Kirgu
Die Hütte von Kirgu Tammari lag am Rand der Felswüste Jira, dort wo die bizarren Felsformationen niedriger wurden und schliesslich von Dünen aus rötlichem Sand ersetzt wurden. Hier war der Übergang zu der Sandwüste, die sich im Süden Amaronds bis zum Gondramgebirge hinzog, und die ursprünglich durch den vergifteten Fluss Koron entstanden war und sich dann immer weiter ausgebreitet hatte. Kirgu war als junge Frau hierhergezogen, und seither war die Wüste immer näher an ihr Heim herangerückt. Es war ein kleines Haus, erbaut aus den knorrigen Bäumen, die als einzige in dieser kargen Landschaft überleben konnten. Nur wenige Meilen nördlich gab es einen kleinen Fluss, an dessen Ufer mehrere Dörfer lagen. Dort gabe es Wald und Wiesen, und man konnte sich kaum vorstellen, dass die Wüste so nahe war. Doch obschon Kirgu es bestimmt nicht einfach hatte, wollte sie ihre Heimstatt auf keinen Fall verlassen.
Als sie sich an diesem Tag der Hütte näherte, fiel Anarya zum ersten Mal auf, wie kunstvoll die Wände gezimmert waren. Das Holz war so aneinandergefügt, dass unten kein Wind die Wände durchdringen konnte. Oben dagegen hatte man die Stämme in ihrer natürlichen Form belassen, so dass sich die Äste wie ein Geflecht ineinander verwoben. Die Lücken die dadurch entstanden, liessen zwar immer frische Luft ins Innere des Hauses, aber das tief herabgezogene Dach verhinderte, dass der Wind Sand hineintragen konnte.
Als Anarya ihr Kamel vor der Haustüre anhielt und von seinem Rücken herunterglitt, fiel ihr auch zum ersten Mal auf, dass sämtliche Tür- und Fensterrahmen mit rankenartigen Schnitzereien verziert waren. Neben dem Haus befand sich auf einem eingezäunten Hof ein Ziehbrunnen, dahinter lag ein ebenfalls eingezäunter Garten, in dem Kirgu nicht nur Gemüse und Obst anbaute, sondern auch verschiedene, seltene Heilkräuter. An den Garten grenzte eine kleine Koppel, auf der fünf Ziegen, zwei davon noch sehr jung, und zwei Pferde standen. Die Tiere hoben allesamt den Kopf und kamen zum Zaun, als sie Anarya erblickten. Früher hatte Anarya sich vor den Pferden gefürchtet und sich gefragt, wie Kirgu alleine mit ihnen zurecht kam. Heute jedoch fragte sie sich, ob Kirgus Pferde jenem von Tiruial ähnelten. Auf jeden Fall verhielten sie sich nicht sehr bedrohlich, als Anarya an ihnen vorbei zur Haustüre ging.
Als Kirgu ihr die Türe öffnete, erschrak Anarya darüber, wie sehr die Kräuterfrau gealtert war, seit sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Noch immer war ihr Haar so rot wie Anaryas und ohne die geringste weisse Strähne, aber Kirgus Gesicht war hager und faltig, und ihre Wangen waren eingefallen. Sie hielt sich immer noch sehr aufrecht, und für ihr Alter bewegte sie sich gewandt, aber Anarya fiel auf, dass ein Spazierstock neben der Türe lehnte, so als ob die alte Frau das Haus nicht mehr ohne ihn verliesse.
Kirgu bat sie in die Küche, und bedeutete dem Mädchen sich an den kleinen Tisch am Fenster zu setzen. Hier, wo das Tageslicht auf das Gesicht der alten Frau fiel, bemerkte Anarya, dass die Augen der Frau gerötet waren, so als ob sie geweint hätte.
Noch bevor das Mädchen irgendetwas sagen konnte, stellte Kirgu einen Becher mit Fruchtsaft und ein Stück Kuchen vor sie hin und setzte sich dann zu ihr.
„Anarya, mein Kind, ich freue mich, dass dich dein Weg wieder einmal zu mir geführt hat. Du bist lange nicht mehr hier gewesen. Aber du bist ja jetzt auch alt genug, um zuhause zu helfen, und hast wohl wichtigere Dinge zu tun, als die alte Kirgu zu besuchen. Du warst bei den Ziegen, nicht wahr? Du musst müde sein, wenn du von den Weiden kommst. Ruh dich ein bisschen aus, aber dann solltest du dich auf den Weg machen, damit du noch vor dem Abend zu Hause bist. Deine Eltern sollen sich schliesslich keine Sorgen um dich machen müssen. Sie haben dich schon so lange nicht mehr gesehen und wissen, dass dein Bruder dich ablösen sollte. Bestimmt können sie es kaum mehr erwarten, dich wiederzusehen."
Kirgu liess Anarya nicht zu Wort kommen, sondern fuhr gleich fort.
„Du kannst mich gerne ein anderes Mal wieder besuchen kommen – wenn deine Eltern es erlauben, darfst du sogar hier übernachten. Dann können wir in die Wüste gehen, und ich zeige dir die Flechten, die dort an manchen Steinen wachsen. Man kann damit allerhand Farben zum Stoffe färben herstellen."
Die alte Frau knetete unruhig ihre Hände, und Anarya spürte, dass Kirgu sie nicht hier haben wollte. Es war offensichtlich, dass Tiruial bei ihr gewesen war, denn sonst hätte Kirgu kaum gewusst, dass ihre Hütezeit zuende gegangen war und sie nun auf dem Weg nach Hause war. Auch wenn sie vor Neugierde über den Grund für Tiruials Besuch fast platzte, war Anarya eigentlich bereit, der alten Frau ihre Ruhe zu lassen; aber dann fielen ihr die Worte des Elben wieder ein, und stockend brachte sie vor, was er ihr eingeprägt hatte.
„Ich bin jemandem begegnet, der mich zu Euch geschickt hat."
Kirgu versteifte sich. Mit angespanntem Gesichtsausdruck wartete sie darauf, dass Anarya fortfuhr.
„Er sagte mir, ich solle Euch ausrichten, dass ich alles von Euch lernen soll. Der Schwan brauche vielleicht einen neuen Hüter. Versteht Ihr das, Kirgu?"
Zu ihrem Entsetzen sah Anarya, dass die alte Frau in Tränen ausbrach. Kein Laut kam über ihre Lippen, aber sie barg das Gesicht in den Händen und ihre Schultern zuckten von unterdrückten Schluchzern. Anarya war hilflos. Noch nie hatte sie einen Erwachsenen so weinen sehen. Einen Moment lang sass sie einfach nur stumm und ängstlich da, aber schliesslich hob Kirgu den Kopf und lächelte das Mädchen unter Tränen an.
„Es tut mir leid, Kleines, aber in den letzten Tagen ist sehr viel geschehen, und es fällt mir schwer, damit fertig zu werden. Geh jetzt nach Hause zu deiner Familie und erzähl ihnen von deiner Zeit mit den Ziegen. Aber komm in ein paar Tagen wieder, und ich werde dir eine Geschichte erzählen. Wenn du dann noch willst, werde ich dich lehren. Doch lass mich hier und heute alleine mit meinen Gedanken."
Anarya gehorchte und machte sich auf den Weg, sobald sie ihren Tee getrunken hatte. Kirgu war ihr irgendwie unheimlich, und sie war fast ein bisschen erleichtert, als sie ihr Kamel auf den Weg zum Dorf lenkte und die einsame Hütte am Rand der Wüste hinter sich zurückliess.
Anarya wäre am liebsten bereits am nächsten Tag zu Kirgu geritten, aber ihre Eltern waren froh, sie wieder um sich zu haben, und liessen sie ein paar Tage nicht weggehen. Ausserdem gab es viel zu tun, und Anarya war von früh bis spät beschäftigt. Nach der langen Hütezeit war vor allem Anaryas Mutter der Meinung, ihre Tochter müsse wieder Manieren lernen, und so war das Mädchen von früh bis spät mit Nähen, Sticken und Spinnen beschäftigt, während die Mutter von den Anstandsregeln am Königshof erzählte. Schliesslich würde bald einmal die Zeit kommen, wo Anarya in die Hauptstadt reisen sollte, um am Hofe nach einem Bräutigam zu suchen.
In den ländlichen Gegenden Amaronds hatte ein Fürst nicht dieselben Privilegien wie in der Stadt. So war Anarya nicht in einem Palast, sondern in einem grossen, aber trotzdem einfachen Gutshof aufgewachsen. Ihr Vater, Fürst Bradwen von Fenring, arbeitete neben seinen Pflichten als Fürst ebenso auf den Feldern, wie alle seine Untergebenen, und auch für Anarya war es nicht ungewöhnlich, im Haushalt mit anzupacken. Doch in ein paar Jahren würde sie trotzdem für einige Zeit am Königshof leben und wenn möglich einen Ehemann finden.
Doch bis dahin war es noch lange hin, und Anarya dachte lieber nicht zuviel darüber nach. Erst nach einer Woche liess ihre Mutter sie zu Kirgu reiten, um ihr einen Sack Mehl, ein Paar Würste und eine Flasche Wein zu bringen.
Früh am Morgen sattelte Anarya ihr Kamel und machte sich auf den Weg. Die Sonne stand noch nicht hoch, und es wehte ein kühler Wind. Sie kam zügig voran, und bald einmal hatte sie Kirgus Haus erreicht. Obschon es immer noch recht früh war, stand die alte Kräuterfrau im Garten hinter dem Haus, wo sich ein paar Obstbäume und einige Gemüsebeete gegen die Angriffe der Wüstenwinde zu behaupten versuchten. Anarya fiel auf, dass der Boden zwischen den Beeten mit winzigen hellblauen Blüten überdeckt war, denen das Wüstenklima offenbar nichts anzuhaben vermochte.
Kirgu hörte das Mädchen kommen und wandte sich ihm zu. Sie wirkte nicht mehr so alt, wie noch vor einer Woche, vielmehr schien es, als würde neuer Lebensmut sie durchströmen. Strahlend eilte sie auf Anarya zu und führte sie zu der geschnitzten Holzbank an der Hauswand.
„Setz dich, Kind. Ich denke, wir können draussen sitzen – es ist zwar noch ein bisschen kühl, aber die Sonne wird die morgendliche Kälte nur zu bald vertrieben haben. Ich hole nur rasch etwas zu trinken, und dann werde ich dir eine Geschichte erzählen. So wie früher..."
Anarya erinnerte sich gerne an früher, wenn sie mit Lebensmitteln zu Kirgu geschickt worden war. Diese hatte sie dann immer mit Kuchen und Fruchtsaft auf einen Stuhl gesetzt und ihr Geschichten erzählt. Jetzt war Anarya alt genug, um zuhause zu helfen, und man schickte nun meist eines ihrer jüngeren Geschwister mit einem Korb voller Esswaren zu der alten Kräuterfrau.
Kirgu kam wieder aus dem Haus und brachte Tee mit. Sie schenkte Anarya und sich selber ein und setzte sich dann zu dem Mädchen.
„Nun gut, Anarya. Wie versprochen, werde ich dir heute eine Geschichte erzählen. Wenn du sie gehört hast, wirst du selber entscheiden müssen, was du von mir wissen willst."
Anarya nickte, und Kirgu fing an zu erzählen.
„Vor siebzig Jahren herrschte in Amarond Krieg. Zuvor hatte es einen harten Winter gegeben, und die Tarvik aus dem Norden litten Hunger. So hatten sie sich zusammengerottet um das reiche Land Farad im Südosten zu überfallen. Die Bewohner Farads besiegten jedoch die Angreifer mühelos und trieben sie hinaus in die Felswüste. Dort verbündeten sich die Tarvik mit den herumziehenden Nomaden und fielen in Amarond ein, wo die Menschen von Kälte und Hunger geschwächt waren. In Amarond hatte man nie einen Angriff aus der Wüste erwartet, und so wurde das amarondische Heer überrascht und vernichtend geschlagen. Die Tarvik besetzten die grossen Städte des Landes und zwangen die Dörfer zu hohen Abgaben. Widerspenstige Amaronder wurden als Sklaven nach Karmand verkauft oder öffentlich hingerichtet.
Es gab in Amarond kein offizielles Heer mehr, aber immer mehr junge Männer verschwanden in den Wäldern und rotteten sich zusammen um gegen die Tarvik zu kämpfen. Sie griffen aus dem Hinterhalt an, bauten Fallgruben, sägten Brückenpfeiler an und lockten die Tarvik in die Wüste hinaus. Ein hohes Kopfgeld war auf die Waldgeister ausgesetzt, wie man sie im Volksmund nannte. Es war bei Todesstrafe verboten, den jungen Männern Unterstützung zu gewähren, aber trotzdem gab es immer wieder Menschen, die sie mit Nahrung versorgten und ihnen Unterschlupf boten.
In jener Zeit lebte in einem Dorf hier in der Nähe ein junges Mädchen. Da einer seiner Brüder sich den Rebellen angeschlossen hatte, wurde es oft in den Wald geschickt, um den Waldgeistern Vorräte zu bringen. Unter dem Vorwand, Pilze zu sammeln, wanderte es mit einem Korb am Arm durch die Wälder und pflückte hier und da ein paar Pilze. Irgendwann versteckte das Mädchen den Korb im Gebüsch, um im See nach Krötengras zu tauchen, das man zum Färben von Stoffen verwenden kann, oder um in den Felswänden herumzuklettern und Südhangmoos zu sammeln, das gut gegen Erkältungen ist. Kehrte die junge Frau nach einiger Zeit zu ihrem Korb zurück, so war dieser voller Pilze, und die Vorräte, die sich darin befunden hatten, waren verschwunden. Sie sah nie, wie die Waldgeister den Korbinhalt austauschten, denn man hatte ihr streng verboten, ihnen aufzulauern.
Eines Tages, als sie sich durch das dichte Schilf am Seeufer kämpfte, um ans offene Wasser zu gelangen, entdeckte sie eine Gestalt, die mit dem Gesicht halb im Wasser lag. Im Rücken des Toten steckte ein Pfeil.
Die junge Frau wollte rasch an der vermeintlichen Leiche vorbeigehen, als sie ein leises Röcheln hörte. Rasch beugte sie sich über den Verletzten, um festzustellen, dass tatsächlich noch Leben in ihm war. Mit äusserster Anstrengung schaffte sie es, den Mann aus dem Schilf heraus ans feste Ufer zu schleppen. Dort sah sie sich seine Wunde näher an und stellte fest, dass der Pfeil zwar die Lederrüstung des Fremden durchschlagen hatte, aber nicht sehr tief in seinen Körper eingedrungen war. Die Wunde hatte sich jedoch entzündet und der Verletzte glühte vor Fieber.
Es musste sich bei dem Verwundeten um einen Waldgeist handeln, denn er trug nicht die Uniform der Tarvik, war aber wie ein Krieger gekleidet. Sein schwarzes Haar war am Hinterkopf zu einem straffen, jetzt aber halb aufgelösten Zopf geflochten, vermutlich um ihn beim Kampf nicht zu behindern. Die abgewetzten Unterarmschoner aus weichem, rotem Leder, von denen der linke am Handgelenk endete, während der rechte sich über den Handrücken hinzog und Zeige- und Mittelfinger umschloss, wiesen ihn als Bogenschützen aus – die Fingerlinge sollten verhindern, dass die Bogensehne mit der Zeit in die Haut einschnitt. Der Fremde trug auch einen Gürtel, an dem eine Schwertscheide befestigt war, doch diese war so leer wie der Köcher an seinem Rücken.
Das Mädchen rannte so schnell wie möglich zu seinem Korb zurück, in der Hoffnung dort einen Waldgeist anzutreffen, um ihm zu berichten, dass einer der ihren verletzt am Seeufer liege. Aber der Tausch hatte bereits stattgefunden, der Korb war voller Pilze, und es war weit und breit niemand zu sehen.
Als die junge Frau zu dem Verwundeten zurückkehren wollte, um ihm zu helfen, so gut sie es alleine vermochte, schwang sich plötzlich ein vermummter Mann von einem Baum herunter und verstellte ihr den Weg. Er gab sich als Waldgeist zu erkennen und erklärte dem Mädchen, dass der Verletzte nicht zu ihnen gehöre. Er sei auch kein Tarvik, und der Pfeil in seiner Schulter sei weder von den Waldgeistern noch von den Tarvik abgeschossen worden. Sie solle ihn einfach liegenlassen und die Natur ihr Werk vollenden lassen.
Die junge Frau hatte jedoch Mitleid mit dem Verwundeten und wollte ihn nicht dem sicheren Tod überlassen. So sagte sie dem Waldgeist, sie werde sich um den Mann kümmern, werde ihn aber fesseln, so dass er nicht entkommen könne, bis er gesagt habe, woher er komme und was er im Wald wolle. Es könne schliesslich nicht schaden, wenn man wüsste, von wem er angeschossen worden sei. Womöglich hätten die Tarvik neue Verbündete, von denen man in Amarond nichts ahne.
Der Waldgeist war nicht begeistert von ihren Worten, aber schliesslich gab er nach und versprach dem Mädchen, dass die Waldgeister den Mann in Ruhe zu lassen würden, solange er sich nicht vom Ufer des Sees entferne. Dann verschwand er im Schutz der Bäume und die Frau kehrte zu dem Verletzten zurück.
Als sie ihn behandelte, fiel ihr auf, wie anders er war als die Menschen, die sie kannte. Sein Alter war unmöglich zu schätzen, aber er war nicht ganz so jung, wie er auf den ersten Blick wirkte. Selbst mit seinem bleichen, eingefallenen Gesicht und dem verfilzten Haar war der Fremde auf eine seltsame Art schön. Es war nicht, was man gemeinhin als gutes Aussehen bezeichnete, sondern eine fast überirdische Schönheit, die ihr klar machte, dass dies kein normaler Mensch war. Er war ausgesprochen schlank, und aufrecht stehend wäre er wohl grösser gewesen als alle Männer im Dorf.
Es dauerte eine Woche, bis das Fieber des Mannes so weit gesunken war, dass er seine Umgebung wahrzunehmen schien. Die junge Frau hatte all ihre Heilkünste angewandt, um seine Wunde zu behandeln, aber sie wusste, dass er nicht eine einzige Nacht überlebt hätte, hätten sich nicht auch die Waldgeister um ihn gekümmert. Auch wenn sie sich bemühten, keine Spuren zu hinterlassen, so hatte Kirgu doch die Reste eines Feuers entdeckt, dass man während der Nacht neben dem Verletzten entzündet hatte.
Das Mädchen wusste auch, dass jetzt, wo der Mann sich zu erholen schien, die Besuche der Waldgeister ausbleiben würden. Gemäss dem Versprechen, das sie dem Waldgeist gegeben hatte, band sie dem Fremden Hände und Füsse, so dass ihn die Fesseln nicht schmerzten, ihn aber daran hinderten aufzustehen. Auch wenn sie ihn bei ihren Besuchen jetzt oft wach antraf, war eine Unterhaltung mit ihm unmöglich. Die junge Frau verstand seine schwach geflüsterten Worte so wenig, wie er ihre Sprache zu verstehen schien. So machte sie ihm mit Händen und Füssen klar, dass er hier in Sicherheit sei, sich aber auf keinen Fall von der Lichtung am Seeufer entfernen dürfe.
Weiterhin ging das Mädchen jeden Tag hinaus in den Wald, brachte den Waldgeistern ihre Vorräte und kümmerte sich dann um den Fremden. Am Ende der zweiten Woche erwartete er sie aufrecht stehend am Rande der Lichtung, seine Fesseln neben der Decke am Boden, wo er gelegen hatte. Er war immer noch sehr schwach, aber es war deutlich, dass er sich rasch erholte. Mit eindeutigen Gesten gab er der Frau zu verstehen, dass er die Lichtung nicht verlassen würde, aber nicht mehr gefesselt sein wolle.
Sie sassen jetzt oft gemeinsam am Ufer des Sees, und lernten beide die Sprache des anderen. Der Fremde machte rasche Fortschritte und war sehr bald in der Lage sich klar in der Sprache Amaronds auszudrücken. Die junge Frau dagegen tat sich schwer mit den weichen kehligen Lauten seiner Sprache, deren Klang sie an das Plätschern eines Gebirgsbaches erinnerte. Sie redeten viel über Amarond und den Krieg, aber über den Fremden erfuhr sie nicht viel mehr, als dass er Elruin hiess und aus dem Westen kam.
Die Zeit verging, und das Mädchen konnte nicht mehr täglich in den Wald gehen. Zum einen war es inzwischen Winter geworden, und wenn auch noch kein Schnee lag, so gab es doch nicht mehr viel, was sie im Wald hätte sammeln können. Die Pilzzeit war längst vorüber, und es wuchsen auch kaum noch Kräuter, die sie nach Hause bringen konnte.
Zum anderen war ein Trupp Tarvik-Soldaten im Dorf einquartiert worden, und man musste aufpassen, dass diese nicht misstrauisch wurden. Anstelle des Mädchens gingen nun die Männer in den Wald um Holz zu hacken. Dabei gelang es ihnen immer wieder, den Waldgeistern Nahrung und warme Kleider hinauszuschmuggeln.
Das junge Mädchen war verzweifelt, doch da es eines Tages zur Dorfheilerin werden sollte, schickte die alte Heilerin es wenigstens ab und zu in den Wald, um bestimmte Wurzeln, Flechten und Moose zu sammeln, ohne zu wissen, wie sehr sich ihre Schülerin nach solchen Aufträgen sehnte. Diese seltenen Gelegenheiten nutzte das Mädchen jeweils, um Elruin auf der Lichtung zu besuchen. Bald einmal merkte sie, dass sich auch ihr Patient mit Heilpflanzen auskannte. Er war sehr interessiert an ihrem Wissen, und zeigte ihr seinerseits einige Kräuter, die sie bis dahin nicht gekannt hatte, und ihre Verwendungszwecke.
Eines Tages, als die junge Frau wieder einmal zum See ging, um Elruin zu besuchen, sprang vor ihr ein Waldgeist auf den Weg. Als er seine Maske hob, erkannte das Mädchen in ihm seinen Bruder. Er erklärte, dass die Waldgeister mit Elruin geredet hätten, und dass er sich ihnen angeschlossen habe. Sie solle von nun an nicht mehr zu der Lichtung kommen, denn es sei zu gefährlich geworden. Elruin werde in den nächsten Tagen mit ein paar anderen Waldgeistern in den Süden ziehen, um dort eine kleine Garnison der Tarvik anzugreifen. Er lasse ihr für alles danken und ausrichten, dass er sie nicht vergessen werde.
Das junge Mädchen ging traurig nach Hause. Es störte sie nicht, dass bald darauf der erste Schnee fiel, und sie nichts mehr sammeln gehen konnte, denn es gab für sie keinen Grund mehr, in den Wald zu gehen.
In diesem Winter brach das schwarze Fieber über Amarond herein und die Tarvik wurden davon viel stärker betroffen als die Einheimischen. Zu hunderten starben die Soldaten und das Tarvik-Heer war geschwächt. Genau zu diesem Zeitpunkt griffen Truppen aus Farad ein, um Amarond zu befreien. Nun wagten sich auch die Waldgeister aus ihren Verstecken und traten in den offenen Kampf.
Dies alles hätte wohl nicht genügt, um das besetzte Land zu befreien, aber es tauchten andere Soldaten auf – Soldaten, die niemand jemals aus der Nähe zu Gesicht bekam. Man sprach von Reitern auf schneeweissen Kamelen, die tödliche Giftpfeile verschossen, ehe sie wieder hinaus in die Wüste galoppierten, von Kriegern in goldenen Rüstungen, deren Schwerter wie Feuer brannten und von wilden Wesen, in Felle gehüllt, die mit langen Speeren kämpften, und deren Kampfschrei einem das Blut in den Adern gefrieren liess. Am Ende eines jeden Kampfes flohen diese Soldaten und nahmen all ihre Toten und Verletzten mit sich, so dass man hinterher nie sicher wusste, ob sie wirklich da gewesen waren.
Als die ersten Frühlingsblumen die Schneedecke durchbrachen, war Amarond frei. Viele Menschen hatten in diesem Krieg ihr Leben gelassen, doch Amaronds Mut war nicht gebrochen, und die Menschen begannen mit dem Wiederaufbau. Die Waldgeister kehrten zu ihren Familien zurück, und bald verlief das Leben der Amaronder wieder in geordneten Bahnen."
Kirgu verstummte und blickte Anarya abwartend an.
