Disclaimer:Und weiterhingehören die Elben und ganz Mittelerde Tolkien und seinen Erben.
das Einhorn: Ich muss dich leider enttäuschen: Kirgu kommt erst nächste Woche. Jetzt ist erst mal wieder Sijn an der Reihe... (Ich werde bis dahin versuchen, Kirgu ein wenig zu beruhigen. Sie schätzt es gar nicht, wenn man sie als hutzliges Kräuterweibchen bezeichnet grins)
Der siebte Kargai
Fünf Tage waren vergangen seit die Kargai aus Gletschern eingetroffen waren, und seither lagerten sie am Ende der Hornklamm, am Ufer des Silberbachs. Ab und zu kamen die Kinder aus dem Dorf zu ihnen und brachten ihnen etwas zu Essen mit, aber die meiste Zeit waren sie für sich. Am Morgen des fünften Tages jedoch, kamen zwei Männer aus dem Dorf zu ihnen und baten sie, sich zum Rat der Lumianen zu begeben.
Die sieben Kargai zogen ihre Kapuzenmäntel über und gingen hintereinander durch das Dorf bis hin zum Hügel am See. Das Tor im Hügel war offen, und die Treppe, die in die Tiefe führte war von blau leuchtenden Lampen erhellt. Ein Jung-Kargai, der am Eingang wartete, nickte den sieben Männern zu und bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
Hinter ihrem Anführer Bohir stiegen sie langsam die Eistreppe hinab, die sich in sanftem Bogen in die Tiefe wand. Die Wände waren mit geschwungenen Linien verziert, die ins Eis gemeisselt waren, und die blauen Lampen waren so in die Wände eingelassen, dass sie diese Muster schwach aufleuchten liessen. Nach unten hin wurden die Stufen breiter und die Wände wichen zurück, bis der Gang schliesslich in eine riesige Halle mündete, die licht und hell war, obschon hier weder Lampen noch Fackeln zu sehen waren. Die Schritte der Kargai hallten von den Wänden wider, als sie sich dem Ende der Halle näherten, wo in einer halbrunden Ausbuchtung in der Wand drei Throne aus Eis auf einer leicht erhöhten Plattform standen. Dort sassen bereits die drei Lumianen und erwarteten die Ankunft der Kargai.
Sijn betrachtete bewundernd die hohe Halle, die überall von Säulen gestützt wurde. Alles war aus Eis, und es gab keinen einzigen Flecken, der nicht mit kunstvollen Schnitzereien verziert war. An den Säulen rankten sich Pflanzen aus Eis nach oben, wo sie in schillernder Blütenpracht über die Decke hin wucherten. Vögel und kleine Tiere, wie man sie in den Bergen nicht kannte, sassen zwischen den Blättern und blickten auf die Anwesenden hinunter, als ob Leben in ihnen wäre. Doch es war die Hallendecke selber, die Sijns Blick auf sich zog. Sie war durchscheinend, und schimmerte leicht hellgrün. Sijns Blick traf sich mit demjenigen Bohirs und dieser nickte leicht. Sie befanden sich unter dem See. Doch wo war das Wasser? Als Sijn nun aufmerksam lauschte, hörte er tatsächlich von irgendwo her ein leises Rauschen, doch er konnte sich trotzdem nicht vorstellen, wie diese Halle gebaut war und wo sie sich genau befanden.
Lossith, die Lumiane des Firns wartete geduldig, bis sich die Kargai umgesehen hatten, dann begann sie zu sprechen. Obschon sie nur leise redete, war sie dank der Bauweise der Halle, die jeden Ton verstärkte, klar und deutlich zu verstehen.
„Ich begrüsse euch hier in der Halle der Lumianen, edle Kargai. Fünf Tage ist es her, dass ihr in Hornthal angekommen seid, und nun ist es Zeit, dass ihr die Weihe der Kargai empfangt. Gemäss der Tradition müsst ihr anschliessend an unser Gespräch das Dorf verlassen und euch auf den Gipfel der Winterspitze begeben. Es ist ein gefährlicher Aufstieg, besonders nachts, seid also vorsichtig dabei. Bis zum Morgengrauen müsst ihr auf dem Gipfel wachen, dann sollt ihr über die Südflanke des Berges absteigen und euch voneinander trennen. Jeder von euch muss für sich das Tier erlegen, dessen Fell seinen Mantel zieren wird. War eure Jagd erfolgreich, so kehrt ihr ins Dorf zurück. Ist auch der Letzte wieder hier in der Halle eingetroffen, werdet ihr eure Weihe empfangen und danach die neuen Kargai von Hornthal sein. Von nun an bis zu eurer Weihe dürft ihr kein Wort mehr sprechen, denn euer Geist muss in Stille geläutert werden."
Sie deutete auf die gegenüberliegende Wand, wo, wie die Kargai jetzt sahen, sieben Gestelle aufgebaut waren, auf denen verschiedene Gegenstände lagen.
„Die Rüstungen und die Waffen der Kargai – eigens für euch angefertigt. Tragt sie mit Würde, denn sie sind einzigartig."
Es waren sieben Gestelle! Die Kargai wechselten kurze, verwunderte Blicke, bevor sie sich jeder zu einem hin begaben. Für jeden Kargai lag hier eine vollständige Rüstung bereit. Traditionsgemäss war sie aus Gletschereis geschnitten, und dann nach geheimen Verfahren geschmiedet worden, so dass weder Wärme noch Feuchtigkeit sie jemals zum Schmelzen bringen würden. Das Eis glänzte hell – noch waren keine Scharten auf der Rüstung, ebenso wenig wie auf den langen Eisschwertern.
Die Kargai wussten sehr gut, dass ihre Rüstungen nicht unzerstörbar waren. Das Eis bot einen guten Schutz, aber mit der Zeit wurde es trotz allem verkratzt und zerbeult. Dann musste man nach und nach die einzelnen Rüstungsteile gegen neue austauschen. Dadurch, dass die Kargai dies selber machten, wurde jede Rüstung mit der Zeit einzigartig. Manche verstärkten sie mit Eisen, andere verzierten sie mit Bergkristall oder mit den Zähnen erlegter Tiere.
Das Schmieden von Eisrüstungen war eine heikle Angelegenheit. Das Eis wurde mit einer Flüssigkeit bestrichen und dann im Schmiedefeuer gehärtet. Liess man es zu lange im Feuer, so schmolz es trotz allem, zog man es jedoch zu schnell wieder heraus, bildete sich nicht der gewünschte Schutz. Dazu kam, dass man das Eis mehrmals nacheinander ins Feuer halten konnte. Mit jedem Mal wurde das Eis ein wenig härter und widerstandsfähiger, aber mit jedem Mal nahm auch die Gefahr zu, dass sich das Eis verfärbte. Es konnte nämlich geschehen, dass die Flüssigkeit, mit der man die Rüstung bestrich, sich mit einem Schlag mit dem Eis verband. In diesem Fall wurde die Panzerung nahezu unzerstörbar, aber sie verfärbte sich gleichzeitig auch schwarz, und wurde daher unbrauchbar für die Kargai.
Wenn sie nämlich in den Kampf zogen, mussten sie sich im Schutz von Eis und Schnee anschleichen können, um dann plötzlich aufzustehen und ihre Feinde mit dem Licht, das sich in ihren Schilden und Rüstungen brach zu blenden. Eine schwarze Rüstung machte das Anschleichen unmöglich und sie blendete auch nicht, so das man den Feind nicht überraschen konnte. Da die Kargai jedoch nur zu sechst kämpften, und ihre Gegner oft in der Überzahl waren, war es unabdingbar, dass sie den Feind aus dem Hinterhalt angriffen und ihn durch das grelle Scheinen ihrer Rüstungen verwirrten.
Die Rüstungen, die die sieben Kargai nun überzogen, waren einfach und ohne jede Verzierung. Es war an ihnen, diese später anzubringen. Obschon die Eisplatten ziemlich dick waren, blieb die Rüstung als Ganzes erstaunlich leicht und schränkte die Bewegungsfreiheit kaum ein. Die Schwerter dagegen waren lang und schwer, und manch einer der jungen Kargai fragte sich, wie er damit jemals kämpfen lernen sollte. Noch dazu, weil man in der anderen Hand einen Schild halten musste, der nicht nur gross sondern auch recht schwer war. Diese Schilde waren leicht nach innen gewölbt und spiegelglatt. Im richtigen Winkel gegen die Sonne gehalten, bündelten sie das Licht zu grellweissen Strahlen, deren Helligkeit von blossem Auge nicht zu ertragen war.
Als alle Kargai ihre Rüstung trugen und sich mit Schwert und Schild bewaffnet hatten, rief Lossith die Zwillinge zu sich.
„Ihr seht, wir haben sieben Rüstungen angefertigt, da ihr zu siebt gekommen seid. Ihr seid alle Kargai, und wir können nicht willkürlich einen von euch ausschliessen. Trotzdem mussten wir, was euch betrifft, eine Entscheidung treffen. Ihr werdet zusammen mit den anderen die Nachtwache halten, danach werdet ihr aber gemeinsam auf die Jagd gehen. Südlich der Hornklamm gibt es eine zweite enge Schlucht, die in gleicher Richtung wie die Hornklamm verläuft. Wenn man ihr folgt, kommt man zu einer Höhle, wo eine Wolfsmutter ihre Jungen aufzieht. Ich will, dass einer von euch ein Wolfsfell mitbringt. Der andere dagegen wird nicht von dieser Jagd zurückkehren. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?"
Sijn und Lycar warfen sich einen flüchtigen Blick zu und nickten dann. Lossith sah sie mitleidig an.
„In unserer Geschichte gab es nur einmal einen ähnlichen Fall, als ein Kargai in den Bergen abstürzte. Man hielt ihn für tot und forderte einen Jung-Kargai aus dem Nachbardorf an. Doch als dieser auf dem Weg zum Dorf war, entdeckte er einen Verletzten, der am Fuss einer Felswand lag. Er trug ihn den langen Weg bis zum Dorf, um dort zu erfahren, dass dies der Kargai war, den er hätte ersetzen sollen. Was war zu tun? Man konnte den Jung-Kargai nicht zurückschicken, aber man konnte auch den alten Kargai nicht aus dem Dorf verjagen. Beide hatten gleichermassen das Recht da zu sein, und beide konnten nichts dafür, dass einer von ihnen überzählig war. Schliesslich schickte man die beiden zusammen auf die Jagd. Nur einer kam zurück, und das Problem war gelöst. Uns ist bewusst, dass dies eine unschöne Lösung ist, aber es ist die einzige, die wenigstens eine Spur von Gerechtigkeit in sich trägt. Lebt wohl, Kargai. Ich wünsche euch Glück – euch beiden."
Als letzte verliessen Sijn und Lycar die Halle der Lumianen und stiegen die Treppe hinauf. Draussen traf sie der kalte Wind wie ein Schlag ins Gesicht. Einige der Kargai klappten die Visiere ihrer Helme herunter, andere nahmen die Helme ab und zogen die Kapuzen ihrer Mäntel tief in die Stirn. Langsam machte sich der Zug auf den Weg zur Winterspitze. Es war ein anstrengender Anstieg, und der Wind wurde immer stärker und brachte Schnee mit sich, der die jungen Männer mit eisigen Nadeln piesackte.
Das Tageslicht schwand; es wurde schnell dunkel. Der Pfad stieg immer steiler an und führte schliesslich nach einer letzten Kehre über einen schmalen Grat. Rechts und links davon fielen die Felswände fast senkrecht in die Tiefe ab. Sijn musste zwingend an den Traum seiner Mutter denken und blickte unwillkürlich zum Himmel auf, ob irgendwo ein roter Stern zu sehen war. Doch der Wind blies unvermindert stark und es schneite immer noch so heftig, dass man kaum denjenigen sehen konnte der vor einem her ging, geschweige denn einen Stern am Himmel.
Es dauerte Stunden, bis die Kargai den Gipfel der Winterspitze erreicht hatten.
„Wenigstens müssen wir jetzt nicht so lange herumsitzen und warten, weil uns der Aufstieg soviel Zeit gekostet hat", dachte Sijn, der vor Kälte zitterte.
Hier oben gab es eine kleine Plattform, umgeben von hohen Felsen. Wenn sie sich niederkauerten, fanden sie wenigstens ein bisschen Schutz vor dem Wind. Die Nacht schien ewig zu dauern. Auch wenn sie nicht miteinander sprechen durften, suchten die Kargai die gegenseitige Nähe. Sie drängten sich aneinander und verfluchten ihre Eisrüstungen, die nicht die geringste Wärme spendeten. Ob bewusst oder unbewusst liess man die Zwillinge etwas abseits von der Gruppe ausharren. Alle hatten gehört, was Lossith zu ihnen gesagt hatte, und es schien, als wolle man sich ihnen nicht nähern, bis man wusste, welcher der beiden leben würde.
Sijn starrte gedankenverloren vor sich hin und sein Blick fiel auf den Felsblock ihm gegenüber. Die obere Kante hatte eine Form, die entfernt an den Kopf eines heulenden Wolfes erinnerte. Gerade als der junge Kargai dies festgestellt hatte, leuchteten die Augen des Wolfes hell auf, und er wandte ihm den mächtigen Schädel zu. Entsetzt sah Sijn, wie das Tier seine mächtigen Pfoten aus dem Fels löste. Kleine Felssplitter flogen in alle Richtungen, als der Wolf sich auf den Hinterbeinen aufrichtete und auf Sijn zusprang. Er legte ihm seine steinernen Pfoten auf die Schultern und blies ihm seinen warmen Atem ins Gesicht. Seine gelben Augen verengten sich und plötzlich flammte ein roter Stern auf der Stirn des Wolfes auf. Ohne dass Sijn seinen Blick abwenden konnte, musste er zusehen, wie sich das steinerne Tier in einen Kargai in schwarzer Rüstung verwandelte. Der Kargai schob das Visier seines Helms hoch, und Sijn sah in das Gesicht einer Frau, deren Augen verschiedenfarbig waren. Sie lächelte ihm zu, wandte sich ab und trat in den Schatten des Felsblocks, aus dem sich der Wolf zuvor befreit hatte. Ehe Sijn es sich versah, war die Frau mit dem Fels verschmolzen, als wäre sie niemals da gewesen. Er blinzelte ein paar Mal, sah sich um und bemerkte, dass die meisten seiner Gefährten abwesend in die Ferne blickten, als zeigten sich auch ihnen Dinge, die nur für ihre Augen sichtbar waren.
Der Wind hatte nachgelassen und es fiel kaum noch Schnee. Sijn entdeckte einen hellen Streifen am Horizont. Einen Moment lang fragte er sich, ob er schon wieder einer Vision zum Opfer falle, aber dann begegnete er Lycars Blick und sie verstanden sich wieder einmal schweigend. Mit schmerzenden Beinen erhoben sich die Brüder, stolperten ein paar taumelnde Schritte vorwärts, reckten und streckten sich und machten sich dann an den Abstieg. War der Aufstieg schon schwierig gewesen, so war der Weg hinab noch viel schlimmer. Die ungewohnten Rüstungen behinderten sie, und das Gewicht der Panzerung brachte sie bald einmal ausser Atem. Der Pfad war spiegelglatt, und mehr als einmal stürzte einer der beiden und riss den anderen mit sich. Unbewusst halfen sie sich jeweils wieder hoch, obwohl Sijn mehr als einmal der Gedanke kam, dass ein kleiner Stoss genügen würde, um ihn zum sechsten Kargai zu machen. Den Sturz vom Grat hätte keiner von ihnen überlebt. Falls Lycar dasselbe dachte, so liess er sich nichts anmerken. Gemeinsam schafften sie es, ins Tal zu kommen und machten sich dann daran die Schlucht zu suchen, von der Lossith gesprochen hatte.
Es war eine schmale Spalte im Fels, schmaler noch als der Eingang zur Hornklamm. Sijn zwängte sich zwischen den hohen Wänden hindurch bis er zu einer Verbreiterung kam. Hier wartete er auf Lycar. Es war besser sich den Wölfen gemeinsam zu stellen. Danach würde man weitersehen... Sijn seufzte. Er wusste nicht, ob er es übers Herz bringen würde, Lycar zu töten, selbst wenn dies für ihn die einzige Möglichkeit war, ein Kargai zu werden. Wo sein Bruder nur blieb? Sijn zögerte, ob er zurückgehen sollte um nachzusehen. Da hörte er einen Ruf, der von oben zu kommen schien. Suchend blickte Sijn in die Höhe und entdeckte tatsächlich seinen Bruder an der oberen Kante der Felswand zu seiner Rechten stehend. Wie war er so schnell dort hinauf gekommen? Und vor allem – was tat er dort oben?
Lycar hob die Hand und Sijn hörte ein bedrohliches Donnern. Es dauerte nur einen Augenblick, bis er verstand. Ihn sollte das gleiche Schicksal ereilen wie die Kargai aus Hornthal. Lycar löste dort oben eine Lawine aus!
Verzweifelt begann Sijn zu rennen. Nach unten zu war die Schlucht breiter und er kam schneller vorwärts. Mit ein bisschen Glück fand er vielleicht noch rechtzeitig einen schützenden Felsvorsprung oder sogar eine kleine Höhle. Das unheilvolle Donnern hinter ihm kam näher und näher. Einmal mehr verfluchte Sijn die Rüstung, die ihn in seinen Bewegungen behinderte, und den Helm, der ihm die Sicht nahm. Im letzten Moment entdeckte er eine schmale Felsspalte zu seiner Linken, und mit einer letzten verzweifelten Anstrengung zwängte er sich hinein. Ein scharfer Geruch schlug ihm entgegen, aber darum konnte er sich jetzt nicht kümmern.
Es gab ein unangenehmes Geräusch, als sich die Eisrüstung an den Felskanten rieb, und plötzlich ging es nicht mehr weiter. Er steckte fest! Bereits tobte die weisse Staubwolke heran und nahm ihm den Atem. Mächtige Eisstücke, aber auch Felsbrocken tosten die Schlucht hinab, und einer davon traf Sijn mit Wucht an der Schulter. Ein heftiger Schmerz durchzuckte den jungen Kargai, aber dieser Schlag hatte genügt, um ihn noch ein bisschen tiefer in die Felsspalte zu zwängen und er spürte, dass er sich nun aus eigener Kraft befreien konnte. Mit einer letzten verzweifelten Kraftanstrengung warf sich Sijn noch einmal nach innen, und er war frei. Vom eigenen Schwung getragen strauchelte er in die Höhle, die sich vor ihm öffnete, blieb mit dem Fuss an etwas hängen und schlug der Länge nach hin.
Für eine Weile blieb er wie betäubt liegen und lauschte auf den ohrenbetäubenden Lärm der Lawine, die vor der Höhle vorbeitoste. In seiner Schulter wütete ein pochender Schmerz, und jeder Atemzug brannte wie Feuer in seinen Lungen. Nur langsam beruhigte sich sein rasender Herzschlag, und Sijn verspürte Erleichterung, als ihm klar wurde, welcher Gefahr er gerade entronnen war. Er entspannte sich und setzte sich langsam auf, um die Höhle zu untersuchen, in die er sich gerettet hatte. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er nicht alleine war. Der Geruch, den er schon am Eingang wahrgenommen hatte, war unverkennbar der von Raubtieren. Langsam und vorsichtig stand der Kargai auf und blickte sich um. Es war stockdunkel in der Höhle – nicht der geringste Lichtstrahl fiel durch die schmale Felsspalte herein. Doch er hörte, dass sich neben ihm etwas bewegte und griff nach seinem Schwert. Die Waffe war verschwunden. Vermutlich hatte er sie auf seiner Flucht vor den heranstürzenden Schneemassen verloren.
Nun, es musste die Wolfshöhle sein, von der Lossith gesprochen hatte, in der er sich jetzt befand. In diesem Fall befand sich hier drin nur ein Weibchen mit seinen Jungen. Mit einem einzigen Wolf sollte er eigentlich fertig werden, wo er doch ein ausgebildeter Krieger war. Sijn tastete langsam um sich herum den Boden ab, in der Hoffnung einen scharfkantigen Stein zu finden, doch stattdessen berührte seine Hand warmes Fell. Er zuckte zurück und wartete auf zuschnappende Kiefer, doch nichts geschah. Stattdessen hörte er ein leises Winseln und plötzlich stiess eine feuchte Schnauze an seine Hand.
Die Wölfe waren verängstigt; sie fürchteten sich vor der Lawine und interessierten sich deshalb nicht für Sijn. Wollte er die Höhle lebend verlassen, so musste er einen Weg finden, dass sie ihn auch nicht als Beutetier oder als Feind ansahen, wenn ihre Angst verflogen war.
Langsam öffnete sich Sijn den wilden Kräften der Natur. Wie alle Kargai war er in der Lage, auf seine Umgebung einzuwirken, indem er diese Kräfte beeinflusste. Doch die Natur war mächtig, und ein einzelner Kargai konnte nicht viel ausrichten. Es war möglich, die Kräfte ein wenig umzuleiten, aber nicht, sie dauerhaft zu verändern. Sijn konnte das Wasser eines Bachs schneller oder langsamer fliessen lassen, aber er konnte ihn nicht in die Gegenrichtung strömen lassen. Er konnte die Fallrichtung eines herabstürzenden Felsbrockens verändern, aber er konnte ihn nicht nach oben fliegen lassen. Ein Kargai konnte auch eine Lawine auslösen, wenn eine Schneewechte sowieso kurz davor war abzubrechen, dachte Sijn bitter, bevor er sich wieder zu konzentrieren versuchte.
Wenn sich mehrere Kargai zusammentaten und ihre Kräfte vereinten, konnten sie mehr ausrichten. Gemeinsam war es ihnen möglich, das Kraftgeflecht stärker zu beeinflussen und die Umgebung dauerhafter zu verändern. Auf diese Weise hatten sie sich am Tag ihrer Ankunft in Hornthal den Weg durch die Hornklamm gebahnt, indem sie gemeinsam die Schnee- und Eismassen zur Seite geräumt hatten.
Das Problem mit den wilden Kräften war nicht, sie zu verändern. Die Schwierigkeit lag vielmehr darin, dass man sie durch sich hindurch strömen lassen musste, um sie beeinflussen zu können. Konnte man diesen Fluss nicht beherrschen, so konnte es einem den Verstand rauben, oder einen sogar töten. Doch wenn Sijn jetzt nicht handelte, war er so oder so tot, und so öffnete er seinen Geist vollständig den wilden Kräften. Er spürte, wie die Macht ihn durchströmte, und er liess sie auf sich wirken. Nun nahm er die acht Wölfe wahr, die dicht aneinandergedrängt am Boden kauerten. Es waren mitnichten Welpen – Sijn wusste genau, dass er vor sich sechs ausgewachsene Wölfe und zwei ältere Jungtiere hatte. Er erkannte jetzt auch die Form der Höhle, entdeckte den Gang, der sich am hinteren Ende in einem steilen Winkel nach unten wand, und den unterirdischen See, in den der Gang mündete. Sijn fühlte, dass die Lawine draussen zur Ruhe gekommen war, aber auch, dass der Schnee meterhoch vor der Felsspalte aufgetürmt war und den Ausgang versperrte.
Im ersten Moment war Sijn von der Vielfalt der Eindrücke überwältigt, und sein Schädel schien zerspringen zu wollen, aber dann ebbte der Schmerz langsam ab, und der junge Kargai begann behutsam damit, die wilden Kräfte zu formen. Noch nie hatte er soviel Kraft auf einmal durch sich strömen lassen, und ihm schwindelte, aber er merkte rasch, dass er sich trotzdem konzentrieren konnte, und dass das Formen der Kräfte nicht viel schwieriger war, als wenn er nur einen schwachen Strom durch sich hindurch fliessen liess. Er öffnete seinen Geist gegenüber den Wölfen und begann sich vorzustellen, er wäre selbst ein Wolf. Er nahm den Geruch des Rudels an, prägte ihnen das Bild eines jungen Wolfes ein und fühlte schliesslich, wie die Wölfe näher an ihn heranrückten. Sie akzeptierten ihn als einen der ihren.
Langsam verschloss sich Sijn wieder den wilden Kräften, doch es war nicht einfach herauszufinden, wie viel davon er weiterhin brauchte, um die Täuschung gegenüber den Wölfen aufrechtzuerhalten. Wann immer er sich zu sehr verschloss, wurden die Tiere unruhig, aber er konnte auch nicht für immer allen Kräften gegenüber offen bleiben – er glaubte schon zu spüren, wie ihn sein Verstand verliess.
Stundenlang harrte der Kargai in der Höhle aus, gewärmt von den Wölfen, die sich an ihn kuschelten. Er war in einer Art Dämmerzustand, hatte wirre Träume und schreckte immer wieder hoch, aber er erlaubte sich nicht, ganz einzuschlafen. Er wusste nicht, ob er im Schlaf seine Täuschung hätte aufrechterhalten können. Schliesslich wurden die Wölfe unruhig; immer wieder stand einer von ihnen auf und versuchte, sich durch die Felsspalte nach draussen zu zwängen. Ab und zu kletterte eines der Tiere den Gang hinunter in die Tiefe, um zu trinken, aber Sijn merkte, dass die Wölfe hungrig wurden. Er selber litt inzwischen unter schrecklichem Durst, und so kroch er schliesslich auch hinunter zu dem See und trank von dem eiskalten Wasser. Die Flüssigkeit weckte seine Lebensgeister wieder, und er ging nun ebenfalls zur Felsspalte, um nach einem Ausweg zu suchen. Schnell war ihm klar, dass er sich niemals durch Graben würde befreien können. Zum einen war die Felsspalte zu schmal, so dass er nicht richtig zupacken konnte, zum anderen war es nicht nur Schnee, sondern auch Fels und Eis, das den Ausgang versperrte. Seufzend setzte sich Sijn wieder zu den Wölfen und wartete mit ihnen.
Alle Gefühle für Zeit und Raum gingen verloren, und Sijn spürte, dass er wie die Wölfe um ihn herum schwach und schwächer wurde. Immer seltener gingen sie hinunter zum Wasser, und eines der Jungtiere bewegte sich kaum noch. Der andere junge Wolf dagegen lag auf seinen Knien und leckte schwach seine Hand. Irgendwann winselte er leise und stupste Sijn mit der Schnauze ans Kinn, als wolle er ihn dazu bringen, ihm Nahrung hervorzuwürgen. Diese hilflose Geste rührte ihn, und der junge Kargai beschloss zu handeln. Er wusste, dass es ihn töten konnte, aber er musste sich noch einmal vollkommen den wilden Kräften öffnen.
Vielleicht war es die Erschöpfung, die ihn abgestumpft hatte, aber dieses Mal schien ihm die Flut von Eindrücken nicht ganz so schlimm zu sein wie beim ersten Mal. Die Wölfe spürten, dass sich etwas veränderte, und sie wichen vor ihm zurück. Taumelnd wankte Sijn zur Felsspalte, und streckte die Hand nach den Schneemassen aus. Auf dieselbe Weise, wie sie die Hornklamm freigeräumt hatten, wirkte er nun auf die Wand vor sich ein, und spürte tatsächlich, wie Bewegung in die Masse kam. Nach und nach rutschte der Schnee zur Seite, die Eisblöcke gerieten ins Wanken, ein Graben bildete sich vor der Felsspalte. Immer weiter wichen die Schneemassen zurück, bis der Weg nach draussen frei war. Kaum bemerkten die Wölfe die Öffnung, da stürzten sie sich auch schon an Sijn vorbei nach draussen. Der junge Kargai war zu Tode erschöpft. Er löste den Brustpanzer seiner Rüstung und warf ihn nach draussen, dann kletterte er selber hinterher. Ohne den Panzer fiel es ihm nicht schwer, sich durch die schmale Öffnung zu quetschen. Doch kaum war er draussen an der frischen Luft, übermannte ihn die Erschöpfung. Wie vom Blitz getroffen brach der junge Kargai zusammen und blieb regungslos liegen.
Als Sijn zu sich kam, war er vollkommen ausgelaugt und leer. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Moos ausgestopft, sein Mund war trocken und er zitterte vor Kälte. Es war Nacht, und ein blasser Mond stand über der Schlucht und liess den Schnee strahlendweiss leuchten.
Sijn versuchte sich aufzurichten, aber die kleinste Bewegung verursachte ihm Schwindel und liess eine unerträgliche Übelkeit in ihm aufsteigen. Sein Schädel klopfte zum Zerspringen, und er fühlte, dass ihm Blut aus der Nase tropfte. Erschöpft liess er sich wieder zurücksinken und wartete darauf, dass die Übelkeit nachliess.
Wie durch einen Nebel sah er plötzlich die grosse Leitwölfin auf sich zukommen, und entsetzt stellte Sijn fest, dass die Illusion von ihm abgefallen war, und ihn die Wölfe jetzt nicht mehr für einen der ihren halten würden. Der Kräftefluss war versiegt, deshalb fühlte er sich auch so leer. Sijn versuchte, sich noch einmal den wilden Kräften zu öffnen, aber er war viel zu schwach dazu. Ergeben schloss er die Augen und wartete auf den Tod. Er hörte, wie die Wölfin um ihn herumtappte, und fühlte, wie sie ihn mit ihrer kalten Schnauze anstupste. Dann geschah lange Zeit nichts.
Schliesslich öffnete Sijn die Augen wieder und sah, dass die Wölfin neben ihm lag. Als hätte sie seinen Blick bemerkt, wandte sie sich ihm zu und leckte ihm dann sanft das Gesicht. Sijn hatte weder die Kraft noch den Mut, das Tier abzuwehren, und so wartete er ab. Ein zweiter und ein dritter Wolf kamen zurück, und auch sie legten sich neben Sijn nieder.
Er musste eingeschlafen sein, denn als er erwachte, war es heller Tag, und alle acht Wölfe lagerten vor der Höhle. Einige der Tiere hielten ihn mit ihren Körpern warm, und Sijn wusste, dass er ohne sie erfroren wäre. Es war ihm ein Rätsel, weshalb die Tiere ihn nicht angegriffen hatten, aber er war ihnen unendlich dankbar für ihre Hilfe. Die Sonne stand bald so hoch am Himmel, dass ihre Strahlen auch den Boden der engen Schlucht erreichten, und Sijn zog seinen Mantel unter seinem Rücken hervor und deckte sich damit zu, so dass die Teile seiner Rüstung, die er noch trug, die Wölfe nicht blenden konnten, wenn das Sonnenlicht darauf fiel. Doch schon diese kleine Bewegung hatte ihn dermassen angestrengt, dass er nach Atem ringend zurücksank und einen Moment lang regungslos liegen bleiben musste, bis der Schwindelanfall vorbei war, der über ihn gekommen war.
Sijn fühlte sich furchtbar, und ihm war bewusst, dass er hier nicht ewig liegen bleiben konnte. Auch wenn die Wölfe ihn vorerst beschützten, wusste er nicht, wie lange das anhalten würde. Ausserdem brauchte er Nahrung, und mit Schnee allein konnte er auch seinen Durst nicht stillen. Aber so sehr sich der Kargai auch anstrengte, er schaffte es nicht einmal, sich in eine sitzende Position aufzurichten. Das zweimalige Anwenden der wilden Kräfte hatte ihn mehr geschwächt, als er es je für möglich gehalten hätte.
Schliesslich gab Sijn auf. Ergeben lag er da, schloss die Augen und wartete. Was sollte er auch anderes tun? Es konnte sein, dass er verhungerte oder verdurstete, es konnte sein, dass ihn die Wölfe doch noch töteten, aber es gab auch einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass seine Kräfte wenigstens soweit zurückkehrten, dass er aufstehen konnte. Dann könnte er versuchen, Moose und Flechten von den Felsen zu kratzen und zu essen, und Wasser aus dem unterirdischen See zu trinken, bis er vielleicht in der Lage wäre, ins Dorf zurückzukehren. Allein dieser Gedanke stärkte Sijns Überlebenswillen. Lycar hatte ihn getäuscht, er hatte ihn betrogen! Sein Bruder hatte es nicht verdient, ein Kargai zu sein! Aber er, Sijn, würde nach Hornthal zurückkehren, und er würde allen erzählen, was geschehen war. Und dann wollte er sehen, was die Lumianen entscheiden würden, wenn sie erst die Wahrheit kannten.
Doch im Moment konnte Sijn nur von solchen Dingen träumen und warten. Er sah zu, wie die Sonne wieder hinter den hohen Felswänden verschwand, wartete auf den Abend, die Nacht, den nächsten Morgen.
Einzig der Durst nach Rache hielt ihn noch am Leben – der Durst nach Rache und die Wölfe.
