Zwillinge
Weit im Norden, zwischen den Gipfeln, die Angmar, das Reich des Hexenkönigs überragten, lag das kleine Dorf Hornthal im verborgenen Grund am Ende der Hornklamm. Die Schlucht trug diesen Namen, weil sie in einem weiten Bogen die Felswände durchschnitt und sich vom schmalen Eingang bis hin zum Lichtersee gleichmässig verbreiterte, so dass sie vom Gipfel der Winterspitze aus gesehen die Form eines Kardukhorns hatte. Wer nicht wusste, dass sich am Ende der Klamm ein kesselförmiges Tal befand, hatte keinen Grund, sich durch die schmale Felsspalte zu zwängen, die den Anfang der Schlucht ausmachte. So breit, dass ein ausgewachsenes Karduk gerade noch hindurchpasste, war der Eingang der Hornklamm nur dann begehbar, wenn der Silberbach nicht zu stark angeschwollen war, denn man musste einige Zeit darin waten, bis sich die Felswände voneinander entfernten und Platz liessen für einen schmalen Steg, der bis in den verborgenen Grund führte.
Das Dorf selber schien nur aus ein paar ärmlichen Hütten zu bestehen. Gebaut aus dem knorrigen Holz der verkrüppelten Kiefern, die man weiter unten am Berghang vereinzelt antraf, kam es einem so vor, als hielten die Hütten nur durch den Schnee zusammen, den der Wind in hohen Wällen an den Hauswänden auftürmte. Im Winter sah man oft nur einige weisse Hügel, aus denen oben der Rauch der Kardukmistfeuer aufstieg.
Am Ende des verborgenen Grunds lag der Lichtersee, der Sommer wie Winter von einer dicken Eisschicht bedeckt war. Nur dort wo der Silberbach in den See floss und dort wo er ihn wieder verliess, gab es Flächen offenen Wassers. Die Eisdecke war es, die dem See seinen Namen gegeben hatte. In kalten klaren Nächten nämlich, wenn es lange Zeit nicht geschneit hatte und das Eis auf dem See freilag, dann sah man die weite Fläche manchmal grünlich leuchten, als ob sie das Nordlicht am Himmel widerspiegle. Im Dorf kannte man den Ursprung des Leuchtens, aber man hielt es geheim und war froh, wenn man sagen hörte, im verborgenen Grund spuke es – das hielt ungebetene Besucher fern.
Am Ufer des Sees befand sich ein schneebedeckter Hügel, dessen halbrunde Kuppe zu ebenmässig war, um natürlichen Ursprungs zu sein. Er war etwa fünfzehn Fuss hoch, und man brauchte an die fünfzig Schritte, um ihn zu umrunden. Am Fuss des Hügels, auf der dem See abgewandten Seite, war der Schnee auf einer kreisrunden Fläche festgetrampelt, und von dort aus führte ein Pfad zum Dorf hinüber. Zwischen dem eigentlichen Dorf und dem Hügel gab es noch eine weitere Holzhütte, lang und niedrig gebaut. Hier wohnten die jungen Leute, die keine Kinder mehr waren, aber auch noch nicht als Erwachsene galten.
Die Herrschaft des Hexenkönigs hatte das Bergvolk misstrauisch gemacht, und sie hatten zuviel unter Orks, Wargen und anderen Monstern aus Angmar gelitten, um noch Vertrauen zu anderen Völkern zu haben. Noch hunderte von Jahren nachdem der Hexenkönig aus Angmar vertrieben worden war, wimmelte es in den Bergen von seinen Kreaturen, die auch ohne den Befehl ihres Meisters nur Tod und Verderben brachten.
Daher war es ein verschlossenes, wortkarges Volk, das hier in den höchsten Höhen des Nebelgebirges lebte. Nur in den härtesten Wintern wagten sich kleine Jägertrupps von den Bergen hinunter, doch sie hüteten sich, anderen Menschen zu begegnen.
Nur wenige Waldläufer aus dem Norden und ein paar Elben aus Bruchtal wussten, dass in harten Wintern geheimnisvolle Jäger durch die Wälder strichen, aber selbst ihnen gelang es nie, diese zu treffen. Ihre Kenntnisse der Wildnis schienen noch besser zu sein als jene der Waldläufer, und sie waren so grosse Meister darin, ihre Spuren zu verwischen, dass ihnen selbst die Elben nicht folgen konnten.
Wenn man in den unwirtlichen Höhen der Berge überleben wollte, musste man sich an die Regeln halten, die einem die Natur aufzwang. Für die Einhaltung dieser Regeln sorgten die Lumianen, welche die Dörfer regierten und die Gesetze machten. Wer die Regeln verletzte, wurde hart bestraft, aber man kannte nichts anderes, und nur selten wagte es jemand, sich den Entscheidungen der Räte der Lumianen zu widersetzen.
Solange man sich erinnern konnte, wachten die Lumianen über die Dörfer und sorgten für ihr Wohl. In jedem Dorf gab es zu jeder Zeit drei von ihnen. Die Lumiane des Firns war diejenige, welche die Erinnerung bewahrte. Sie kannte die Vergangenheit und wusste alles darüber, was ihr Volk betraf. Sie war die Bewahrerin der Gesetze. Wann immer jemand gegen eine Regel verstiess, suchte sie in ihrer Erinnerung nach ähnlichen Begebenheiten und berichtete, wie man damals entschieden hatte. Vermutlich waren die Lumianen des Firns auch die Einzigen, die wussten, woher das Bergvolk gekommen war, und weshalb es in den Bergen lebte, aber darüber verloren sie nie ein Wort. Sie erklärten auch nicht, weshalb die Lumianen und ihre Krieger, die Kargai sich von den anderen Dorfbewohnern unterschieden, und man fragte sie nicht, denn es war schon immer so gewesen.
Die Lumianen und die Kargai waren grösser als die anderen Dorfbewohner, sie hatten edlere Gesichtszüge und sie waren stärker, zäher und begabter als diese. Vor allem aber wurden sie viel älter – es hiess sogar sie seien unsterblich – und sie konnten Magie wirken. Es waren keine grossen Zauber, die sie beherrschten, aber sie genügten, um dort zu helfen, wo man mit reiner Körperkraft nicht weiterkam. Auch die Erinnerung der Lumianen des Firns hatte mit Magie zu tun, denn wie hätten sie sich sonst an die gesamte Vergangenheit erinnern sollen?
Neben der Lumiane des Firns gab es in jedem Dorf eine Lumiane des Frostes. Sie war es, die das Urteil sprach, nachdem die Lumiane des Firns die Gesetze dargelegt hatte. Das Urteil der Lumiane des Frostes war endgültig, und es gab keine Möglichkeit, ihr zu widersprechen. In den meisten Fällen war dies auch nicht nötig, denn die Gesetze waren eindeutig. Gab es dennoch einmal einen besonders schwierigen Fall, so wurde dieser auf das nächste Treffen der Dörfer vertagt, wo sich die Lumianen des Frostes aller Dörfer dann untereinander berieten.
War die Lumiane des Firns überall beliebt, so begegnete man der Lumiane des Frostes mit Ehrfurcht. Doch am meisten gefürchtet war die Lumiane des Sturms. Sie war es, die über die Kargai befahl, aber sie war es auch, die das Urteil vollstreckte, das die Lumiane des Frostes gesprochen hatte. Die Lumiane des Sturms war die einzige, die ab und zu das Dorf verliess, um zusammen mit den Kargai zu jagen oder zu kämpfen. Dies geschah nur in Zeiten der Not, denn sonst verliessen die Lumianen das Dorf nur, um zu einem der Sonnwendfeste zu gehen. Die Macht der Lumianen des Sturms war gross. Sie beherrschten Wind und Wasser, Fels, Eis und Schnee. Auch die Kargai konnten auf die Natur einwirken, aber selbst zu sechst konnten sie ihre Kräfte nicht mit denen einer Lumiane messen.
Die Kargai waren die Beschützer des Dorfes. Sie lebten bei den Lumianen und verliessen das Dorf nur, um es zu verteidigen, oder um zu jagen. Die Dorfbewohner liebten sie, auch wenn sie ihnen mit Achtung begegneten. Zu jeder Zeit gab es sechs Kargai im Dorf, und solange sie da waren, fühlte man sich sicher.
Es waren einfache Leute, die in diesen Dörfern in den Bergen lebten, und sie interessierten sich nicht für die Vergangenheit. In einer solch unwirtlichen Gegend musste man im Jetzt leben, wenn man durchhalten wollte. Keiner der Dorfbewohner wusste, woher sein Volk kam, oder weshalb sie in den eisigen Bergen lebten, wo es doch weiter unten grosse Wälder, grüne Wiesen und Seen gab, die nicht zugefroren waren, doch es zweifelte auch keiner an der Weisheit der Lumianen, und solange diese nicht den Befehl gaben, ins Tal zu gehen, würde kein Dorfbewohner jemals den Schutz der Berge verlassen.
An einem sonnigen Frühlingstag standen die Männer aus Hornthal am Eingang zur Hornklamm und räumten den Schnee zur Seite, der die Schlucht verstopfte. Die Stimmung war bedrückt, und man konnte die Angst förmlich spüren, die über dem Dorf lag. Vier Tage war es nun her, dass eine Lawine die Hornklamm zugeschüttet hatte. Dies ereignete sich jedes Jahr, doch dieses Mal hatte ein sonniger Tag ausgereicht, um die Schneewechte zu lösen, die sich schon seit Tagen bedrohlich über die Klamm geneigt hatte. Normalerweise lösten die Kargai die Lawine bewusst aus, doch diesmal waren sie zu spät gewesen. Sie waren noch dabei gewesen, die Schlucht zu sichern, bevor sie die Wechte losbrechen wollten, als der Schnee bereits donnernd in die Tiefe stürzte. Die Dorfbewohner hatten die Katastrophe unbeschadet überstanden, aber von den sechs Kargai war keine Spur mehr zu finden. Selbst jetzt, nach vier Tagen, hatte man noch keinen der Körper aus der Schneemasse bergen können. Kurz nach dem Abgang der Lawine war auf den Befehl der Lumianen hin ein Jung-Kargai auf den Dorfplatz getreten und hatte den verschreckten Dorfbewohnern mitgeteilt, dass aus dem Dorf Gletschern neue Kargai geschickt würden, und dass man versuchen solle, die Klamm freizuräumen, aber seither hatte man nichts mehr von den Lumianen gehört, und die Angst der Dorfbewohner wuchs von Tag zu Tag.
Solange die Schlucht nicht passierbar war, drohte keine unmittelbare Gefahr, aber was war, wenn die Klamm frei war, und die Kargai aus Gletschern nicht auftauchten? Die Dorfbewohner waren nicht kampferfahren, und sie konnten nicht hoffen, das Dorf zu retten, wenn eine Orkhorde darüber herfiel. Noch nie waren sie ganz ohne Kargai gewesen. Es kam vor, dass einer oder zwei von ihnen nicht von einer Jagd zurückkehrten, aber alle sechs auf einmal? Die Jung-Kargai waren auch keine Hilfe, denn sie durften die Behausung der Lumianen nicht verlassen, auch wenn dies das Ende des Dorfes bedeutet hätte. Es war schon erstaunlich genug gewesen, dass die Lumianen einen von ihnen hinausgeschickt hatten, um über die Kargai aus Gletschern zu berichten. Unter normalen Umständen hätten die Dorfbewohner die Jung-Kargai nur an jenem Tag zu Gesicht bekommen, an dem sie das Dorf verliessen, um nach Nadelfels zu gehen, wo sie den Rest ihres Lebens als Kargai die Leute von Nadelfels beschützen würden.
So war es schon immer gewesen: Während die Frauen immer in dem Dorf blieben, in dem sie geboren waren, zogen die Männer ins Nachbardorf, sobald sie alt genug waren, um eine Ehefrau zu suchen. Auf diese Weise wurde trotz geringer Einwohnerzahl in den Dörfern vermieden, dass nahe Verwandte untereinander heirateten. Normalerweise kamen die neun Dörfer zweimal im Jahr zur Tag- und Nachtgleiche am Fuss des Feuerberges zusammen, um das Frühlings- oder das Herbstfest zu feiern. Dieser Berg hatte zu den Zeiten des Hexenkönigs oft Feuer in den Himmel gespieen. Seit Angmar besiegt worden war, hatte es keinen Ausbruch mehr gegeben, aber der Berg strahlte immer noch Hitze ab und schmolz den Schnee ringsum weg, so dass er wie ein schwarzer Kegel in den Himmel ragte. Die erwärmten Felsen erlaubten es den Menschen während der Feste draussen zu musizieren und zu tanzen, ohne sich vor der Kälte fürchten zu müssen.
Während dieser Feiern geschah es auch, dass sich die jungen Männer dem Dorf anschlossen, in dem sie von nun an leben würden. Man konnte sich eine kreisförmige Anordnung der Dörfer vorstellen. Die Männer heirateten demnach in das nächste Dorf auf dem Ring, so dass sich der Kreis am Ende wieder schloss. So kamen alle jungen Männer aus Gletschern früher oder später nach Hornthal, während die Jugendlichen von dort nach Nadelfels zogen.
Auch durfte die Einwohnerzahl in den Dörfern nie eine gewisse Grenze überschreiten. Erst wenn jemand starb, durfte ein Kind geboren werden, und erst wenn ein junger Mann das Dorf verliess, durfte ein anderer Jüngling ins Dorf kommen. Es waren die Lumianen, die entschieden, wer heiratete und wer Kinder haben durfte.
Manchmal kam es vor, dass jemand das Dorf verliess, um jemandem die Möglichkeit für Nachwuchs zu geben. Oft waren es alte und kranke Leute, die wussten, dass sie dem Dorf keine Hilfe mehr waren. Diese Menschen machten sich dann alleine auf den Weg zum Feuerberg. Einige von ihnen kamen nie beim Feuerberg an, aber diejenigen, die es schafften, lebten fortan dort. Indem sie das Dorf verlassen hatten, hatten sie alle Rechte verspielt. Sie waren von nun an Gesetzlose, die sich keinem Dorf mehr nähern durften. Jedoch konnten sie immer noch an den Festen teilnehmen und dort ihre Angehörigen wieder sehen. An diesen Feiern versorgte man sie auch mit Lebensmitteln, sofern die Dörfer etwas entbehren konnte. So war das Leben am Feuerberg zwar erträglich, aber die Menschen dort lebten in ständiger Gefahr, da es bei ihnen keine Kargai gab, die für ihren Schutz sorgten.
Für die Kargai galten im Grunde genommen dieselben Gesetze wie für alle anderen Männer des Bergvolkes, nur dass noch die Regel dazu kam, dass es nie mehr als sechs Kargai in einem Dorf geben durfte. Doch in jedem Dorf gab es auch immer sechs Jung-Kargai, von denen man sagte, sie seien die Söhne der Lumianen. Sie wuchsen im Verborgenen auf, und verliessen die Behausung der Lumianen erst, wenn im Nachbardorf ein Kargai fehlte und sie ihn ersetzen mussten. So war es nun auch in Hornthal. Ihre sechs Wächter waren tot, und so musste nun das Dorf Gletschern seine sechs Jung-Kargai alle auf einmal entsenden, um fortan in Hornthal zu leben.
Die Arbeit in der Hornklamm rückte nur langsam voran. Immer wieder rutschten Schnee- und Geröllmassen nach und bedeckten die eben erst freigeräumten Stellen erneut. Dann, endlich, hörte man auf der anderen Seite des Hindernisses einen Ruf.
„Hier sind die Kargai aus Gletschern! Verlasst die Klamm, wir werden den Weg freimachen!"
Augenblicklich zogen sich die Dorfbewohner in ihre Hütten zurück, von wo aus sie bange den Eingang der Schlucht beobachteten. Nach einer Weile war ein gewaltiges Grollen zu hören, und die Schneemassen gerieten in Bewegung. Nach und nach rutschten die Trümmer zur Seite, und bildeten eine Lücke, durch die hoch aufspritzend der befreite Silberbach floss. Weiter und weiter wurde das Hindernis an den Rand der Schlucht geschoben. Grosse Eisbrocken fielen in den Silberbach, der aufschäumend am Dorf vorbei in den Lichtersee strömte und dann mit Getöse über die Felsen hinab in die Tiefe stürzte. Die Eisschicht des Sees ächzte, doch sie hielt stand.
Endlich liess das Toben des Silberbaches nach, und ein schmales Stück des Steges durch die Hornklamm wurde sichtbar. In dieser Lücke zwischen Schneehaufen und Bach tauchte nun eine weissverhüllte Gestalt auf, die auf einem grossen, weissen Karduk sass. Die Dorfbewohner traten aus ihren Hütten und stellten sich auf den Dorfplatz, wobei sie eine Gasse für den Reiter freiliessen. Dieser trat aus der Schlucht heraus, gefolgt von einer ganzen Reihe weiterer Gestalten, die auch auf Karduks sassen, oder die Tiere hinter sich her führten. Wortlos bahnten sich die Ankömmlinge einen Weg über den Dorfplatz und folgten dann dem Pfad zum See, wo sie sich am Fuss des runden Schneehügels in einem Halbkreis aufstellten und warteten. In gebührendem Abstand folgten die Dorfbewohner und bildeten einen zweiten, grösseren Halbkreis um sie herum.
Lange Zeit tat sich nichts, doch dann öffnete sich plötzlich ein Loch in dem Hügel, und man sah eine Treppe aus Eis, die in die Tiefe führte. Lautlos glitt das flache Tor aus Eis in die Höhe, und je mehr Licht ins Innere des Hügels fiel, desto besser konnte man die kunstvollen Schnitzereien erkennen, die die Eissäulen rechts und links der Öffnung zierten. Als das Tor ganz offen war, tat sich wieder nichts mehr. Wie Statuen aus Eis standen die Neuankömmlinge vor dem Hügel und warteten, während die Dorfbewohner vor Unruhe oder vor Kälte anfingen, von einem Fuss auf den anderen zu treten. Schliesslich kamen zwei Jung-Kargai die Treppe hinaufgestiegen und stellten sich rechts und links neben den Eingang ins Innere des Hügels. Sie trugen dieselben weissen Kapuzenmäntel wie die Kargai aus Gletschern, und hatten wie sie die Kapuzen weit ins Gesicht gezogen. Als wolle die Sonne sie willkommen heissen, brach in diesem Moment die Wolkendecke auf, und helles Licht fiel in den verborgenen Grund.
Es schien, als ob die Lumianen nur darauf gewartet hätten, denn gerade als die ersten Sonnenstrahlen auf den Platz fielen, traten auch sie aus dem Hügel heraus und stellten sich vor die Neuankömmlinge. Als erste kam Lossith, die Lumiane des Firns. Ihr altersloses Gesicht war unverändert schön, doch ihr Haar war seit ihrem letzten Auftritt schneeweiss geworden. Vermutlich würde sie bald ihr Amt an ihre Tochter abgeben. Wie üblich trug Lossith ihr schlichtes, langes Gewand, das so weiss war, dass daneben selbst der Schnee schmutzig wirkte. Hinter ihr folgte Rilka, die Lumiane des Frostes. Ihr mit Wolfsfell verbrämter, dunkelroter Mantel bildete einen scharfen Kontrast zu ihrem blassen Gesicht, das von wallendem, schwarzem Haar umrahmt wurde. Umgab Lossith eine Aura von Weisheit, so verströmte Rilka eine ungeheure Macht. Als letzte kam Surji, die Lumiane des Sturms die Treppe hinaufgestiegen. Sie trug eine schneeweisse Rüstung und einen Helm, der ihr Gesicht völlig verdeckte und nur einen schmalen Schlitz für die Augen freiliess. Als sie ins Licht trat, strahlte die Rüstung blendend hell auf und schimmerte dabei in allen Farben. Es war ein Anblick von überwältigender Schönheit, aber einer Schönheit, die mit tödlicher Gefahr einherging. Nur wenige Feinde, die das Strahlen einer Kargai-Rüstung gesehen hatten, waren noch am Leben.
Es war Lossith, die vor die Reiter hintrat und sie freundlich anlächelte, während sich die beiden anderen Lumianen an die Plätze der Jung-Kargai stellten, die daraufhin wieder in den Tiefen des Hügels verschwanden.
„Ich heisse euch willkommen, Reisende aus Gletschern. Wir alle sind froh, dass ihr so rasch zu unserer Hilfe kommen konntet. Ich sehe, ihr habt auch die jungen Männer mitgebracht, für die es in unserem Langhaus Platz gegeben hat."
Sie gab den jungen Dorfleuten, die beisammen vor dem Langhaus der Jugendlichen standen einen Wink.
„Nehmt euch der Neuankömmlinge an. Sie müssen erschöpft sein von der Reise."
Ein junges Mädchen trat vor und wartete, bis drei der Männer aus Gletschern sich aus der Gruppe gelöst hatten und mit ihren Karduks im Schlepptau zu ihr herüberkamen. Als die drei ihre Kapuzen zurückklappten, konnte man an ihren einfachen Gesichtern und dem strubbeligen Haar sehen, dass sie eindeutig keine Kargai waren. Sie schienen von der Reise auch sehr erschöpft zu sein und waren sichtlich froh darüber, dass sie nun wieder unter Ihresgleichen waren und nicht mehr mit den Kargai reiten mussten.
Die übrigen Neuankömmlinge blieben regungslos vor den drei Lumianen stehen. Da erhob sich plötzlich ein Raunen in der Menge. Es waren sieben, die vor Lossith standen – doch es durfte nur sechs Kargai geben. Auch Lossith schien verwirrt, doch auf eine Handbewegung des Reiters auf dem weissen Karduk hin, schlugen die sieben Männer ihre Kapuzen zurück, und erneut brandete das Gemurmel in der Menge auf. Dies waren alles Kargai, da gab es keinen Zweifel. Die blassen, ebenmässigen Gesichter, das lange, glatte Haar und die hellen Augen, das alles bewies ihre Abstammung zur Genüge.
Der Anführer war zweifellos der älteste von ihnen. Er hatte bereits das Alter erreicht, in dem sich die Kargai äusserlich nicht mehr veränderten. Die anderen waren etwas jünger, aber keiner von ihnen wirkte zu jung, um sein Amt als Kargai anzutreten, wie man es befürchtet hatte. Die beiden, die an den Enden des Halbkreises standen, schienen die Jüngsten zu sein. Sie waren zu Fuss und hielten jeder ein dunkles Kardukkalb am Zügel. Die beiden glichen sich wie ein Wassertropfen dem anderen.
Auf Befehl des Anführers sprangen alle Reiter vom Rücken ihres Reittiers und neigten die Köpfe vor den Lumianen. Dann trat der Älteste einen Schritt auf Lossith zu und ergriff das Wort.
„Ich danke Euch für Eure Begrüssung, edle Lumiane des Firns. Wir sind auf Euren Ruf hierher geeilt so schnell uns die Hufe unserer Karduks tragen konnten. Wie von Euch gewünscht, haben wir drei junge Männer mitgebracht, die das Alter haben, um in das Langhaus der Heranwachsenden zu ziehen. Gletschern ist froh, dass diese drei endlich nach Hornthal reisen konnten, doch wurde diese Freude dadurch getrübt, dass sie sich zugleich von allen Jung-Kargai trennen mussten. Es wird nun wieder Kinder im Haus der Lumianen von Gletschern geben, doch zog es auch nach sich, dass unsere Lumiane des Frostes das Dorf verliess um zum Feuerberg zu gehen."
Die drei Lumianen senkten den Kopf. Es war keine einfache Entscheidung gewesen, Gletschern mitzuteilen, dass sie alle Kargai verloren hatten. Kein Dorf trennte sich gerne von allen Jung-Kargai auf einmal. Doch waren sich die Lumianen des Firns einig gewesen, dass man die Gesetze einhalten musste: In jedem Dorf musste es zu jeder Zeit sechs Kargai geben, und wenn alle sechs auf einmal ums Leben kamen, so musste das Nachbardorf eben alle Jung-Kargai auf einmal senden, um das Amt der Gefallenen zu übernehmen. Schliesslich musste es aus diesem Grund in jedem Dorf immer sechs Jung-Kargai geben, die die alten Kargai des Nachbardorfes ersetzen konnten. Nun, in der nächsten Zeit durften in Hornthal keine Kargai mehr verunglücken, denn es würde eine Weile dauern, bis in Gletschern wieder sechs Kargai herangewachsen wären, um das Amt zu übernehmen. Lossith trat auf den Anführer der Jung-Kargai aus Gletschern zu und legte ihm die Hände auf die Schultern.
„Du musst ein Sohn von Harija sein, der Lumiane des Frostes aus Gletschern. Ich kannte sie gut – sie war immer eine gerechte Frau, die wusste, was für ihr Dorf am Besten war. Wenn sie sich entschieden hat, zum Feuerberg zu gehen, so schmerzt mich das sehr, doch verstehe ich ihr Handeln und bewundere sie dafür. Nur ungern riefen wir euch alle auf einmal zu uns, doch das Schicksal lässt sich nicht zwingen, und die Gesetze unseres Volkes sind eindeutig."
Als Lossith wieder von dem jungen Mann zurücktrat, atmete er einmal tief durch, als müsse er sich überwinden, etwas zu sagen, aber dann fasste er sich ein Herz und sagte, was gesagt werden musste.
„Edle Lumianen, wie Eurem scharfen Auge kaum entgangen sein wird, stehen vor Euch sieben statt der sechs erwarteten Kargai. Ich bin Bohir, Sohn von Harija, der Lumiane des Frostes. Zu meiner Rechten seht ihr meinen jüngeren Bruder Velden. Links von mir stehen Sihar und Landis, die Söhne der Lumiane des Firns, und neben Velden seht ihr Larije, den ältesten Sohn Hijels, der Lumiane des Sturms. Doch als letzte möchte ich Euch Sijn und Lycar vorstellen, die jüngsten Söhne von Hijel. Zwanzig Winter ist es nun her, dass sie diese Zwillinge geboren hat, doch war sie gemäss dem Brauch bei der Geburt alleine und starb dabei, ohne uns noch sagen zu können, welcher der beiden der Erstgeborene sei. Harija, die Lumiane des Frostes hat damals entschieden, dass die beiden Knaben einander völlig ebenbürtig aufgezogen werden sollen, und dass man zu einer Entscheidung kommen werde, wenn es Zeit für sie sei, Gletschern zu verlassen. In Eurer Not blieb keine Zeit für eine Entscheidung, und so legt Harija das Schicksal der Jungen in Eure weisen Hände. Edle Lumianen, ich vertraue nun Euch die Entscheidung an, was mit Sijn und Lycar geschehen soll."
Lossiths Gesicht war ausdruckslos, als sie antwortete.
„Es wird an der Lumiane des Frostes sein, dies zu entscheiden. Ich werde ihr mit meinem Wissen zur Seite stehen, doch ist mir kein ähnlicher Fall bekannt, und es wird nicht einfach sein, zu einem gerechten Schluss zu kommen. Bis die Entscheidung gefällt ist, heisse ich euch alle hier willkommen. Ihr werdet bis zu eurer Weihe ausserhalb des Dorfes leben müssen, wie es Brauch ist. Ich bitte euch daher, euer Lager am Eingang zur Hornklamm aufzuschlagen. In fünf Tagen, werden wir euch zur Weihe in die Halle der Lumianen rufen. An diesem Tag werden wir auch entschieden haben, was mit dem siebten Kargai geschehen soll."
Ohne ein weiteres Wort wandte sich Lossith um und verschwand wieder im Inneren des Schneehügels. Die anderen Lumianen folgten, und langsam senkte sich das Eistor wieder über die Öffnung im Hügel. Die Kargai aus Gletschern wandten sich ab und begaben sich ans Ende des Talkessels, wo sie ihre Zelte aufschlugen und Feuer entzündeten.
Sijn und Lycar sassen schweigend nebeneinander, ein wenig abseits von den fünf anderen Kargai bei den Zelten. Sie mochten nicht über die Zukunft reden – sie wussten nur zu gut, dass die lange Zeit des Wartens nun vorbei war. Mehr als zwanzig Jahre hatte man sie geduldet, und manchmal hatten sie beinahe vergessen, dass sie Zwillinge waren, von denen nur einer ein Recht darauf hatte, im Dorf zu leben. Zwillinge! Was für eine Schande, dass eine Lumiane Zwillinge gebar! In der Zeit, als die Brüder im Haus der Lumianen heranwuchsen, waren in Gletschern zweimal Zwillinge geboren worden. In einem Fall hatte man das schwächere der beiden Kinder sofort getötet, im anderen hatte sich ein Onkel der Familie bereit erklärt, zum Feuerberg zu gehen. Diese Zwillinge waren beide im Dorf aufgewachsen, aber sie wurden von niemandem gerne gesehen. Doch all das war nichts gegen Kargai-Zwillinge. In ihrer Familie konnte niemand zum Feuerberg gehen, denn als Söhne einer Lumiane und eines Kargai lebten sie im Haus der Lumianen, und dort musste es immer drei Lumianen und sechs Kargai geben. Da schon ihre Mutter bei der Geburt gestorben war und durch eine Jung-Lumiane ersetzt werden musste, konnte man nicht auch noch einen Kargai opfern, um beiden Zwillingen ein Recht auf Leben zu gewähren. Und so waren Sijn und Lycar zusammen aufgewachsen, in dem ständigen Bewusstsein, dass eines Tages entschieden würde, welcher von ihnen denn nun zum Kargai würde, und was den anderen für ein Schicksal erwartete. Sie waren sich nie darüber im Klaren, wie sie miteinander umgehen sollten. Zum einen waren da ihre brüderlichen Bande, die so weit gingen, dass jeder die Gedanken des jeweils anderen kannte, ohne sprechen zu müssen, zum anderen war da aber auch das ständige Wissen darum, dass dereinst nur einer von ihnen in Hornthal leben würde.
Mit den Jahren hatten Sijn und Lycar gelernt, Abstand voneinander zu halten. Sie hatten so selten wie möglich miteinander gesprochen, und die Blicke des anderen gemieden. Es war nicht einfach, sich auszuweichen, wenn man im selben Haus lebte und dieses nie verlassen durfte, aber es war notwendig. Sie konnten es nicht wagen, sich miteinander anzufreunden, da am Ende nur einer von ihnen gewinnen konnte.
Doch nun, als sie in Hornthal auf die Erfüllung ihres Schicksals warteten, fühlten sie sich einander näher als je zuvor.
Als sie sich in die Augen blickten, wurde ihnen auf der Stelle klar, dass sie an dasselbe dachten. Vor ungefähr fünf Sommern war Freyyr, ihr Vater, zu ihnen gekommen und hatte ihnen gesagt, dass es Zeit seiüber ihre Geburt zu sprechen.
„Ihr wisst", hatte er gesagt, „dass das Bergvolk in den Jahren der Kriege in die Berge geflohen ist, um sich vor dem Alten Feind zu verbergen. Bis heute leben wir in einer unwirtlichen Gegend, die kaum Nahrung und Schutz bietet. Deshalb gibt es auch nur wenige von uns, verteilt auf neun Dörfer, die gerade soweit voneinander entfernt sind, dass sie sich gegenseitig nicht die spärlichen Nahrungsquellen streitig machen. Das gefährliche Leben in den Bergen zwingt uns zu strengen Gesetzen. So können wir uns nicht erlauben, die Dörfer zu vergrössern. Seit Jahrhunderten leben nie mehr als sechzig Menschen in einem Dorf, und daran darf sich nie etwas ändern, wenn wir nicht eine Hungersnot heraufbeschwören wollen."
Die beiden Jungen hatten damals gelangweilte Gesichter gezogen – das waren Dinge, die man ihnen schon vor langer Zeit beigebracht hatte. Aber ihr Vater fuhr fort.
„Nun, viel über die Geschichte unseres Volkes ist verloren gegangen, doch einiges lässt sich erahnen. Die Dorfbewohner sind ein einfaches Volk. Durch die Entbehrungen sind sie hart und zäh geworden, aber sie sind auch furchtsam und nicht fähig, alleine eine Entscheidung zu treffen. Doch dann gibt es die anderen. In jedem Dorf leben drei Lumianen und sechs Kargai. Wir gehören demselben Volk an, und doch nicht. Haben wir auch grosse Ähnlichkeit mit den Dorfbewohnern, so sind wir doch anders. Es ist nicht nur das Äussere, was uns von ihnen unterscheidet, wir altern auch nicht auf die gleiche Weise wie die Leute im Dorf. Vielleicht ist euch schon aufgefallen, dass auch einige der Dorfbewohner langsamer altern als andere, aber keiner von ihnen ist wie wir. Wenn wir etwa dreissig Jahre alt sind, verändert sich unser Äusseres nicht mehr stark. Nur in unserem Geiste werden wir älter und reifer, und vielleicht auch einmal des Lebens überdrüssig. Doch bis dahin bleiben wir immer auf dem Höhepunkt unserer Kraft."
Lycar, der Ungeduldige, hatte seinen Vater unterbrochen.
„Das wissen wir alles Vater, aber du wolltest uns doch von unserer Geburt erzählen!"
Freyyr nickte.
„Nicht so ungestüm, mein Sohn. Es ist wichtig, dass ihr mir zuhört, denn alles ist miteinander verknüpft, und nur wenn ihr alles gehört habt, könnt ihr auch alles verstehen. Nun, es ist der nahe liegende Schluss, dass immer die Stärksten herrschen. Im Fall unseres Volkes sind dies die Lumianen und die Kargai – die Unsterblichen. Damit wir aber nicht zu unmenschlichen Despoten werden, unterliegt unsere Herrschaft klaren Bestimmungen. Zu jeder Zeit muss es in jedem Dorf drei Lumianen und sechs Kargai geben. Die Lumianen kümmern sich um die Gesetze, während die Kargai das Dorf beschützen. Wir Kargai haben grosse Kräfte, die uns das ermöglichen, aber das wisst ihr ja selber. Auch die Lumianen besitzen eine Art von Magie. Im Laufe ihrer Regierungszeit wird jede Lumiane mindestens drei Kinder haben. Ihr erstes Kind wird eine Tochter sein, die eines Tages ihr Amt übernehmen wird. Die anderen beiden sind Söhne, die zu Jung-Kargai werden und eines Tages das Dorf verlassen werden, um im Nachbardorf als Kargai zu leben. Geben und Nehmen – so war es immer. Um zu verhindern, dass alle im Dorf miteinander verwandt sind, darf kein Mann dort leben, wo er geboren wurde. Alle unsere jungen Männer gehen nach Hornthal, um dort zu leben. Dasselbe gilt auch für die Kargai. Eure Mutter hat sich an die Regeln gehalten. Mit Zaaras, einem anderen Kargai, hatte sie die Tochter und den Sohn, die das Gesetz ihr zu gebären gebot. Dann kam sie immer noch dem Gesetz entsprechend zu mir, der ich der Vater ihres zweiten Sohnes werden sollte – die zwei Söhne einer Lumiane müssen verschiedene Väter haben, wie ihr wisst. Doch Hijel erzählte mir einen Traum, der sie seit Tagen verfolgte. Sie wusste, dass sie ihre Magie nutzen musste, um einen Sohn zu empfangen, aber in ihrem Traum sah sie immer dasselbe: Zwei Söhne, die sich auf einem Felsengrat gegenüber standen. Sie kreuzten ihre Waffen, aber dann stand plötzlich ein flammendroter Stern am Himmel und einer der Söhne schleuderte seine Waffe in die Tiefe und ging himmelwärts, dem Stern entgegen. Hijel war überzeugt davon, dass dieser Traum ihr befahl, Zwillinge zu gebären. Ich war dagegen, aber was konnte ich schon tun? Mir sagte der Traum, dass es schlecht sei, Zwillinge zu haben, und dass sie sich nur im Kampf gegenüberstehen und vielleicht sogar töten würden. Ich überlasse es euch, darüber nachzudenken, meine Söhne. Solltet ihr zum Schluss kommen, dass ich Recht habe, dann solltet ihr den Gesetzen unseres Volkes Folge leisten – einer von euch sollte zum Feuerberg gehen. Wenn ihr jedoch an den Traum eurer Mutter glaubt, dann sucht ihn zu verstehen und folgt ihm."
Lycar war es, der als erster das Wort ergriff.
„Was hältst du eigentlich von der Geschichte mit Hijels Traum, Bruder?"
Sijn zögerte.
„Ich weiss nicht recht. Dass einer von uns seine Waffe wegwirft und einem Stern folgt? Es könnte schon sein, dass einem von uns etwas vorherbestimmt ist, das wir jetzt noch nicht erahnen können. Vielleicht wird tatsächlich einer von uns das Dorf verlassen – vielleicht sogar die Berge – und einer höheren Sache dienen. Was das allerdings sein könnte, weiss ich nicht."
Lycar schüttelte den Kopf.
„Ich denke, Vater hatte Recht. Ein roter Stern? Das waren wohl eher die Flammen des Feuerberges. Ich denke, Hijel wollte Zwillinge, und dieser Traum war eine Warnung. Er sollte ihr sagen, dass einer ihrer Söhne zum Feuerberg gehen müsse, wenn sie tatsächlich Zwillinge hätte."
„Nein, Bruder. Ich denke nicht, dass dem so ist. Wieso sollte Hijel Zwillinge haben wollen? Sie hatte bereits zwei Kinder. Als Lumiane wusste sie vermutlich sogar, dass die Geburt von Zwillingen sie töten würde. Trotzdem hat sie uns auf die Welt gebracht. Das muss einen tieferen Sinn haben."
Lycar kniff seine bernsteinfarbenen Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
„Wir werden ja sehen, was die Lumianen entscheiden. Aber ich habe das Gefühl, dass in fünf Tagen nur noch einer von uns am Leben sein wird."
Mit diesen Worten erhob er sich und ging zu den anderen Kargai hinüber, die um ein Feuer sassen und schwatzten.
Sijn blieb noch einen Moment lang alleine sitzen. Er fürchtete sich nicht vor dem Tod, aber der Gedanke, dass in fünf Tagen alles entschieden würde, machte ihm Angst. Was, wenn es tatsächlich einen Grund dafür gab, dass Hijel Zwillinge geboren hatte? Und was, wenn die Lumianen einen von ihnen zum Tod verurteilten? Wenn sich dadurch ihr Schicksal nicht erfüllen konnte? Wie würden die Lumianen wohl ihre Wahl treffen? Lycar und er waren sich in allem völlig ebenbürtig; wie also würden sie entscheiden, welcher von ihnen der neue Kargai sein würde?
Sijn erhob sich und ging hinüber zu seinem Kardukkalb. Er hatte es noch nicht lange, und es war noch zu jung, um geritten zu werden, aber es war immerhin ein wildes Karduk und somit der erste Schritt zum Kargai. Schon immer hatte das Bergvolk die kräftigen Karduks gefangen. Aus ihrer Wolle wob man warme Kleidung, die Milch war ein willkommenes Nahrungsmittel, ihre Exkremente gaben Brennstoff ab, und als Reit- und Lasttiere waren die kräftigen Tiere unersetzlich. Die wilden Karduks jagte man ihres Fleisches wegen; aus ihren Knochen schnitzte man Werkzeuge, aus den Hörnern fertigte man Gefässe und aus den Sehnen kräftige Schnüre.
Die Karduks waren dem Bergvolk in gewissem Sinne ähnlich. Auch unter ihnen gab es Tiere, die grösser und stärker wurden als alle anderen. Diese Karduks lebten viel länger als die normalen Tiere, und sie waren klüger und tapferer als diese. Doch solche Karduk wurden nur in Freiheit geboren, und die einzige Möglichkeit, eines von ihnen zu zähmen war, es als junges Kalb einzufangen, indem man sein Muttertier tötete und es dann selber von Hand aufzog. Wenn sie alt genug waren, verliessen daher die Jung-Kargai heimlich das Dorf und gingen in die Berge, um eines dieser wilden Karduks zu fangen.
Sijn erinnerte sich, noch an die Nacht, in der er aus dem Haus der Lumianen geschlichen war, und sich auf den Weg in die Berge gemacht hatte. Kein Dorfbewohner durfte ihn sehen, denn den Jung-Kargai war es streng verboten, nach draussen zu gehen. Der Mond war in dieser Nacht hinter Wolken verborgen gewesen, und es war so dunkel, dass Sijn kaum den Pfad fand, der auf die hohen Triften führte. Man hatte berichtet, dass sich dort im Moment eine Herde wilder Karduks aufhalte, bei denen es einige hübsche Kälber habe. Als Sijn die Hochebene erreicht hatte, hatte er sofort die Herde entdeckt, deren dunkle Körper sich scharf von der schneebedeckten Fläche abhoben. Er hatte sich langsam herangeschlichen, und schliesslich ein keines Kalb ins Auge gefasst, das munter neben seiner Mutter hersprang. Es war nahezu schwarz, was für ein Kardukkalb eher selten war. Diese Tiere wurden meist schneeweiss geboren und dunkelten im Lauf der Jahre nach. Die hellen Kälber waren im Schnee schwerer zu entdecken und waren so besser vor Gefahren geschützt. Je kräftiger ein Karduk war, desto dunkler wurde sein Fell. Leittiere waren jeweils fast schwarz, während die schwächsten Tiere bis ins hohe Alter schneeweiss blieben.
Sijn wusste, wie stolz Bohir, der älteste der Jung-Kargai auf sein wunderschönes, weisses Karduk war, aber er selber hatte sich immer vorgestellt, wie er auf einem schwarzen Tier reiten würde, das in Freiheit eine Herde hätte anführen können. Als er nun dieses dunkle Kalb sah, wusste er, dass seine Wünsche erhört worden waren. Ein Karduk, das schon als Kalb beinahe schwarz war, musste wahrlich ein Wundertier werden! Sijn hatte einen Pfeil auf die Sehne gelegt und mit einem gezielten Schuss das Muttertier erlegt. In dem Moment als die Kardukkuh stürzte, wandte sich die Herde in einer fliessenden Bewegung um und donnerte davon. Nur das dunkle Kalb blieb verloren neben seiner toten Mutter stehen. Nein, zwei Kälber! Das zweite Tier, das ebenso dunkel war wie das erste, hatte sich auf der anderen Seite seiner Mutter aufgehalten, so dass Sijn es nicht hatte sehen können. Als er sich langsam auf die beiden Kälber zu bewegte, entdeckte er plötzlich Lycar, der von der anderen Seite der Ebene her auf ihn zukam. Lycar grinste über das ganze Gesicht.
„Wir können einfach nicht leugnen, dass wir Zwillinge sind! Nicht nur, dass wir in der gleichen Nacht auf Kardukjagd gehen, nein, wir entscheiden uns auch noch für Zwillingskälber!"
Das Muttertier war nur von einem einzigen Pfeil getroffen worden, und sie hatten nie herausgefunden, ob es Sijn oder Lycar gewesen war, der die Kardukkuh getötet hatte, aber da es zwei Kälber gab, spielte das auch keine Rolle. Die Brüder hatten jeder eines der Tiere eingefangen und nach Hause geschafft. Das war jetzt etwa zwei Monde her, und inzwischen hatte sich das Jungtier an Sijn gewöhnt. Als er zu ihm hintrat, begrüsste es ihn mit einem freundlichen Schnauben. Sijn klopfte ihm den Hals und strich ihm dann sanft über den Hals. Bald würde er damit anfangen, seinen Rücken mit seinem Gewicht zu belasten, um es daran zu gewöhnen, einen Reiter zu tragen. Wenn er ein Kargai wäre, könnte er dann sogar ausreiten, und die Enge des Dorfes hinter sich lassen! Wenn er ein Kargai wurde... Sijn schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben, die wie schwarze Vögel in seinem Kopf kreisten, und ging nun auch zu den anderen zukünftigen Kargai von Hornthal hinüber, um sich abzulenken.
