Disclaimer: Immer noch gehören alle bekannten Personen und Orte Tolkien.
Eine ungewöhnliche Begegnung
Die Sonne stand tief über dem Gondramgebirge und die Bäume und Felsen in der Ebene warfen lange Schatten. Das war dem Mann, der am Waldrand hinter einem Gebüsch kauerte, nur recht. Während er im Halbschatten zwischen den Bäumen vor Blicken geschützt war, lag die Wiese vor ihm noch im goldenen Licht der untergehenden Sonne. Der Mann beobachtete aufmerksam ein Kaninchen, das sich aus seinem Loch gewagt hatte und nun mitten auf der Wiese sass und an Grashalmen herumknabberte. Eigentlich hatte er keine Zeit zu rasten, aber seit Tagen hatte er nichts mehr gegessen und sein ausgezehrter Körper verlangte jetzt dringend nach Nahrung. Selbst er, der unter seinem Volk als ausgesprochen zäh galt, war am Ende. Zuviel war auf der letzten Wegstrecke noch geschehen, als er sich im Geiste bereits am Ziel gesehen hatte. Nachdem er endlich einen Pass über das Gondramgebirge gefunden und die Gebirgskette überstiegen hatte, war er sich sicher gewesen, dass ihm das letzte Stück des Weges keine Schwierigkeiten mehr bereiten würde.
Als er dann aber die Berge hinunterstieg, war er plötzlich aus dem Hinterhalt angegriffen worden. Er hatte zurückgeschossen, aber seine Gegner waren in einer erhöhten Position und konnten hinter Felsen Deckung finden, so dass sie im Gegensatz zu ihm kein gutes Ziel boten. Als er dem Angriff zu entkommen suchte, war er auf dem glatten, felsigen Untergrund ausgerutscht und gestürzt, und hatte dem tödlichen Pfeilhagel nur ausweichen können, indem er sich über eine Felskante hinaus in den Fluss fallen liess, der unterhalb des schmalen Pfades dahinfloss. Trotzdem hatte ihn ein Pfeil noch am Bein verletzen können, und ohne sein treues Pferd, das ihn gesucht und gefunden hatte, wäre er wohl nicht mehr sehr weit gekommen. Auch es war bei dem Überfall verletzt worden und lahmte je länger desto heftiger, aber wohl eher aus Erschöpfung. Drei Tage lang hatte man ihn gejagt, und auch wenn er seine Verfolger hörte und der Geruch ihrer erhitzten Reittiere ihm verriet, dass sie in seiner Nähe waren, hatte er sie nie zu Gesicht bekommen. Erst an diesem Morgen hatte er dann eine Gruppe von verhüllten Gestalten entdeckt, die auf ungewöhnlichen Reittieren sassen. Aus ihren Gesten hatte er entnommen, dass sie ihn suchten, aber seine Spur verloren hatten. So war er den ganzen Tag im Schutz des Waldes weitergeritten und hatte weder sich noch seinem Pferd eine Pause gegönnt. Erst jetzt, als die Dämmerung hereinbrach, hatte er seine Stute etwas ausruhen lassen und sich selbst neben ihr ins Gras gelegt. Er wusste, dass er heute Abend sein Ziel nicht mehr erreichen würde. Die verzweifelte Flucht der letzten Tage hatte ihm seine letzten Kräfte geraubt. Wenn er jetzt nicht anhielt um seine Wunden zu pflegen, etwas zu essen und vor allem seinem Pferd etwas Ruhe zu gönnen, dann würde er niemals über die Ebene kommen, die ihn noch von seinem Ziel trennte. Er wusste nicht, ob seine Verfolger seine Spur wiedergefunden hatten, aber wenn dem so war, dann hing alles davon ab, dass sein Reittier schneller war als die ihrigen.
Plötzlich setzte sich das Kaninchen auf die Hinterbeine und witterte in Richtung Westen, wo die Wiese zu einer sanften Hügelkette hin anstieg. Der Mann horchte angespannt in die selbe Richtung. Bald hörte er ein leises, melodisches Klingeln und auf einem der Hügel erschien eine Ziege. Ihr folgten etwa zwanzig weitere Ziegen und Zicklein, die sich gemütlich einen Weg in die Ebene hinunter suchten. Das Klingeln kam von den vordersten Ziegen, die Halsketten aus dünnen Metallplättchen trugen, welche aufeinander schlugen, wenn die Tiere sich bewegten. Als die Herde beinahe unten angekommen war, tauchte der Hirte auf der Hügelkuppe auf. Es war ein rothaariges Kind, das fröhlich über die Steine hinunter sprang und dabei vor sich hin sang. Als es näher kam, konnte der Mann im Wald die Worte der Hirtenweise verstehen.
„Lauft ihr Ziegen, lauft ihr Zicklein,
Seht, es naht die Dunkelheit.
Ihr zum Stall und ich ans Feuer
Denn schon bald ist Schlafenszeit.
Lauft ihr Ziegen, lauft ihr Zicklein,
Denn des Nachts die Wölfe drohn;
Brauchen Futter für die Jungen.
Rennt, die Wölfe warten schon.
Lauft ihr Ziegen, lauft ihr Zicklein,
denn die Garde zieht umher,
Und die düsteren Soldaten
Mögen Ziegenbraten sehr.
Lauft ihr Ziegen, lauft ihr Zicklein,
Rasch, bevor der Wind sich dreht.
Draussen sind wir nirgends sicher,
Wenn der schwarze Westwind weht.
Lauft ihr Ziegen, lauft ihr Zicklein,
Seht, schon bald sind wir zuhaus'.
Ruhen aus im warmen Stalle
Zieh'n am Morgen wieder aus."
Als die letzte Strophe verklungen war, war auch das Kind nicht mehr zu sehen. Die Ziegen waren am Fuss des Hügels entlang nach Süden gezogen und hinter einer Hecke verschwunden. Leise verklang das Geläut der Herde in der Ferne. Der Mann liess sein Messer sinken, nach dem er im ersten Schreck gegriffen hatte, und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Kaninchen zu, das immer noch wie erstarrt an der gleichen Stelle sass und dorthin blickte, wo die Ziegen verschwunden waren.
Anarya lag flach ausgestreckt auf dem Bauch und blickte auf die Wiese hinunter, die im Licht der letzten Sonnenstrahlen lag. Sie sah das Kaninchen, das am Waldrand sass und dorthin blickte, wo ihre Ziegen verschwunden waren. Sie war froh, dass die Herde es nicht verscheucht hatte, denn ein Kaninchen war eine willkommene Abwechslung auf ihrem Speisezettel. Langsam schlich Anarya den Hügel hinab, wobei sie jeden Felsen und jedes Grasbüschel als Deckung benutzte. Das Kaninchen hatte sich wieder auf alle Viere niedergelassen und schien zu fressen. Plötzlich witterte es jedoch erneut und hoppelte dann auf den Waldrand zu. Anarya griff nach ihrem Bogen, obwohl sie gerne noch etwas näher herangeschlichen wäre. Aber sie wollte nicht riskieren, dass sich das Tier in den Wald rettete, und so musste sie jetzt handeln. Lautlos erhob sie sich, wobei sie darauf achtete im Schutz eines Gebüsches verborgen zu bleiben, legte einen Pfeil auf die Sehne und spannte den kurzen Hirtenbogen. Sorgfältig zielte sie, und schoss in dem Augenblick, als sich das Kaninchen aufrichtete, um Witterung aufzunehmen. Die Wucht, mit der der Pfeil traf, schleuderte das Tier hoch in die Luft, und mit einem dumpfen Laut landete es wieder am Boden. Anarya sprang auf und rannte den Hügel hinab. Doch als sie sich niederbeugte, um das Kaninchen aufzuheben, hörte sie einen herrischen Ruf.
„Daro! Halt ein!"
Anarya fuhr herum und starrte die Gestalt an, die aus dem Schatten der Bäume herauszuschweben schien wie eine Geistererscheinung. Es war ein junger Mann, vielleicht zwanzig Jahre alt. Er trug einen weiten Umhang, den er über die Schulter zurückgeschlagen hatte, so dass er den Blick auf seine hochgewachsene, schlanke Gestalt freigab. Seine Kleidung schien aus kostbaren Stoffen zu bestehen, die reich mit silberglänzendem Faden bestickt waren. Das lange, schwarze Haar trug er offen, einzig die vordersten Strähnen hatte er zu Zöpfen geflochten und am Hinterkopf zusammengebunden, damit sie ihm nicht ins Gesicht fielen, welches auf aussergewöhnliche Weise edel und schön war.
Der Fremde trat auf sie zu, und als er näher kam verblasste der Eindruck des Überirdischen. Er war immer noch eine eindrucksvolle Gestalt, aber Anarya bemerkte nun, dass seine Kleidung abgenutzt und vielfach geflickt war. Sein Gesicht wirkte im Licht der letzten Sonnenstrahlen abgezehrt und blass, und selbst seine Bewegungen schienen nicht mehr unwirklich leicht, sondern nur noch unendlich müde. Offenbar war er irgendwo gestürzt, denn seine Kleidung war an einigen Stellen aufgerissen, und darunter waren Schürfwunden zu sehen. Am rechten Oberschenkel waren seine Beinkleider steif von getrocknetem Blut; vermutlich rührte daher das leichte Hinken, das ihr erst jetzt auffiel.
Als er vor ihr stehenblieb und das Kaninchen aufhob, trafen sich ihre Blicke, und Anarya erstarrte. Seine Augen waren verschieden – das rechte war hellgrau, das linke dagegen war von einem dunklen, beinahe schwarzen Blau. Anarya hatte sich selber oft genug im Spiegel gesehen, um zu wissen, dass sie dieselben Augen hatte, wie dieser Fremde; eines hell und so scharf, wie das des Adlers, das andere dunkel und unergründlich.
Auch der Fremde schien einen Moment lang erschrocken zu sein, aber er fasste sich schneller wieder als sie.
„Ich denke, dieses Kaninchen gehört mir. Mein Pfeil hat es getroffen, und ich würde es gerne zum Abendbrot essen."
Seine Stimme war leise und er sprach mit einem seltsamen Akzent, den Anarya nicht einzuordnen vermochte.
„Wer seid Ihr?", stiess sie nervös hervor, streckte nun aber ebenfalls die Hand nach dem Kaninchen aus und fasste es an den Hinterbeinen.
Sie wusste nicht recht, was sie nun tun sollte, aber sie hatte nicht im Sinn, ihre Jagdbeute diesem Fremden zu überlassen. Wenn er wollte, konnte er ihr das Kaninchen bestimmt spielend leicht entwinden, daher hielt Anarya es nicht sonderlich fest. Doch der Fremde hatte nicht im Sinn, ihr das Tier zu entreissen. Er liess seine Hand langsam sinken, worauf das Kaninchen zu Boden fiel, da Anarya auf diese Bewegung nicht gefasst gewesen war. Der Mann blickte ernst auf das Mädchen herab.
„Ich bin nur ein hungriger Reisender, der sich gerade ein Kaninchen geschossen hat und es jetzt gerne braten würde."
Anarya bückte sich und hob das tote Tier auf.
„Ich verstehe nicht ganz, was Ihr damit sagen wollt. Ich habe dieses Kaninchen geschossen!"
Er sah erst Anarya und dann das Kaninchen an und lachte plötzlich leise auf. Es war ein seltsames Lachen, das eine Gänsehaut auf ihren Armen verursachte. Die Stimme des Fremden klang, als hätte er seit Tagen mit niemandem geredet, geschweige denn über irgendetwas gelacht.
„Wahrhaftig, ein sehr guter Schuss! Es scheint, als müssten wir uns die Beute teilen!"
Auch Anarya sah sich jetzt das Tierchen an und verstand, was er meinte. Ihr Pfeil stak immer noch in der Brust des Kaninchens, aber in seinem Hals steckte der abgebrochene Schaft eines zweiten Pfeils. Erst jetzt fiel Anarya der Langbogen auf, den der Fremde am Rücken trug. In seinem Köcher steckten weissgefiederte Pfeile aus demselben hellen Holz, wie derjenige, der das Kaninchen getroffen hatte. Es war unmöglich zu sagen, welcher Pfeil der tödliche gewesen war, und so kam Anarya zum selben Schluss wie der Fremde.
„Es wird schon bald dunkel, und meine Ziegen müssen in den Stall. Wenn Ihr mitkommt, können wir das Kaninchen am Feuer braten, und...", Anarya sah die Erschöpfung in den Augen des Fremden, „...und wir können uns auch mein Abendbrot teilen. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr dann bei den Ziegen schlafen – es wird eine kalte Nacht, und im Stall ist es schön warm, wenn man den Geruch aushält."
Er wusste, dass er sich von den Menschen auf dieser Seite der Berge fernhalten sollte, aber das Mädchen schien trotz seines jungen Alters vertrauenswürdig zu sein, und die Aussicht auf ein Feuer und eine Mahlzeit war zu verlockend um darauf zu verzichten. Auch schätzte er seine Verfolger so ein, dass sie ihm nicht zur Hütte eines Hirten folgen würden. So wenig er über sie wusste, so war ihm klar, dass sie unter allen Umständen vermieden, von den Einwohnern Amaronds gesehen zu werden. Er nickte.
„Ich werde mit dir gehen, aber erst muss ich noch mein Pferd holen. Warte hier, ich bin gleich wieder da!"
Er trat zurück in den Wald und Anarya hörte ihn leise vor sich hin murmeln. Dann kam er zurück, gefolgt von einem Pferd, wie es Anarya noch nie gesehen hatte. Dies hier war keines der kräftigen Karrenpferde, die sie für die Feldarbeit brauchten, noch war es eines jener grossen Kriegspferde, die die Streitwagen der Fürsten in die Schlacht zogen. Das Tier war etwa so gross, wie die Pferde der Bauern, aber es war so schlank und zierlich wie ein Reh und sein Fell war rabenschwarz. Es trug kein Geschirr, sondern nur zwei Taschen, die auf seinen Rücken geschnallt waren und ihm auf beiden Seiten über die Flanken herunterhingen. Was Anarya am meisten erstaunte war, dass das Pferd dem Mann auf den Fuss folgte, ohne dass er es an einem Strick mit sich führte.
Als sie bei ihr angelangt waren, blieben der Mann und das Tier stehen.
„Das ist Sirrah. Sie hat mich den ganzen Weg hierher begleitet und ich wäre froh, wenn ich sie heute Nacht in Sicherheit vor den Wölfen wüsste. Ich weiss, dass man in Amarond nicht viel von Pferden hält, aber vielleicht kannst du bei ihr eine Ausnahme machen?"
Anarya zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. Sirrah war ein Wort aus der alten Sprache Amaronds. Diese wurde schon seit langer Zeit nur noch bei traditionellen Festen verwendet, oder von alten Dorfhexen, die unverständliche Heilsprüche in Alt-Amarondisch murmelten, wenn sie Kranke behandelten. Das Mädchen kannte ein paar Worte davon – hatte sie doch früher viel Zeit in der Hütte der alten Kräuterfrau am Rand der Wüste verbracht und ihren Liedern und Geschichten gelauscht. Wenn sie sich richtig erinnerte, so war Sirrah die Bezeichnung für einen schwarzen Opal. Diese seltenen Steine wurden verwendet, wenn jemand unter dem schwarzen Fieber litt, und man sprach ihnen gewaltige Kräfte zu. Ein Pferd, das nach einem Edelstein benannt war? In dem Moment wurde Anarya bewusst, dass sie den Namen des Mannes vor ihr nicht kannte. Wieso stellte er sein Pferd vor und nicht sich selber? Dann merkte sie, dass sie auch nicht gesagt hatte, wie sie hiess.
„Mein Name ist übrigens Anarya. Ich komme aus Windholm am Fuss der Berge und verbringe hier meine Hütezeit, wie es bei uns Brauch ist."
Der Fremde neigte leicht den Kopf.
„Du kannst mich Ustered nennen. Woher ich komme, werde ich dir nicht hier erzählen – es ist eine lange Geschichte und deine Ziegen sind schon weit. Komm, wir wollen sehen, ob wir sie noch einholen können!"
Ustered? Anarya dachte nach. So wenig sie von der alten Sprache Amaronds wusste, so war ihr doch bewusst, dass auch dies ein Name war, der daraus abgeleitet war. Nach einigem Überlegen kam sie schliesslich darauf, dass er die Worte „Fremd" und „Westen" enthielt. „Fremder aus dem Westen"? Ja, das musste es sein! Dass dies nicht der richtige Name des Mannes war, war offensichtlich, aber weshalb gab er ihr so eindeutig einen falschen und dazu noch ungewöhnlichen Namen an? Jeder wusste, dass es im Westen nichts Gutes gab. Aus dem Westen kam das schwarze Fieber, dort trieb die dunkle Garde ihr Unwesen, dort versperrte das unbezwingbare Gondramgebirge den Weg.
Während sie noch überlegte, schwang Ustered sich auf den Rücken des Pferdes und streckte Anarya den Arm entgegen. Diese wich entsetzt einen Schritt zurück. Sie hatte noch nie gesehen, dass jemand auf einem Pferd geritten wäre, schon gar nicht ohne Zaumzeug oder Geschirr. Pferde waren wilde, unberechenbare Tiere, die erst dann zu gebrauchen waren, wenn man ihren Willen gebrochen hatte, und noch dann war es besser, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Ustered lachte leise auf.
„Ich hatte nicht mehr daran gedacht, dass dir das seltsam vorkommen muss. Glaube mir, Sirrah ist es seit Jahren gewohnt, einen Reiter zu tragen und wird dulden, dass du dich vor mich hinsetzt."
Er trieb die Stute sanft auf Anarya zu und streckte ihr erneut den Arm entgegen. Sie biss sich auf die Lippen und krallte sich an seinem Arm fest. Ungelenk kletterte sie nun an der Flanke des Pferdes empor, das geduldig stillstand, bis Ustered es geschafft hatte, sie vor sich hin zu setzen. Er hielt sie an der Hüfte fest und rief Sirrah ein paar Worte in einer fremden Sprache zu. Das Pferd setzte sich langsam in Bewegung.
Nach einiger Zeit entspannte sich Anarya ein wenig. Es war ein ungewöhnliches Gefühl, auf einem Pferd zu sitzen, aber es war durchaus nicht so schlimm, wie sie es sich vorgestellt hatte. Das Tier schien auf den leisesten Wink Ustereds zu reagieren, und es setzte seine Hufe so vorsichtig, als wüsste es, dass Anarya ihm nicht vertraute.
„Wollen wir ein bisschen schneller reiten?", fragte Ustered neben ihrem Ohr, und Anarya nickte.
„Noro, Sirrah, noro!"
Das Pferd schnaubte und galoppierte an. Viel schneller als Anarya erwartet hätte, erreichten sie ihr Ziel. Da vorne waren schon ihre Ziegen, die sich am Zaun um den Stall drängten und darauf warteten, dass sie sie einliess.
„Daro, Sirrah!"
Das Pferd verlangsamte seine Gangart und blieb am Zaun stehen. Mit Hilfe des Fremden kletterte Anarya vom Rücken der Stute hinunter und ging zum Tor. Fast bereute sie ein bisschen, dass der Ritt schon zuende war.
Pferd und Reiter folgten ihr langsamer nach, und der Fremde liess seinen Blick über Anaryas Unterkunft schweifen. Ein einfacher Zaun umgab eine kleine Hütte, einen Stall und einen Schuppen, der an einer Seite offen war. Zwischen Stall und Hütte gab es einen Brunnen, der munter vor sich hin plätscherte. Erstaunlich, wenn man bedachte, wie nahe die Wüste war, aber andererseits auch verständlich, da sie schon auf dem Weg an einigen kleinen Bächen vorbeigeritten waren. Langsam führte der Mann sein Pferd zum Brunnen und tränkte es, während Anarya sich um die Ziegen kümmerte.
Kurze Zeit später sassen Anarya und der Fremde einander gegenüber am Feuer und warteten darauf, dass das Kaninchen gar wurde. Das Hirtenmädchen hatte dunkles Brot, Butter und Ziegenkäse aus der Hütte mitgebracht, nachdem sie die Ziegen versorgt hatte, und als sie sah, wie hungrig ihr Gast auf das Essen starrte, war sie noch einmal hineingegangen und hatte einen Topf geholt. Der Mann sah ihr zu, wie sie ein ihm fremdes Getreide mit Wasser aufkochte und dann kleingeschnittene Früchte hinzugab, die er auch nicht kannte. Ein süsslicher Geruch stieg aus dem Topf auf. Anarya öffnete ein kleines Ledersäckchen und entnahm ihm eine Handvoll von einem gelben Pulver, das sie zu der brodelnden Masse gab. Dann blickte sie ihn fragend an und nahm das halbgare Kaninchen vom Spiess, auf den es der Mann gesteckt hatte, nachdem er ihm das Fell abgezogen hatte. Rasch hatte sie es in kleine Stücke zerlegt, die sie nun zu den anderen Zutaten in den Topf gab. Ein kleines Wurzelstück aus einem anderen Lederbeutel rundete das Ganze ab.
„Ich war heute weit weg mit den Ziegen, und die Nacht wird kalt. An solchen Abenden habe ich gerne etwas Warmes im Magen. Ihr habt hoffentlich nichts dagegen, dass ich unser Kaninchen gleich mit dem Reis zusammen koche?"
Ihr Gast schüttelte den Kopf. Er hatte sich auf Anaryas Aufforderung hin ein Stück Brot und etwas Käse genommen und bemühte sich nun, langsam zu essen, um nicht allzu ausgehungert zu wirken. Endlich war auch das Kaninchen gar, und das Hirtenmädchen schöpfte von dem Eintopfgericht in zwei irdene Schalen. Der Fremde, der ihr etwas misstrauisch beim Kochen zugesehen hatte, stellte fest, dass das Kaninchen zwar ungewöhnlich aber gleichwohl sehr gut schmeckte. Der Reis, wie Anarya das helle Getreide genannt hatte, war mehr oder weniger geschmacklos, aber ausgesprochen nahrhaft.
Auch Anarya hatte hungrig die erste Schale Reis geleert und schöpfte nun nach. Unauffällig betrachtete sie den Mann ihr gegenüber. Ustered hatte er sich genannt. Ob er wohl tatsächlich aus dem Westen kam? Er ass hastig, aber trotzdem gesittet.
„Was starrst du mich so an, Kind?", riss sie Ustereds Stimme aus ihren Betrachtungen. „Hast du noch nie einen hungrigen Reisenden gesehen?"
„Ihr habt mir noch nicht gesagt, was ihr hier wollt, Fremder aus dem Westen", stiess sie leise hervor. „Es gibt in dieser Gegend nicht viele Reisende, und schon gar nicht aus dem Westen."
Der junge Mann nickte.
„Du hast also verstanden, woher ich komme – hast den Namen zu entschlüsseln gewusst, den ich dir angegeben habe. Ja, ich komme aus dem Westen, von jenseits des Gondramgebirges. Es war eine lange Reise und sie war anstrengend. Ich bin hierhergekommen, weil ich eine Frau suche. Kirgu Tammari ist ihr Name, und sie soll irgendwo am Rande der grossen Felswüste wohnen. Vielleicht kannst du mir ja weiterhelfen?"
Anarya zögerte.
„Was wollt Ihr von Kirgu?"
Er schwieg einen Moment lang und senkte dann den Kopf.
„Das kann ich dir nicht sagen. Ich bin dir für deine Hilfe sehr dankbar, aber ich wäre froh, wenn du mir keine weiteren Fragen stellen würdest. Sage mir, wo ich Kirgu Tammari finden kann, wenn du es weißt, aber versuche nicht, herauszufinden, wer ich bin, und was ich will. Es ist nur zu deinem Besten, wenn du nichts über mich erfährst."
Er sah, wie das Mädchen erstarrte. Einen Augenblick lang glaubte er, sie werde ihn und sein Pferd wegschicken, aber stattdessen erhob sie sich und ging in ihre Hütte. Dann kam sie zurück und warf schweigend einen Arm voll Stroh und eine Decke in eine Ecke des Schuppens neben dem Stall. Sie stellte einen kleinen irdenen Krug vor seine Füsse und blickte ihn mit zornfunkelnden Augen an.
„Dort könnt ihr schlafen. Das hier müsst Ihr vor dem Schlafengehen trinken; es vertreibt die Kälte."
Mit diesen Worten deutete sie erst auf den Schuppen und dann auf den Krug. Dann ging sie in ihre Hütte, ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen und schlug vehement die Türe hinter sich zu.
„Anarya", murmelte der Fremde leise, als sie gegangen war. „Nicht nur mein Name sagt viel aus, Kind, auch der deine. Er sagt mir, dass ich meinem Ziel nahe bin."
Die Flüssigkeit im Krug dampfte vor Hitze und roch nach Kräutern. Es war inzwischen trotz des Feuers unangenehm kalt geworden, und so trank er das Gefäss leer. Die Schlafstelle dagegen interessierte ihn im Moment nicht. Nachdem er noch einen Moment ins erlöschende Feuer gestarrt hatte, erhob er sich, um noch einmal nach seinem Pferd zu sehen. Doch bevor er auch nur ein paar Schritte getan hatte, überkam ihn ein unerträgliches Schwindelgefühl, und er brach zusammen.
