Disclaimer:Und weiterhin gehörenalle bekannten Orte und Personen Tolkien.

Die Bestrafung

Das ganze Dorf war um die Schmiede versammelt, und Araym sah das Feuer in der Esse lodern. Noch steckten drei Schwerter in der Öffnung und Araym sah den blaugolden verzierten Griff seiner eigenen Waffe. Er erinnerte sich noch an den Tag, als Layar sie ihm überreicht hatte. Damals war er noch ein Kind gewesen, elf, zwölf Jahre alt, vielleicht. Er hatte die Patrouillen begleiten dürfen, um zu lernen. An jenem Tag hatte er weitab vom Pfad, mitten in den Felsen, einen Raubvogel gesehen, der sich seltsam verhalten hatte, so als ob er von seinem Horst aufgescheucht worden wäre. Er war auf eine Düne geklettert und hatte zu den Felsen hingeblickt, wo er dann auch tatsächlich eine Gruppe von Menschen und Packtieren entdeckt hatte. Sie versuchten offenbar, dem Lauf eines Bachs hinauf in die Berge zu folgen, um die bewachten Pfade zu vermeiden. Araym hatte die Krieger auf die Gruppe aufmerksam gemacht und war Zeuge eines grausamen Massakers geworden. Die anderen waren Soldaten, und sie waren auf einen Angriff gefasst gewesen. Sie verteidigten sich verbissen, und versuchten offensichtlich zweien von ihnen den Weg freizuhalten. Diese beiden beteiligten sich nicht am Kampf, sondern flohen bergauf. Einen von ihnen streckte Ajuur mit einem Pfeil nieder, dem anderen gelang die Flucht.

Am selben Abend hatte Layar Araym zu sich gerufen und hatte ihn zum Krieger ernannt. Er habe die Gruppe entdeckt, so dass man sie habe aufhalten können; dies sei die Tat eines Kriegers, und sie müsse gewürdigt werden. Von heute an dürfe er die Waffe eines Kriegers tragen. Layar hatte Araym das Schwert gegeben, das der Mann bei sich hatte, den Ajuur bei seinem Fluchtversuch erschossen hatte. Es war in ein Tuch eingeschlagen gewesen und war offenbar als Handelsware oder als Geschenk für jemanden jenseits der Berge gedacht gewesen. Die Waffe war zu klein für einen Mann, aber sie war auch nicht für die Hände einer Frau gedacht. Es schien viel eher das Schwert eines Kindes oder eines Jugendlichen zu sein, trotzdem war es mitnichten ein Spielzeug. Die Klinge war äusserst kunstvoll angefertigt und sehr scharf. Ausserdem war die Waffe perfekt ausbalanciert und liess sich mit Leichtigkeit führen. Die reichen Verzierungen am Griff waren aus dem blauen Stein aus den Schwefelsümpfen des fernen Valdograd geschnitzt und von Goldfiligran umgeben. Der Schwertknauf hatte die Form einer sich aufbäumenden Sandkatze, dem Zeichen von Farad.

Dieses Schwert steckte nun im Schmiedefeuer und wartete darauf, seinem Herrn die Augen auszubrennen. Die frische Luft ausserhalb der Feste traf Araym wie ein Keulenschlag. Mit einem Mal fühlte er die Wirkung des Kräutertranks in solchem Mass, dass er beinahe zusammengebrochen wäre. Wie durch einen zähen Nebel kämpfte er sich zu dem Pfosten hin, den man vor der Schmiede in den Boden gerammt hatte. Er fühlte, dass man ihn an dem Pfosten festband, mit Blick gegen die Dorfbewohner. Alle waren anwesend, Frauen und Kinder, Krieger und Greise. Alle starrten sie auf ihn, wie er nun alleine mitten auf dem Richtplatz stand. Wäre der Pfosten nicht gewesen, der ihn stützte, Araym wäre zusammengebrochen. Alle Kraft war aus seinen Beinen gewichen und er konnte nicht mehr klar denken. Er wünschte sich, er hätte den Kräutertrank abgelehnt, aber es war zu spät.

Layar trat vor ihn hin und sah ihn an. Araym erwiderte den Blick ohne zu blinzeln, aber um ihn herum verschwamm alles ausser Layars dunklen Augen zu einem bunten Wirbel ohne Sinn und Zweck.

„Araym Ordis, du weißt, weshalb du heute hier vor mir stehst?"

Es erstaunte Araym, dass Layar ihn als Ordis angesprochen hatte. Die Südwinde hatten zwei Namen: Ihren eigenen und denjenigen ihrer Truppe. Auch wenn Araym immer mit Ajuurs Leuten unterwegs gewesen war, so hatte er doch nicht richtig zu ihnen gehört. Krieger wurden erst einer Truppe zugeteilt, wenn sie zwanzig Jahre alt waren, und auch wenn Araym sein genaues Alter nicht kannte, konnte man ihn doch höchstens auf siebzehn oder achtzehn Jahre schätzen.

Doch dass Layar ihn jetzt Ajuurs Einheit zugeordnet hatte, erfreute ihn. Auch wenn er nie mehr mit den Ordis in die Wüste würde ziehen können, so war er doch für einen kurzen Moment ein Ordis gewesen. Araym versuchte so sicher zu antworten wie Ajuur zuvor, aber seine Stimme klang wie das Krächzen eines Felsengeiers.

„Ja, Kommandant."

„Vor drei Tagen warst du mit deiner Truppe draussen, um den nördlichen Hirtenpfad zu bewachen. Dabei ist euch ein Mann entkommen, der auf dem Weg ins Tal war. Sag mir, Araym, wieso habt ihr den Reisenden so spät gesehen?"

Araym sah ihn vor sich, wie er sich im Schatten der Felswände bewegt hatte. Er war dem Lauf des Kanar gefolgt, der sich eine tiefe Schlucht in den weichen Sandstein gefressen hatte. Sein Pferd war dicht hinter ihm hergegangen und hatte sich auch immer im Schatten bewegt. Er hätte die beiden nicht gesehen, wenn sie nicht Kiesel losgetreten hätten, die in den Kanar gefallen waren. Der Fluss war an dieser Stelle ziemlich ruhig, und Araym hatte durch das Plätschern aufgeschreckt die kreisförmigen Wellen gesehen, die sich auf dem Wasser ausgebreitet hatten. Auf der Suche nach der Ursache für die losgelösten Kiesel hatte er dann den Fremden mit dem Pferd entdeckt.

„Der Mann war nicht auf dem Weg, Kommandant. Er folgte dem Lauf des Kanar und hielt sich im Schatten der Felswände verborgen."

Araym fühlte seltsamerweise, dass er sich beruhigte. Nun, da das Verhör begonnen hatte, fiel es ihm leicht, Layars Fragen zu beantworten. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung für ihn – schliesslich war tatsächlich er es gewesen, der den Mann entdeckt hatte.

„Und wer hat den Mann schliesslich entdeckt?"

Als hätte Layar Arayms Gedanken gelesen, stellte er die Frage just in dem Moment, als es Araym gedacht hatte.

„Das war ich, Kommandant."

Layar nickte.

„Und was geschah dann, Junge?"

„Ich versuchte die anderen auf ihn aufmerksam zu machen."

„Und?"

„Da er sich so dicht an die Felswände hielt, konnten sie ihn nicht sehen. Ich versuchte ihnen zu beschreiben, wo er sich aufhielt, aber es war unmöglich – hätte ich ihn nicht im Schatten verschwinden sehen und daher gewusst, wo er war, ich hätte ihn auch nicht entdecken können."

Layar nickte ihm zu.

„Ajuur Ordis hat deine scharfen Augen schön öfter gelobt. Du bist ein guter Späher, Araym."

Araym horchte auf. Layar hatte in der Gegenwart gesprochen, und nicht in der Vergangenheit. Sollte das heissen, dass er sein Augenlicht behalten durfte? Würde er weiterhin ein Späher sein? Weshalb war er dann aber hier angebunden? Und warum steckte sein Schwert in der Esse? Nein, es war besser, sich keine Hoffnungen zu machen, aber trotzdem fühlte Araym wie etwas von der Furcht von ihm abfiel.

Layar fuhr fort.

„Die anderen haben ihn also nicht gesehen. Wie ging es weiter?"

Araym seufzte. Nun kam der unangenehme Teil der Geschichte.

„Ajuur befahl mir, auf ihn zu schiessen."

„Und du hast geschossen?"

„Ich habe ihn verfehlt."

Nun war es gesagt, und Araym wartete bang auf die Reaktion des Kommandanten.

„Wie viele Pfeile hast du verschossen, Araym Ordis?"

„Fünf oder sechs, ich weiss es nicht genau."

„Und wie viele davon haben getroffen?"

Araym fühlte, wie er errötete. „Einer davon hat sein Pferd verletzt. Die anderen verfehlten ihr Ziel. Er hat zurückgeschossen und Ahlan verwundet; dann ist er in den Fluss gesprungen und sein Pferd ist davongerannt."

Layar runzelte die Stirn.

„Wie weit war der Mann entfernt?"

„Etwa 160 Fuss, Kommandant."

„Das ist nicht sehr weit, Araym Ordis. Es ist sogar näher als die Ziele, die wir zum Üben verwenden."

Arayms Gesicht brannte wie Feuer. Er war kein guter Bogenschütze, aber er wusste, dass selbst er den Mann hätte treffen sollen. Layar trat vor Araym hin und blickte ihm starr in die Augen.

„Der Fremde ist entkommen. Du kennst das Gesetz, Araym Ordis?"

„Ja, Kommandant!"

„Ich höre, Araym Ordis!"

Nun war es also soweit. Arayms Herz klopfte rasend schnell und alle Hoffnungen, die er während des Verhörs gehegt hatte, schwanden dahin. Er atmete tief ein und wiederholte dann die Worte, die vor ihm schon Ajuur gesagt hatte.

„Wer einem Reisenden ermöglicht, die Berge zu überqueren und das Tal zu erreichen, muss bestraft werden, es sei denn, dieser hätte vom fünften Wind die Erlaubnis erhalten, den Pass zu begehen. Wer nicht gesehen hat, soll nie wieder sehen können. So soll jener, der den Reisenden nicht rechtzeitig erblickt hat, sein Augenlicht verlieren, indem er mit einer glühenden Klinge gebrandmarkt wird."

Nun würde es geschehen! Jeden Moment würde die Klinge auf sein Gesicht niedersinken und ihn verbrennen. Araym hielt die Luft an und wartete, aber nicht geschah. Layar nickte langsam.

„Das ist richtig, aber es gibt ein Problem. Du hast den Fremden gesehen. Du hast ihn nicht einmal zu spät gesehen, sondern früh genug, dass man ihn noch hätte aufhalten können. Wir haben lange beraten und sind zum Schluss gekommen, dass es nicht richtig wäre, dich zu blenden."

Er würde sehen können! Man verschonte ihn! Araym kam sich vor wie in einem Traum. Die ganze Nacht voller Angst, der Kräutertrank gegen die Schmerzen, das glühende Schwert in der Esse, das alles war Strafe genug für ihn gewesen. Er schwor sich, dass er von nun an jeden Tag üben würde, mit dem Bogen zu schiessen. Jeden Morgen würde er bei Sonnenaufgang zum Schiessplatz gehen und so lange schiessen, bis er jedes Ziel traf. Sie würden schon sehen, dass er nicht so ungeschickt war, wie sie immer höhnten.

Doch Layar war mit seiner Rede noch nicht am Ende.

„Wir haben also beschlossen, dass wir die Strafe den Gegebenheiten anpassen müssen. Von heute an gilt bei den Südwinden eine neue Regel: Wer nicht getroffen hat, soll nie wieder treffen können. So soll jener, der den Reisenden mehrfach und durch reine Ungeschicklichkeit verfehlt hat, nie wieder in der Lage sein, einen Bogen zu spannen."

Kaum waren die Worte ausgesprochen, als Araym auch schon fühlte, wie seine Handfesseln gelöst wurden. Doch augenblicklich packten zwei Krieger seine Arme und bogen sie nach vorne, bis sie vor seinem Körper ausgestreckt waren. Araym bemerkte, dass die Krieger dicke Lederhandschuhe trugen. Ein Holzgestell wurde herbeigebracht und Arayms Hände wurden mit den Handflächen nach oben daran festgebunden. Dann bogen die zwei Krieger Finger über die Kante des Gestells nach hinten, und für einen Moment hatte Araym Angst, sie würden sie ihm brechen. Wenn es nur das gewesen wäre!

Layar selbst war es, der mit Arayms Schwert vor ihn hintrat. Die Klinge glühte hell, als er sie auf Arayms Hände legte. Nach einem kurzen Zögern schlossen die Krieger seine Finger um das heisse Eisen und hielten ihn mit ihren Handschuhen fest. Der Schmerz war unvorstellbar. Araym schrie gepeinigt auf, doch als die Folter andauerte, verlor er gnädigerweise das Bewusstsein.