A/N: Liest hier eigentlich jemand mit? Ich würde mich über eine kurze Rückmeldung wirklich sehr freuen, auch wenn es nur ein "Ja, ich lese" ist...

Morgen

Als der Reisende erwachte, war der Morgen schon angebrochen. Die Ziegen waren verschwunden, und mit ihnen Anarya. Das Feuer brannte fröhlich vor sich hin, und über ihm hing ein Topf, aus dem es dampfte. Als er sich aufrichtete, merkte er, dass er immer noch dort lag, wo er am Vorabend das Bewusstsein verloren hatte, aber jemand, vermutlich Anarya, hatte ihm seinen Umhang als Kissen unter den Kopf geschoben und ihn mit einer Decke zugedeckt. Ausserdem hatte sie ihm seine Stiefel ausgezogen und sie neben die Türe gestellt. Als er zum Feuer trat, sah er auf seinen gepackten Taschen ein in Tuch eingeschlagenes Stück Brot, ein Stück Käse und eine Lederflasche liegen. Ausserdem lag ein Pergament dort, auf das eine einfache Karte aufgemalt war. Als der Mann sie betrachtete, verstand er, dass Anarya ihm aufgezeichnet hatte, wie er Kirgu Tammari finden konnte. Auf der Rückseite des Pergaments stand etwas geschrieben, aber er kannte die Schrift nicht, und so steckte er die Karte in seine Tasche. Neben dem Feuer standen auch ein Krug Wasser und ein Tongefäss mit Deckel und darauf lagen ein paar schneeweisse Stoffstreifen. Als er den Topf öffnete, erkannte er, dass es sich beim Inhalt um eine Salbe handeln musste. Er säuberte die Schnitt- und Schürfwunden, die er sich in den Bergen zugezogen hatte und behandelte dann auch die tiefe Verletzung an seinem Bein, so gut er es vermochte.

Auch für Sirrah hatte das Hirtenmädchen gesorgt. Die Stute stand wartend am Brunnen, wo Anarya sie mit einem Strick festgebunden hatte. Ihre Verletzungen waren ebenfalls mit der Salbe bestrichen, was vermutlich auch der Grund für das Anbinden war. Vor dem Pferd lagen vereinzelte Heubüschel am Boden, die darauf hindeuteten, dass Sirrah gefüttert worden war.

Der Fremde packte seine Sachen zusammen und band dann die Stute los. Doch bevor er sich auf den Weg machte, ging er noch einmal zu der Hütte zurück und legte die silberne Spange, mit der er seinen Mantel zusammenhielt, auf die säuberlich zusammengefaltete Decke. Dann ging er zum Brunnen und schwang sich auf den Rücken seines wartenden Pferdes. Ohne sich noch einmal umzublicken, ritt er nach Osten, der Wüste entgegen.

Anarya lag bäuchlings hinter einem Gebüsch versteckt und sah zu, wie der Fremde davonritt. Erst hatte sie ihm zu Kirgu folgen oder gar vor ihm dort sein wollen, um die alte Frau vor ihm zu warnen, aber dann hatte sie sich gesagt, dass er bestimmt nicht das Gondramgebirge überquert hatte, nur um hier einer alten Frau etwas zuleide zu tun. Er hatte ihr verboten, Fragen zu stellen, was sie im ersten Moment sehr wütend gemacht hatte, aber wenn sie an seinen gehetzten Gesichtsausdruck dachte, musste er auch gute Gründe für sein Schweigen haben. Trotzdem beschloss Anarya, die alte Kirgu Tammari bald einmal wieder zu besuchen. In zwei Tagen sollte ihr Bruder Tárion hierher kommen, um die Ziegen zu übernehmen. Er würde auch ihr Kamel mitbringen, so dass Anarya auf dem Heimweg ins Dorf noch rasch bei Kirgu vorbeireiten konnte. Anarya dachte nach. Sie hatte die alte Kräuterfrau seit Monaten nicht mehr gesehen.

Eine Zeitlang war sie oft bei ihr gewesen, und Kirgu hatte ihr viel über die Pflanzen und Tiere des Landes beigebracht. Kirgu Tammari kannte auch Unmengen an alten Geschichten und Liedern, in denen es um längst vergangene Helden ging, von denen Anarya noch nie gehört hatte. Besonders die Geschichten von den unsterblichen Völkern, die auf einer Insel fern im Westen lebten, hatten Anarya immer gefallen. Es ging dabei um die schönen und edlen Elben, die einst überall auf der Welt gelebt hatten und Seite an Seite mit den Menschen gekämpft hatten, als das Böse die Macht erlangen wollte. Als jedoch das Böse in einem letzten grossen Krieg vernichtet worden war, hatten sich die Elben zu den grossen Häfen begeben und waren nach Westen gesegelt, um nie wieder zurückzukehren. Dort lebten sie nun bei den Göttern, auf einer Insel, die so vollkommen war, wie es einst die ganze Welt hätte sein sollen.

Anarya erinnerte sich an den wehmütigen Ausdruck auf Kirgus Gesicht, wenn sie von der Elbin Lúthien erzählte, die ihre Unsterblichkeit für ihre Liebe zum Menschen Beren aufgegeben hatte und mit ihm zusammen alt geworden war. Dies war immer eine von Anaryas Lieblingsgeschichten gewesen, auch wenn sie traurig endete. Wie oft hatte sie mitgefiebert, wenn Beren den Edelstein aus der Krone des bösen Herrschers schnitt oder zusammen mit Lúthien aus den dunklen Verliesen floh. Und wie oft hatte sie geweint, wenn der tapfere Jagdhund Berens sein Leben für ihn liess und Beren dann selber getötet wurde.

Besonders schön war aber der Schluss, als Lúthien Beren aus dem Totenreich zurückholen durfte, um ein Menschenleben gemeinsam mit ihm zu verbringen.

„Und Lúthien ist zusammen mit Beren alt geworden und gestorben, und so ist die schönste Elbin, die je über diese Erde wandelte, am Ende ihres Lebens nicht nach Westen in die Unsterblichen Lande gesegelt, sondern hat hier in Mittelerde als alte Frau den Tod einer Sterblichen erfahren."

Mit diesen Worten endete die Geschichte und Kirgu pflegte dann einen Moment lang gedankenverloren vor sich hin zu starren, bevor sie in die Küche ging, um Anarya etwas Kuchen oder ein paar Früchte zu holen.

Als Ustered nicht mehr zu sehen war, erhob sich Anarya und ging hinunter zur Hütte. Sofort entdeckte sie das silberne Schmuckstück auf der zusammengefalteten Decke, mit der sie den Schlafenden zugedeckt hatte. Anarya hatte dem Fremden angesehen, dass er weiterreiten wollte, sobald sie schlief, aber er sah so erschöpft aus, dass sie ihm ein starkes Schlafmittel gegeben hatte, das sie sonst für die Pflege kranker Tiere verwendete. Geschwächt, wie er war, hatte das Mittel sofort gewirkt, und Anarya hatte sich um ihn und sein Pferd kümmern können. Sie hatte der Versuchung widerstanden, seine Packtaschen zu durchsuchen und hatte sich damit begnügt, ihn einfach nur Proviant und eine Karte für seine Weiterreise bereitzulegen. Es hatte sie einiges an Mut gekostet, den fremden Mann einfach so zu betäuben, aber sie hatte das sichere Gefühl gehabt, richtig zu handeln, und sie war sich sicher, dass er auch nicht böse auf sie sein würde.

Die Brosche, die Ustered zurückgelassen hatte, war geformt wie ein Segelschiff, dessen Segel aus einem bläulichen Stein waren. Das Schiff selber bestand aus schwerem Silber, das auf feinste Weise geschmiedet worden war. Nie zuvor hatte Anarya etwas Vergleichbares gesehen, obschon ihre Mutter einige äusserst wertvolle Schmuckstücke besass. Sorgfältig schlug sie die Brosche in ein sauberes Stück Leinen ein und verstaute sie dann in der Tasche, die sie mit nach Hause nehmen wollte, wenn Tárion sie ablösen kam.

Nach zwei Monaten in den Bergen freute sie sich darauf, wieder ins Dorf zurück zu kommen und ihre Familie wiederzusehen. Seit Jahren war es Brauch, dass die Kinder des Dorfes in den Bergen die Herden hüteten. Dabei kamen die Nachkommen des Fürsten ebenso an die Reihe wie die Kinder der ärmsten Leibeigenen. Wenn sie nach zwei Monden aus den Bergen zurückkamen, wurden sie für zwei Monde in den Wissenschaften unterrichtet und lebten dann für drei Monde bei ihren Familien. Dieser Zyklus wiederholte sich, bis das Kind alt genug war, um einen Beruf zu wählen und eine Familie zu gründen. Vor langer Zeit hatte der Grossvater des jetzigen Fürsten dies angeordnet, damit alle jungen Leute sowohl lernten in der Wildnis zu leben, als auch, sich in der Stadt zu behaupten. Er war der Meinung gewesen, dass es einem Fürstensohn nicht schaden konnte, wenn er wusste, wie es sich in einem Ziegenstall schlief, und dass es auch unter den ärmsten Bauern Kinder geben konnte, die eine Begabung für das Studium der Wissenschaften hatten.

Anarya hatte nie etwas dagegen gehabt, dass sie als Tochter des jetzigen Fürsten Bradwen von Fenring in die Berge ziehen musste. Im Gegensatz zu ihrem Bruder Tárion war sie sogar froh, wenn sie dem mühsamen Studium der Mathematik eine Zeitlang entfliehen konnte, ganz zu schweigen von den grässlichen Stunden, in denen sie nähen, sticken und kochen lernen musste. Während Tárion am liebsten von früh bis spät in seiner Kammer sass und irgendwelche Schriftrollen studierte, zog Anarya es vor, draussen über die Felder zu tollen, mit den Dorfkindern Krieg zu spielen oder mit ihrem Kamel durch die Gegend zu streunen.

Anarya dachte an den Ritt auf dem Pferd des Fremden zurück. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass man ein Pferd reiten könnte wie ein Kamel. Ob es wohl möglich war, eines der Bauernpferde soweit zu bringen, dass es einen trug? Anarya hatte oft zugesehen, wie man die Pferde dazu abrichtete, eine Karre zu ziehen. Sie wurden vor eine grosse, mit Steinen beladene Karre gebunden, die zu schwer war, um sie zu ziehen. Dann stellte man ein Gefäss mit Wasser gerade knapp ausser Reichweite des Pferdes auf den Boden. Wenn das Tier aufhörte, sich gegen das Geschirr zu wehren, entfernte man nach und nach die Steine vom Wagen, bis das Pferd ihn gerade knapp ziehen konnte. So angeschirrt blieb das Tier dann tagelang auf der Weide stehen, bis es gelernt hatte, dass es nur zu Wasser und Futter kam, wenn es den Wagen hinter sich her zog. Die Pferde lernten die Peitsche kennen und fürchteten sich bald so sehr vor den Menschen, dass sie nicht mehr wagten, sich gegen sie zu wehren. Auf diese Weise gezähmt, konnte man die Tiere für die Feldarbeit verwenden, aber nur erwachsene Männer durften mit ihnen arbeiten, denn die Tiere blieben unberechenbar. Ihr Vater, der Fürst, hatte Anarya einmal erklärt, dass Pferde zu stolz seien, um den Menschen zu dienen.

„Sieh dir die Kamele an, Anarya", hatte er gesagt. „Wenn man lange genug mit ihnen übt, legen sie sich auf Kommando auf den Boden, damit man auf ihren Rücken klettern kann. Kein Pferd würde sich jemals so erniedrigen, nicht einmal nachdem man seinen Willen gebrochen hat. Ich habe schon Pferde gesehen, die lieber verhungert sind, als sich zu unterwerfen – sie sind dumm, sehr dumm, aber sie haben ihren Stolz."

Sirrah, die Stute des Fremden, hatte auf Anarya nicht den Eindruck gemacht, als ob sie dumm wäre. Sie hatte Ustered auf den leisesten Wink hin gehorcht und hatte sogar sie, Anarya, auf ihrem Rücken geduldet. Trotzdem war es Anarya nicht vorgekommen, als ob Ustered ihren Willen gebrochen hätte. Vielmehr schien es, als ob er und Sirrah Freunde wären.

Als Anarya die Wunden des Pferdes behandelt hatte, war es ihr erst unheimlich gewesen, sich dem Tier zu nähern. Doch Sirrah hatte ohne den geringsten Widerstand geduldet, dass Anarya ihr einen Strick um den Hals legte und sie festband. Während der Behandlung war die Stute ein paar Mal zusammengezuckt, aber sie hatte nie versucht, sich zu wehren. Es war, als wüsste sie, dass Anarya ihr helfen wollte.

Anarya wandte sich von der Hütte und wanderte nach Westen, den Hügeln zu. Sie wusste in etwa, wohin die Ziegen am Morgen gezogen waren, und es war an der Zeit, sich wieder zu ihnen zu gesellen.