. Auch ihre Häuser erstellten sie nach Art des Ostens, so dass es in Satar-Ai neben den klobigen Steinbauten der Farad auch kleine hölzerne Pavillons mit durchscheinenden Wänden und zierlichen Schnitzereien zu sehen gab. Durch den Handel mit Shadrinam, wurde Farad noch schöner und reicher, als es zuvor gewesen war. Die Tarvik und die Karmandi fürchteten die Macht der Farad und waren froh, dass diese sich nicht gegen sie wandten, sondern weiterhin mit ihnen Handel trieben.

Dies waren die friedlichsten Jahre in der Koldar-Ebene, doch im fernen Westen bereitete sich auf grausame Weise das Ende dieses Glücks vor.

Hunderte von Jahren waren ins Land gezogen, und die Völker der Koldar-Ebene lebten immer noch glücklich und zufrieden. Doch es kamen Gerüchte auf, Geschichten aus dem fernen Westen, wo nie ein Mensch gewesen war. Die Karmandi, welche mit ihren Schiffen weit westwärts segelten, berichteten von Rauch und Flammen über den Gipfeln des Gondramgebirges und die Tarvik erzählten von grossen und unwahrscheinlich bösartigen Wölfen, die aus dem Westen kamen, angetrieben von einer schrecklichen Wut, die sie alles töten liess, was sich ihnen in den Weg stellte. Kundschafter, die die Farad in den Westen sandten, kehrten entweder nicht zurück, oder sie berichteten von Erdbeben, giftigen Winden und ewiger Dunkelheit, die sich über das Gondramgebirge gesenkt hatte. Dann kam der Tag des unermesslichen Leides, von dem man in der Koldar-Ebene nicht sprechen mag. Kurz nach Sonnenaufgang verdunkelte sich der Himmel. Von Westen her zogen schwarze Wolken auf, die rasend schnell die Sonne verschluckten und das Land in Finsternis hüllten. Ein Sturm begann zu toben, der Bäume entwurzelte, Häuser zerstörte und die Flüsse über die Ufer treten liess. Der Fluss Koron, der sonst immer gleichviel Wasser führte, schwoll an und riss mit einer gewaltigen Flutwelle Menschen, Tiere, ja ganze Dörfer mit sich. Sein warmes, klares Wasser war nun schwarz und trübe, und ein entsetzlicher Gestank ging von ihm aus.

Wind und Wasser brachten den Tod mit sich. Ein Fieber begann zu wüten, das Männer, Frauen und Kinder gleichermassen dahinraffte. Das Vieh starb auf den Weiden, die Pflanzen auf den Feldern verwelkten und immer noch wütete der Sturm mit ungeahnter Kraft.

Elf Tage und elf Nächte dauerte es, bis der Wind erstarb und die Wolken sich verzogen. Doch noch lange danach schien die Sonne nur schwach durch die letzten Wolkenfetzen und vermochte dem Land keine Wärme zu spenden. Der Koron führte nach diesem Sturm nie mehr sein klares, warmes Wasser. Giftige Dämpfe stiegen aus dem Flussbett auf und wo die schwarzen Wogen ans Ufer schlugen starben Pflanzen und Tiere. So entstand mit den Jahren am Ufer des Koron eine Wüste, und niemand konnte es wagen, dem Flussbett näher als fünf Meilen zu kommen, wollte er nicht vom Gift des Flusses getötet werden.

In der ganzen Koldar-Ebene gab es kaum jemanden, der nicht den Verlust eines Familienmitglieds zu beklagen hatte. Doch am schlimmsten hatte der Sturm die Karmandi getroffen. Sie, die bis anhin von der Landwirtschaft gelebt hatten, mussten nun feststellen, dass ihr Land zu einer unbewohnbaren Wüste geworden war. Sie zogen sich weit in den Süden zurück, bis an das Ufer des Meeres, und erbauten dort neue Städte – weniger prächtig als zuvor, aber dafür von starken Mauern umgeben, um sie vor den Piraten zu schützen, die aus dem Westengesegelt kamen.

Die Tarvik zogen sich weiter ins Gebirge zurück und bauten ihre Städte in Höhlen, die sie in die Flanken der Berge schlugen. Die Farad blieben weiterhin in der Nähe des Sees, aber mit Hilfe des Wissens der Shadri bauten sie Schutzkeller gegen den tödlichen Wind aus dem Westen, und sie suchten nach Heilmitteln, um sich für eine mögliche Rückkehr der Seuche zu wappnen. So entfremdeten sich die Völker der Koldar-Ebene voneinander und über die Jahrhunderte geriet ihre gemeinsame Vergangenheit in Vergessenheit. Wohl wurde weiterhin Handel zwischen den Völkern getrieben, aber die Blütezeit der Koldar-Ebene war vorbei.

Von den Slaven aus dem Westen

Jahrhunderte waren seit jenem Tag des unermesslichen Leides, der die Völker der Koldar-Ebene ins Elend gestürzt hatte, vergangen, und nun herrschte König Gorwan über Farad. Es war eine Zeit der Spannungen, denn einem harten Winter war ein trockener Sommer gefolgt, und die Menschen hungerten. Insbesondere die Karmandi neideten den Farad ihre fruchtbaren Felder am Ufer des Sees. Sie selber lebten in der Wüste des Koron, die sich inzwischen bis ans Meeresufer erstreckte. Karmand, das nun von Handelsgilden regiert wurde, lebte in normalen Zeiten vom Handel mit den Nachbarländern und auch mit den Piraten vom südlichen Meer, aber nach der schlechten Ernte des Sommers, waren die anderen Völker nicht sehr auf Handel erpicht, und die Karmandi befürchteten eine Hungersnot. So schienen die Wiesen Farads plötzlich grün und saftig, und der Neid der Karmandi wuchs. König Gorwan wusste von dieser Missgunst, und daher trieb er regelmässig Handel mit Valdograd und Karmand. Auf diese Weise schaffte er es, trotz allem recht gute Beziehungen mit den beiden Ländern zu unterhalten. Einzig der Sklavenhandel, eine wichtige Einnahmequelle der Karmandi, war in Farad verboten. Vor langer Zeit hatte es auch in Farad Sklaven gegeben, die alle aus Shadrinam stammten, aber zu der Zeit, als König Gorwan in Farad herrschte, lebten in Satar-Ai, etwa gleichviel Shadri wie Farad neben- und miteinander, und man hatte längst vergessen, dass die einen einst die Sklaven der anderen gewesen waren. Im Adel, der Armee und den schweren Handwerksberufen, traf man vor allem Farad an, die Shadri dagegen waren im grossen Rat vertreten und arbeiteten als Fischer, Lehrer und Künstler.

Im Spätherbst des Jahres der blauen Schlange zog ein Sklavenhändler aus Karmand durch Farad. Er gedachte seine Ware den Tarvik im Norden zu verkaufen, die immer Arbeiter für die Eisenerzminen brauchten. Normalerweise zogen Sklavenhändler nicht durch Farad, sondern der Westgrenze des Landes entlang, wo sich zwischen der Landesgrenze und der Felswüste Jira noch ein schmaler fruchtbarer Landstreifen erstreckte, der von einer Handvoll Nomaden bewohnt wurde. Doch dieser Händler wollte die Wolfssteppen im Norden noch vor dem ersten Schnee wieder verlassen und hatte es daher eilig, die Tarvik zu erreichen. Ausserdem führte er Sklaven aus jenen Nomadenstämmen mit sich und befürchtete Befreiungsversuche von deren Familien. So hatte er beschlossen, Farad zu durchqueren, in der Hoffnung, dass man ihn trotz seiner verbotenen Ware passieren lasse. Höchstwahrscheinlich hätte man seine Durchreise sogar geduldet, hätte der Sklavenhändler Satar-Ai umgangen. Bis dorthin gelangte er ohne Schwierigkeiten, aber dann beschloss er, eine Nacht in einem Gasthaus in der Hauptstadt zu verbringen. Als er seine Sklaven draussen an den Balken kettete, wo sonst die Marktfahrer ihre Zugtiere festbanden, wurde er von der Stadtwache ergriffen und ins Gefängnis gebracht. Man war jedoch ratlos, was mit den Sklaven geschehen sollte. Solange der Händler nicht verurteilt war, durfte man sie nicht einfach freilassen, denn immerhin waren sie sein Eigentum. So wurden auch die Sklaven ins Gefängnis gebracht, wo sie der Dinge harrten, die da kommen sollten. Wie in Karmand üblich, waren immer zwanzig Sklaven zu langen Reihen aneinandergekettet. Dieser Händler hatte vier solcher Reihen mit sich geführt, und als die Gefängniswache die Sklaven von den Ketten befreit und auf die Zellen verteilt hatte, gab es im Gefängnis keine einzige freie Zelle mehr. Allen war klar, dass möglichst schnell eine Entscheidung getroffen werden musste, was den Sklavenhändler und seine Ware betraf, aber bis dahin mussten die Sklaven in dem überfüllten Gefängnis ausharren. Die meisten von ihnen waren Shadri, die man in Satar-Ai mit gemischten Gefühlen betrachtete. Auch wenn diese Sklaven nie zuvor in Farad gewesen waren, wurden sie doch von den hiesigen Shadri als Angehörige ihres Volkes angesehen. Da es auch in der Gefängniswache Shadri gab, freundeten sich die Sklaven bald einmal mit den Wachen an und verschwanden nach und nach aus dem Gefängnis, ohne dass jemals von einem Ausbruch die Rede gewesen wäre.

Ausser den Shadri gab es etwa dreissig Nomaden aus dem Westen unter den Sklaven. Da diese nicht so einfach zu halten waren wie die Shadri, hatte man sie nach ihrer Gefangennahme auf den Wangen und der Stirn gebrandmarkt und ihnen Metallbänder um Hand und Fussgelenke geschmiedet, die keinen Verschluss besassen, sondern nur breite Ösen, durch die man Ketten ziehen konnte. Stumm sassen die Nomaden in ihren Zellen und warteten. Niemand kannte ihre Sprache, so dass man sich nicht mit ihnen verständigen konnte, also liess man sie in Ruhe.

Fünf der Sklaven waren weder Nomaden noch gehörten sie dem Volk der Shadri an. Mit dem dunklen Haar und dem schlanken Körperbau ähnelten sie zwar den Shadri, aber ihre Haut war so hell wie die der Farad und selbst die kleinere der Frauen war so gross wie der grösste der Gefängniswärter. Es war schon erstaunlich, dass dieser Sklavenhändler überhaupt Frauen mit sich führte, denn es war bekannt, dass die Tarvik die Sklaverei auf den Bergbau beschränkten und daher nur kräftige Männer für die Minen kauften. Diese fünf Sklaven schienen etwas Besonderes zu sein, auch weil der Sklavenhändler beharrlich schwieg, wenn man ihn über ihre Herkunft befragte. Es handelte sich um einen sehr alten und zwei jüngere Männer und um zwei Frauen. Eine von ihnen war noch fast ein Kind, die andere schien auf den ersten Blick nicht viel älter zu sein, wenn man sie aber länger betrachtete, bemerkte man die Spuren, die die Jahre in ihrem Gesicht hinterlassen hatten. Einer der jungen Männer hatte eine Verletzung am Bein, die sich entzündet hatte. Der Gefängnisarzt hatte sich um die Wunde gekümmert, aber dann bedenklich den Kopf gewiegt. Als das Fieber stieg, der Kranke sich auf seinem Lager hin und her warf und in einer fremden Sprache redete, brachte man ihn ins Krankenhaus und liess die anderen vier bei ihm bleiben, weil sie sich unter keinen Umständen von ihm trennen wollten. Während die beiden jungen Leute am Fenster sassen und über die Stadt blickten, sassen die ältere der Frauen und der alte Mann am Bett des Kranken, kühlten seine Stirn mit feuchten Tüchern und hielten seine fiebrigheissen Hände. Sie gönnten sich keine Pause, keinen Schlaf. Stets war jemand bei dem Kranken und umsorgte ihn.

Vielleicht hätte sich der junge Mann erholt, doch da kam ein schwerer Sturm auf und der Westwind brachte das schwarze Fieber mit sich. Die Leute in Satar-Ai verschlossen Türen und Fenster und verkrochen sich in ihren Kellern, denn sie kannten das Gift, das der Wind mit sich trug. Trotzdem erkrankten viele, und die Alten und Schwachen erlagen bald dem hohen Fieber, das ihre Körper von innen heraus verbrannte. So auch der junge, verletzte Sklave, der am selben Tag noch starb, nachdem die Krankheit bei ihm ausgebrochen war. Bis auf die ältere der beiden Frauen erkrankten auch die anderen Sklaven, und der alte Mann überlebte den jungen nur um wenige Stunden. Die anderen beiden erholten sich nach und nach unter der Pflege der Gesundgebliebenen. Diese gönnte sich keine Ruhe, bis einer der Ärzte sie zur Seite nahm und ihr durch Zeichen zu verstehen gab, dass ihre Gefährten sich erholen würden und nun nur noch der Ruhe bedürften.

Trotz aller Vorsicht war dieses Mal auch König Gorwan am schwarzen Fieber erkrankt, denn er war auf der Jagd gewesen, als der Wind aufkam und hatte es nicht mehr rechtzeitig geschafft, Schutz zu suchen. Da sein Fieber hoch und er nicht ganz bei sich war, brachte man auch ihn ins Krankenhaus, wo man ein Zimmer für ihn richtete, das eines Königs würdig war. Sobald es ihm etwas besser ging, tätigte er hier seine Staatsgeschäfte, und den ganzen Tag gingen Besucher bei ihm ein und aus.

Als der König zum ersten Mal wieder aufstehen durfte und ans Fenster ging, sah er die ältere Sklavin im Hof stehen und nach Westen blicken. Regungslos stand sie da, während eine sanfte Brise mit ihrem Haar spielte. Plötzlich hob sie den Kopf, breitete die Arme aus und stiess einen langen, klagenden Ton aus. Gorwan traute seinen Augen nicht, als eine Taube, die im Sand gepickt hatte, sich in die Luft erhob und auf der Hand der Frau landete. Diese schien dem Vogel etwas ans Bein zu knüpfen und schleuderte ihn dann mit einer heftigen Bewegung in die Höhe. Die Taube flatterte einen Moment lang an Ort und Stelle, zog noch einmal einen Bogen über den Hof und flog daraufhin zielstrebig Richtung Westen davon. Die Frau blickte dem Vogel nach, bis er verschwunden war und sank langsam zu Boden. Einen Augenblick verharrte sie zusammengekauert, das Gesicht in den Händen verborgen. Dann erhob sie sich wieder und schritt sehr aufrecht ins Haus zurück.

Als an diesem Abend ein Arzt kam, um nach dem König zu sehen, fragte ihn dieser nach der Frau und erfuhr so die ganze Geschichte von dem Sklavenhändler und seiner ungewöhnlichen Ware. Am nächsten Morgen liess Gorwan die Sklavin zu sich rufen. Als sie eintrat, winkte er sie zu sich und deutete auf einen Sessel am Fenster. Mit katzenhaft geschmeidigen Bewegungen durchquerte sie den Raum und setzte sich. Die Anstrengungen der letzten Tage hatten sie gezeichnet, aber trotzdem schien sie Gorwan das schönste Geschöpf zu sein, das er je gesehen hatte. Sie war beinahe so gross wie er, der er als Hüne galt. Ihr Haar, das schwarz schimmerte wie Rabenflügel, floss über ihre Schultern bis zu ihrer Hüfte und betonte die Blässe ihrer Haut. Ihre Augen waren hellgrau und blickten ihn aufmerksam an. Es war ihr nichts von der Unterwürfigkeit einer Sklavin anzumerken.

Gorwan deutete nun auf sich selbst und sprach langsam und deutlich seinen Namen aus.

„Gorwan."

Sie nickte ernst und deutete auf ihn.

„Gorwan."

Daraufhin zeigte sie auf sich selber.

„Sáriel."

Damit trat wieder Stille ein, denn Gorwan wusste nicht weiter. Er hatte erwartet, dass er den Nachmittag damit verbringen würde, ihr seinen Namen beizubringen und dann den ihren zu erfahren. Eigentlich hätte er nun gerne nach ihrer Herkunft gefragt, aber er hatte keine Ahnung, wie er das mit Zeichensprache ausdrücken sollte. Schliesslich war es Sáriel, die eine Lösung fand. Mit einer fliessenden Bewegung erhob sie sich und ging zu dem Tisch hinüber, auf dem Gorwan einen Stapel von Schriftstücken liegen hatte, die er noch durchlesen musste. Sáriel griff nach einem leeren Blatt und hielt es gegen das Licht. Ihr Blick drückte Verwunderung aus. Dann nahm sie den Stift, der neben den Papieren lag und betrachtete ihn prüfend. Offensichtlich hatte sie nie etwas Vergleichbares gesehen. Die Shadri hatten nämlich nicht nur ihr Wissen über die Herstellung von dünnem Papier nach Farad gebracht, sondern auch Schreibstifte aus zugespitzten Hornschilfstängeln, denen man das Mark entnommen und durch eine spezielle Flechtenart ersetzt hatte. Tränkte man diese Flechte mit einer Tinte aus Russ und verschiedenen Beeren und Kräutern, so wurde diese nach und nach abgegeben und ermöglichte es einem, lange Texte zu schreiben, ohne den Stift immer wieder in die Tinte tauchen zu müssen. Sáriel kam nun mit Stift und Papier zurück und zog ihren Sessel neben den von Gorwan, so dass er sehen konnte, was sie zeichnete.

Die Frau begann mit einer Stadt auf dem rechten Rand des Blattes. Mit heftigen Gebärden gab sie ihm zu verstehen, dass es sich hier um die Stadt handelte, in der sie sich gerade befanden.

„Satar-Ai", gab Gorwan ihr zu verstehen und sie malte ein paar seltsame Zeichen, die offenbar Buchstaben ihrer Schrift waren, unter die Stadt.

„Satar-Ai", wiederholte sie und deutete auf den Schriftzug.

Dann zeichnete sie weiter. Gorwan erkannte das Meer südlich von Karmand, die Felswüste Jira und schliesslich den Fluss Koron, der aus dem Westen, mitten aus der Wüste kam. Hier endeten die geographischen Kenntnisse des Königs, denn niemand, der je versucht hatte die Wüste zu durchqueren, war zurückgekommen. Doch Sáriel zeichnete weiter und ihre Linien wurden sicherer, je weiter sie auf der Karte nach Westen vordrang. Es schien, als hätte sie alles um Farad herum nur erraten, wisse aber über den Westen ganz genau Bescheid.

Schliesslich kam Sáriel zu einer Küstenlinie, die sich von Norden nach Süden über die ganze Karte hinzog. Am äussersten linken Ende der Karte zeichnete sie nun mit schwachen Linien weiteres Festland. Dieses deutete sie aber nur so vage an, dass Gorwan verstand, dass sie über dieses Land nicht Bescheid wusste.

Mitten ins Meer malte Sáriel nun einen winzigen Fleck, der offenbar eine Insel darstellen sollte. Auf diesen Fleck deutete sie nun und blickte Gorwan ernst an. „Númenor", flüsterte sie und deutete dann auf sich und auf die Insel. Gorwan nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte und starrte dann auf die Karte. War es wirklich möglich, dass ein Sklavenhändler aus Karmand Sklaven verkaufte, die von einer Insel jenseits aller Vorstellungskraft stammten?

Sáriel pflückte nun ein Blatt von der Pflanze, die vor dem Fenster wuchs und legte dieses Blatt neben die Insel. Sie schob es solange hin und her bis Gorwan verstehend nickte. Die Leute von Númenor waren Seefahrer, aber aus irgendeinem Grund fuhren sie nie nach Westen, dorthin wo die geheimnisvolle Küstenlinie angedeutet war. Dann begann Sáriel mit einer Pantomime, die Gorwan erraten liess, was geschehen war. Offensichtlich war es im Volk auf der Insel zu Meinungsverschiedenheiten gekommen und schliesslich waren einige trotz des Verbots nach Westen gefahren. Sáriel nahm erneut den Stift zur Hand und malte mit heftigen Bewegungen Wellenlinien über die Insel, bis man sie nicht mehr erkennen konnte. Dann schob sie das Blatt mit wilden Bewegungen nach Osten und liess es an der Küste stranden.

Am Abend hatte Gorwan die Geschichte Sáriels mehr oder weniger verstanden. Sie stammte demnach von der Insel Númenor, die im Meer versunken war, weil die Leute ihres Volkes gegen ein mächtiges Gesetz verstossen hatten, das ihnen verbot, in den Westen zu segeln. Sáriel war mit einigen anderen an die Küste des Kontinentes getrieben worden, auf dem auch Farad lag. Von dort hatten sie sich nach Osten bewegt, in der Hoffnung eine Stadt zu erreichen, die Sáriel auf der Karte markiert hatte. Doch kurz vor der Stadt waren sie und ein paar andere gefangen genommen worden und auf Umwegen nach Karmand gelangt, wo sie der Sklavenhändler gekauft hatte.

Sáriel blieb unter der Obhut des Königs und lernte rasch die Sprache des Landes. Ein Jahr später nahm er sie zur Frau. Sie erfuhr nie, was aus dem Sklavenhändler geworden war, der sie hergebracht hatte, aber niemand im ganzen Land durfte jemals wieder erwähnen, dass sie als Sklavin nach Farad gekommen war. Adrahil und Zimrâphel, die anderen Überlebenden arbeiteten als Bedienstete Sáriels, wie sie es bereits früher auf Númenor getan hatten.

Im nächsten Frühling gebar Sáriel einen Sohn, der auf den Namen Astard getauft wurde. Doch die Geburt war schwierig und Sáriel war danach sehr geschwächt. So starb sie zwei Jahre nach ihrem Vater und ihrem Bruder auch am schwarzen Fieber, das der Westwind mit sich führte. Und wie Sáriel es einst für ihre Angehörigen getan hatte, fing nun auch der König eine Taube ein und band ihr eine Strähne von Sáriels Haar ans Bein. Dann warf er die Taube in die Luft und befahl ihr, nach Westen zu fliegen, wohin Sáriel nun nie mehr zurückkehren würde. König Gorwan wusste, dass der Vogel ihm nicht gehorchen würde, denn im Gegensatz zu Sáriel beherrschte er die Gabe nicht, Tiere mit Gedankenkraft zu sich zu rufen und mit ihnen zu sprechen. Wie viele Dinge war auch das etwas, was Sáriel ihm nicht hatte beibringen können, sosehr sie sich auch bemüht hatte. Mit Sáriel ging Farad viel Wissen über den Westen verloren, denn Adrahil und Zimrâphel sprachen nie über ihre Vergangenheit und passten sich dem Leben in Farad so sehr an, dass man mit der Zeit vergass, woher sie einst gekommen waren. König Gorwan heiratete kurz darauf eine junge Frau aus Karmand. Zum einen wollte das Volk eine Königin, zum anderen war diese Hochzeit gut für die Aussenpolitik. Diese zweite Ehefrau schenkte dem König einen weiteren Sohn, Berendall, der fünf Jahre nach Astard zur Welt kam.

Vom Tode Gorwans und der Verbannung der Astarden

Die Jahre vergingen, und König Gorwan, der Gerechte, regierte sein Land mit grosser Weisheit und in Frieden. Astard war inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt und einer der besten Ritter des Heeres, während der zwanzigjährige Berendall sich im königlichen Rat bewährt hatte. Als Gorwan spürte, dass es an der Zeit war, den Thron abzugeben, kam es zu Streitigkeiten, was die Thronfolge betraf. Seit mehr als fünfhundert Jahren war dies nicht mehr vorgekommen, und das beunruhigte sowohl den hohen Rat wie auch das Volk. Obschon dem Gesetz zufolge der Erstgeborene zum neuen König bestimmt gewesen wäre, fragte man sich, ob Astard auch wirklich den Thron besteigen würde. König Gorwan hätte es nämlich vorgezogen, wenn Berendall seine Nachfolge angetreten hätte. In all den Jahren seit Sáriels Tod war Gorwan seinem Ältesten ausgewichen, da ihn der Junge so stark an seine Mutter erinnerte und es ihn schmerzte zu sehen, wie er ihr von Jahr zu Jahr mehr ähnelte. Berendall dagegen war ihm selbst immer ähnlicher geworden und dadurch ans Herz gewachsen. Der König war sich sicher, dass sein jüngerer Sohn das Land in seinem Sinne regieren würde, während Astard ein Fremder für ihn war, den er sich auf dem Thron nicht vorstellen konnte.

Doch wie konnte ein König die Thronfolge ändern ohne dabei das Gesetz zu brechen? Nächtelang sass Gorwan schlaflos in seiner Kammer und zerbrach sich den Kopf darüber, wie er Berendall die Königswürde überlassen könne, ohne dass Astard dabei zu Schaden käme. Um nichts in der Welt hätte er gewollt, dass Astard ein Leid geschah, denn wenn er ihn auch nicht lieben konnte wie einen Sohn, so achtete er ihn doch als ein wertvolles Mitglied des Königshauses und wusste, dass er ihm ein grosses Unrecht antat, wenn er ihn um sein Erbe brachte. Und so suchte König Gorwan, der Gerechte, der stolz auf seinen Beinamen war, vergeblich nach einer Möglichkeit, Astard bei der Thronfolge zu überspringen ohne ihm dabei zu schaden.

Schliesslich griff Gorwan zu einem verzweifelten Mittel, um Berendall zum König zu machen. An einem kühlen Herbstabend zog sich Gorwan in seine Gemächer zurück, rief seine beiden Söhne zu sich und befahl seiner Leibwache vor der Türe zu warten. Als Astard und Berendall vor ihm standen, betrachtete sie der König noch ein letztes Mal. Astard, hochgewachsen und schlank, war der geborene Krieger. Er war gerade vom Kampfplatz gekommen und trug immer noch seine verschrammte Lederrüstung. Sein langes Haar hatte er mit einem Lederstreifen zusammengebunden und Schweissperlen glitzerten auf seiner Stirn. Astard trat unruhig von einem Fuss auf den anderen – er hielt sich nicht gern in den Räumen des Palastes auf, sondern zog es vor, von früh bis spät mit den Soldaten zu arbeiten und bei der Ausbildung der Knappen mitzuhelfen.

Berendall war etwas kleiner und stämmiger. Im Gegensatz zu seinem Bruder war er in edle Gewänder gekleidet und hatte sein Haar auf jene kunstvolle Weise geflochten, wie es nur Prinzen tun durften. Auch er verbrachte viel Zeit mit den Soldaten und war seinem Bruder an Kraft und Geschicklichkeit beinahe ebenbürtig, doch Berendall wusste immer genau, was sich für einen Prinzen geziemte und hielt sich stets an die Regeln und Gebote des Hofes.

Die beiden Söhne warteten bis der König sich erhob und vor sie hintrat. Er legte beiden eine Hand auf die Schulter und sah ihnen nacheinander tief in die Augen. Dann begann er zu sprechen, und obwohl er in letzter Zeit durch sein hohes Alter viel an Kraft eingebüsst hatte, klang in seiner Stimme noch einmal die ganze Macht und Würde eines Königs mit.

„Meine Söhne, es ist an der Zeit, dass ich meinen Thron abgebe, denn der Winter wird hart und die Völker im Osten gieren nach unseren berstend vollen Getreidelagern und den südlichen Ebenen, wo die Kälte erträglicher ist. Ich habe nicht mehr die Kraft, lange, zähe Verhandlungen zu führen, und noch weniger, mit meinem Heer in den Krieg zu ziehen. Deshalb habe ich euch hierher gerufen, um meine Krone abzugeben."

Astard zuckte zusammen, während Berendall erbleichte. Beide hatten sie gewusst, dass es eines Tages soweit kommen würde, doch sie hatten gehofft, dass es noch lange hin sei, bis der König Astard krönen würde. Astard fühlte, wie sein Herz rasend klopfte und eiskalte Schauer über seinen Rücken liefen. Er fürchtete sich in der Schlacht vor keinem Gegner und auf der Jagd vor keinem wilden Tier, aber der Gedanke, die Verantwortung für ein ganzes Land zu haben flösste ihm Angst ein. Er hatte nicht viel Erfahrung im Umgang mit Abgesandten aus anderen Ländern, da er die Sitzungen des grossen Rates gemieden hatte, wann immer es ihm möglich gewesen war. Dabei hatte er sich immer gesagt, er könne noch früh genug damit anfangen, sich dem Studium der Diplomatie zu widmen. Astard wusste, dass er noch nicht soweit war, die Krone zu tragen – besonders nicht dann, wenn wichtige Verhandlungen mit den kriegerischen Valdograd im Osten bevorstanden. Berendall dagegen fühlte Bitterkeit in sich aufsteigen. Bisher hatte er sich um die Pflichten und Ämter des Kronprinzen gekümmert und hatte sich im geheimen oft gewünscht, dass er eines Tages die Krone tragen könnte. Sein Bruder wäre damit einverstanden gewesen, das wusste Berendall, denn sie hatten oft genug miteinander darüber gesprochen. Doch die letzte Entscheidung lag beim König, und Berendall wusste, dass Gorwan, der Gerechte niemals mit der Tradition brechen würde. Astard hatte das Recht auf den Thron und er würde ihn bekommen, ob er wollte oder nicht.

Der König hatte das Erschrecken Berendalls bemerkt; da er jedoch erwartete, dass Astard sich darauf freute, König zu werden, fiel ihm nicht auf, dass dieser auch voller Furcht war. Hätte er es gesehen, so wäre viel Leid verhindert worden, denn Gorwan, der Gerechte hätte nicht gezögert, Berendall zum Thronfolger zu ernennen, wenn er nicht gefürchtet hätte, dass Astard sich daraufhin an Berendall rächen würde. Doch Gorwan sah nur noch Berendall, seinen Lieblingssohn vor sich und besiegelte somit das Schicksal seines Volkes.

„Nun, meine Söhne, wird es Zeit dem Schicksal ins Auge zu blicken. Gorwan, der Gerechte wurde ich Zeit meiner Regentschaft genannt, und es tut mir weh, dass ich mit einer letzten ungerechten Tat aus dem Leben scheiden muss. Doch für mich war immer Berendall der Thronfolger, und ich werde nun dafür sorgen, dass er der neue König wird. Es tut mir leid, Astard, mein Sohn."

Mit diesen Worten zog König Gorwan einen Dolch aus seinem Gürtel und stiess in sich heftig in die Brust.

Zusammenbrechend schrie er, „Astard, mein Sohn, was hast du getan! Du hättest König sein können!"

Als die Wachen hereinstürmten, sahen sie, wie Astard den König langsam zu Boden gleiten liess. Er hatte Gorwan aufgefangen, als dieser gegen ihn stürzte, aber die Wachen, sahen nur Astards blutbeflecktes Lederwams und den Dolch in der Brust des Königs und stürzten sich mit gezogenen Schwertern auf ihn.

„Halt! Haltet ein, Wachen!"

Berendalls Stimme hallte so klar und durchdringend durch den Saal, dass die Soldaten in der Bewegung erstarrten. Der jüngere Sohn des Königs war totenblass, aber wie er so dastand, die Hand Einhalt gebietend erhoben, strahlte er eine solche Macht aus, das niemand sich ihm zu widersetzen wagte.

„Senkt eure Schwerter, Wachen, und hört, was ich zu sagen habe."

Die Soldaten packten Astard, der sich nicht im Geringsten widersetzte auf beiden Seiten und zerrten ihn vor seinen Bruder. Einen Moment lang trafen sich die Blicke der Geschwister und Berendall las das Einverständnis in den Augen Astards. Niemand würde glauben, dass der König sich selbst umgebracht hatte, selbst nicht, wenn beide Prinzen dies behaupteten. Ein Schatten eines Zweifels würde immer bestehen bleiben. Wenn Astard König würde, bliebe stets ein gewisses Misstrauen, und bei den bevorstehenden Schwierigkeiten brauchte Farad einen König, dem das Volk blindlings gehorchte. Berendall nahm all seine Kraft zusammen und sagte, was er sagen musste.

„Führt ihn ab. Astard hat sich des Königsmordes schuldig gemacht und wird dafür büssen müssen."

Eine Woche später wurde Berendall zum König gekrönt. Das Volk jubelte und lag seinem neuen König zu Füssen. Niemand hatte dagegengesprochen, dass Berendall den Thron übernahm und die Räte schienen froh darüber zu sein, dass nicht Astard der neue König war. Doch Berendall wusste, dass auch Astard seine Anhänger hatte, und dass es zu Unruhen kommen konnte, wenn Astard behaupten sollte, er habe König Gorwan nicht getötet. Bis dahin schien Astard zwar einverstanden damit, dass Berendall König wurde, aber auf Königsmord stand die Todesstrafe und Berendall wusste nicht, ob Astard nicht plötzlich die Wahrheit sagen würde, wenn er ihn zum Tod verurteilte. In der Nacht, bevor Berendall sein Urteil über Astard sprechen sollte, stand der König schlaflos am Fenster und sah auf das Gefängnis hinab, wo sein Bruder im Kerker sass. Er hatte dafür gesorgt, dass man Astard mit Respekt behandelte – immerhin war er ein Prinz, aber Kerker blieb Kerker und bisher hatte sich für Berendall keine Möglichkeit geboten, mit seinem Bruder zu sprechen. Auch die Spannungen zwischen Farad und Valdograd hatten sich als schwerwiegender erwiesen, als der junge König erwartet hatte, und so wartete er schlaflos auf das Morgengrauen und das Verblassen der Sterne ohne zu ahnen, dass auch Astard durch ein kleines, vergittertes Fenster zum Himmel blickte und wartete.

Und plötzlich kam Berendall der rettende Gedanke. Er setzte sich hin und begann Pläne zu schmieden, bis er abgeholt und zum Gericht gebracht wurde. Zur Gerichtsverhandlung, die bei Sonnenaufgang begann, kam der König guten Mutes, denn er hatte eine Lösung gefunden, die für Astard die bestmöglichste war, aber auch für ihn selber grosse Vorteile in wohl unvermeidlichen Kriegen mit Valdograd bringen würde.

Die Ratshalle war berstend voll. Rechts und links vom Thron sassen die Edlen des Landes. In prunkvolle Gewänder gekleidet und von eifrigen Dienern umgeben, warteten sie auf das Urteil.

Anschliessend an die Edlen sassen die Ratsherren, die mit zwiegespaltenen Gefühlen des Kommenden harrten. Im Gegensatz zu den Edlen war für sie eine Hinrichtung nicht ein interessanter Zeitvertreib, sondern es war ein Rückschritt für das Land. Seit mehr als dreihundert Jahren war in Farad niemand mehr zum Tod verurteilt worden und die Ratsherren waren entsetzt, dass nach all dieser Zeit ausgerechnet der ehemalige Kronprinz hingerichtet werden musste.

Die Hauptleute der Soldaten, die anschliessend an die Ratsherren in der Halle standen, waren fast ausnahmslos auf Astards Seite. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ihr Kronprinz seinen Vater getötet hatte und sie misstrauten Berendall, der ihnen im Gegensatz zu seinem Bruder immer deutlich gezeigt hatte, dass er über ihnen stand.

Im hinteren Teil des Gerichtssaals befand sich das gemeine Volk. Die wenigsten hier wussten genau, worum es eigentlich ging. Man wollte einfach den neuen König und den ehemaligen Kronprinzen sehen, und hören, was der König zu sagen hatte.

Berendall sass schlussendlich recht gut gelaunt auf seinem Thron. Unter den schlechtmöglichsten Umständen hatte er eine passable Lösung für sein Dilemma gefunden und er fand, dass dies ein recht guter Anfang für sein Königtum wäre. Als man allerdings Astard vor den Thron führte, verging dem König seine gute Laune augenblicklich. Astard konnte sich nicht alleine auf den Beinen halten; zwei Soldaten

stützten ihn auf beiden Seiten. Er trug immer noch seine blutbefleckte Lederrüstung und sein Haar hing ihm wild ins Gesicht. Als er den Kopf hob und Berendall ins Gesicht blickte, las dieser den unerbittlichen Hass in seinen Augen und wusste, dass er seinen Bruder für immer verloren hatte. Offenbar hatte man Berendalls Befehle missachtet und Astard gefoltert. Dieser nahm jedoch an, er sei auf Geheiss des Königs so schlecht behandelt worden und hielt Berendall für einen Verräter. Tragischerweise bemerkte auch hier niemand das Missverständnis und so wurde das Schicksal der beiden Brüder endgültig besiegelt.

Als er Astards eiskalte Wut spürte, zögerte Berendall für einen Augenblick, ob er seinen Bruder nicht doch hinrichten lassen solle, anstatt sich einen neuen Feind zu schaffen. Dann jedoch beschloss er, dass er es Astard schuldig sei, ihm das Leben zu schenken und er hielt an seinem alten Plan fest.

Der König erhob sich und mit ihm das ganze Volk. Mit fester Stimme verkündete Berendall nun das Urteil.

„Astard, Sohn des Königs Gorwan von Farad! Du bist schuldig, deinen Vater erstochen zu haben, als dieser ankündigte, er wolle dir den Thron nicht überlassen."

Im Saal wurde eifrig getuschelt. König Gorwan hatte die Thronfolge ändern wollen? In Astards Blick war Verwirrung zu lesen. Berendall hätte nichts dergleichen zu sagen brauchen, um ihn hinrichten zu lassen. So säte er nur Zweifel, ob er zu Recht König geworden war. Doch als wieder Ruhe einkehrte, fuhr Berendall fort.

„Auf Königsmord steht die Todesstrafe, so steht es im Gesetz. Doch in diesem Fall erlaube ich mir, ein anderes Urteil zu sprechen. Es steht einem König nicht zu, die Thronfolge nach seinem Belieben zu ändern und du, Astard, hast das Recht auf die Königswürde. Hättest du Gorwan nicht getötet, so könntest du schon heute König sein. Doch Mord bleibt Mord und ich muss Recht über dich sprechen. Und so beschliesse ich, dass du, Astard, der du zum Mörder wurdest, weil der König ein Gesetz brach, eine gerechte Strafe erhalten sollst, indem wieder ein König ein Gesetz bricht. Ich werde dich nicht zum Tode verurteilen, Astard, Sohn von Gorwan."

Ein Raunen ging durch den Saal und Berendall sah hauptsächlich Erleichterung in den Gesichtern in der Menge. Astard dagegen schien nicht zu verstehen, was um ihn her geschah. Eine Woche lang war er im Kerker aufs Schlimmste misshandelt worden, und er war überzeugt gewesen, dass sein Bruder die Lage schamlos ausgenützt hatte. Er war in der Gewissheit vor den König getreten, dass er diesen Abend nicht mehr erleben würde, und nun verzichtete Berendall auf die Todesstrafe. Die Spannung stieg ins Unermessliche, als der König fortfuhr.

„Schuldig bist du, Astard, und ich kann keinen Königsmörder unter meinem Dach dulden. Deshalb spreche ich hiermit das Urteil: Du Astard, Sohn von Gorwan wirst aus dem Lande Farad verbannt bis ans Ende deines Lebens. Du sollst über die Grenzen hinaus nach Westen ziehen, und nie wieder zurückkehren. Es sei dir jedoch gestattet, alles Land westlich der Grenzen Farads dein eigen zu nennen."

Dann erhob der König seine Stimme, so dass sie die Unruhe im Saal übertönte, die während dem Urteilsspruch aufgebrandet war.

„Wer immer dir in die Verbannung folgen will, Astard, dem sei dies gestattet. Er muss jedoch wissen, dass auch ihm für die nächsten zwanzig Jahre die Rückkehr nach Farad verwehrt sein wird. So lautet mein Urteil, Astard, Sohn von Gorwan, dem Gerechten."

Und so zog Astard zwei Tage später hinaus in die Felswüste Jira. Ihm folgten zweitausend Soldaten, Bauern und Stadtbewohner. Berendalls ursprünglicher Plan war gewesen, dass Astard sich auf dem schmalen Landstrich ansiedeln würde, der zwischen Farad und der Wüste lag, und auf dem bis dahin nur Nomaden gelebt hatten. Somit wäre Farad im Falle eines Krieges von der westlichen Seite her geschützt gewesen. Als er dann jedoch den Hass in den Augen seines Bruders gesehen hatte, hatte der König befürchtet, mit ihm im Westen sei Farad von Feinden umzingelt. Da viele Soldaten auf Astards Seite waren, wäre selbst eine kleine Streitmacht unter der Führung des ehemaligen Kronprinzen ein ernstzunehmender Gegner gewesen.

Als Astard das Urteil vernommen hatte, durchschaute er den Plan seines Bruders und sah sehr wohl, dass das Schicksal Farads davon abhing, ob er sich mit Berendall verbünden oder sich gegen ihn stellen würde. Astard war Krieger und nicht Diplomat, und es lag ihm nichts daran, mit Valdograd zu verhandeln, um zusammen mit ihm in den Krieg gegen Farad zu ziehen. Er war aber auch nicht daran interessiert Berendall zu unterstützen, der ihn um den Thron gebracht und verbannt hatte. Und so beschloss Astard, den schmalen grünen Landstrich westlich Farads, der ihm zugedacht war, hinter sich zu lassen und weiter in den Westen zu ziehen. Ein langer und gefährlicher Weg lag vor ihm und seinen Getreuen, denn die Felswüste war seit Ewigkeiten nicht durchquert worden und niemand wusste, was sich auf der anderen Seite befand.

Das Volk der Astarden und die Gründung Amaronds

Die Astarden, wie sie sich nun nannten, erreichten nach vielen Tagen und Nächten unter erheblichen Verlusten den westlichen Rand der Wüste. Hitze am Tag, Kälte in der Nacht, Hunger und vor allem Durst hatten sie so ausgezehrt, dass sie sich mit letzter Kraft zu einer Hügelkette schleppten, welche mit kärglichem Grün bewachsen zu sein schien. Ein armseliger Haufen war es, der schliesslich auf einem der Hügel innehielt. Von den Ausgezogenen war nur etwa die Hälfte übrig geblieben. Einige waren in den ersten Tagen der Flucht umgekehrt, aber die meisten waren in der Wüste umgekommen. Bei der Durchquerung der Jira hatten sie auch fast alle Tiere verloren. Nur eine Handvoll Rinder, wenige Reitkamele, einige Schafe und ein paar Ziegen hatten die Reise überlebt. Der Blick nach Westen war atemberaubend. Es war Abend und die Sonne stand schon tief und tauchte die vor ihnen liegende Ebene in goldenes Licht. Astard und sein Volk sahen weite Steppen und riesige Wälder und erst weit, weit am Horizont eine bläuliche Bergkette. Das Land war nicht so grün wie Farad, aber nach den Strapazen der Felswüste hätten sich die Verbannten nichts Schöneres vorstellen können.

Als sie das Ende der Hügelkette erreicht hatten und sich an den Abstieg machten, bemerkten diejenigen unter ihnen, die die schärfsten Augen hatten, dass grosse Herden über die Steppe zogen.

Es gab hier einige Nomadenstämme, die die Astarden mit einem kehligen Dialekt willkommen hiessen. Von ihnen erfuhren sie, dass man diese Ebene Rhûn oder Amrún nannte. Früher waren manchmal Reisende über die Berge gekommen und hatten auf der Ebene gejagt, und von ihnen hatte man den Namen Amrún übernommen. Doch seit sich der Himmel im Westen verdunkelt hatte und der Wind das schwarze Fieber mit sich brachte, kamen keine Reisenden mehr. Auch die Nomaden wagten es nicht mehr, sich den Bergen zu nähern. Am Rande der Wüste fristeten sie ihr Dasein und freuten sich über jeden Sommer, in dem die Seuche nicht ausbrach, die ihre Familien und ihre Herden dahinraffte.

Jahre vergingen, und die Astarden bauten Dörfer und Städte. Sie lernten von den Nomaden viel über ihre neue Heimat und brachten ihnen bei, was sie selber wussten. Die beiden Völker vermischten sich und wurden eins. Aus Amrún wurde das Land Amarond, das sich bald einmal vom Wintergebirge im Norden bis zum Meer hin erstreckte, von der Felswüste Jira, bis hin zum lang gezogenen Wall des Gondramgebirges. Amarond baute übers Meer Handelsbeziehungen mit Karmand auf, und über schmale Bergpfade wurde Kontakt mit den Tarvik aufgenommen, die sich im Lauf der Jahrhunderte auch nach Westen hin ausgebreitet hatten. Die Wolfssteppen waren karg und die Tarvik waren gerne bereit, Eisen gegen Getreide zu tauschen. Die gewaltigste Arbeit, die die Menschen von Amarond jedoch vollbrachten, war der Bau der Strasse durch die Wüste. Mit unendlicher Geduld hackten sie Brunnen in den Felsboden, schafften Pflanzen und Erde in die Wüste, und bauten schliesslich eine breite gepflasterte Strasse, die sich Meile um Meile durch die Wüste hinzog, bis an die Grenzen von Farad. Alle zehn Meilen schuf man eine Oase, wo sich der Reisende erfrischen konnte. Es war eine gewaltige Aufgabe, aber die Menschen von Amarond vollendeten sie und alle Menschen im Osten bewunderten den Mut und die Zähigkeit der ehemaligen Astarden.