A/N: Ja, ich weiss, es hat ewig gedauert. Aber in den letzten zwei Wochen habe ich die Uni abgeschlossen, bin umgezogen und habe eine neue Stelle angetreten. Da blieb kaum Zeit, mal meine Mails zu checken, geschweige denn zu lesen oder zu schreiben... Doch jetzt komme ich hoffentlich wieder ein bisschen regelmässiger zum Posten - ich werde mich jedenfalls bemühen.
Und hier kommt endlich das nächste Kapitel...
Die Wahrheit
Kirgu verstummte und blickte Anarya abwartend an. Diese verstand nicht ganz, was die alte Frau von ihr erwartete. Schliesslich stellte sie die Fragen, die ihr auf den Lippen brannten:
„Was wurde aus Elruin? Hat die junge Frau ihn je wieder gesehen? Das wart Ihr, nicht wahr?"
Kirgu lächelte.
„Ja, das war ich. Ich war damals noch keine zwanzig Jahre alt, und mein Vater wollte mich in dem Frühling, als der Krieg vorbei war, in die Stadt mitnehmen, um dort einen Mann für mich zu finden. Ich hatte mich aber, ohne es zu merken, in Elruin verliebt, und je näher der Tag der Abreise rückte, desto mehr hoffte ich, dass er kommen würde, um mich zu holen. Mein Vater hatte grosse Pläne mit mir. Meine älteste Schwester hatte den Sohn eines Gutsbesitzers geheiratet und war die Gutsherrin des grössten Hofes in dieser Gegend. Die nächstjüngere Schwester lernte in der Stadt den Sohn eines Fürsten kennen und heiratete ihn. Auch wenn wir sie kaum je zu Gesicht bekamen, wussten wir, dass sie ein glückliches Leben führte. Nun war ich an der Reihe zu heiraten, und mein Vater wünschte sich, dass ich eine noch bessere Partie als die beiden anderen machen würde, auch wenn dies kaum wahrscheinlich war. Und so träumte ich, dass Elruin von königlichem Geblüt sei, und dass er um meine Hand anhalten würde. Aber im Grunde genommen wusste ich, dass er nur ein einfacher Soldat war.
Nun Anarya, willst du den Rest der Geschichte hören? Ich warne dich – die Fortsetzung dieser Geschichte ist nicht einfach nur ein Märchen, sondern der Einstieg in das, was ich dich lehren soll. Wenn du einen Teil davon gehört hast, musst du bereit sein, auch den Rest zu lernen."
Anarya war noch ein Kind, und so begriff sie vermutlich nicht die ganze Tragweite von dem, was Kirgu ihr gerade gesagt hatte. Sie wollte hören, wie die Geschichte weiterging, und sie wollte endlich wissen, was die alte Frau sie lehren sollte.
„Erzählt weiter, Kirgu! Ihr könnt doch an dieser Stelle nicht aufhören!"
Die alte Frau seufzte. Es fiel ihr sichtlich schwer, die Dinge wieder aufzuwärmen, über die sie seit vielen Jahren nicht mehr gesprochen hatte. Vor allem aber widerstrebte es ihr, ein Kind in etwas einzuweihen, von dem kaum ein Erwachsener in Amarond wusste. Auch wenn sie Anarya vertraute, so blieb sie doch ein kleines Mädchen, das sich vielleicht im Gespräch mit seinen Eltern verplappern würde. Kirgu wagte nicht, sich auszumalen, was Fürst Bradwen von Fenring, Anaryas Vater, dann mit ihr anstellen würde.
Bestimmt wäre er nicht einverstanden damit, dass seine Tochter die Wahrheit über Kirgus Familie erfuhr, die man im Dorf jahrelang so erfolgreich totgeschwiegen hatte. Trotzdem fuhr Kirgu schliesslich mit der Erzählung fort, denn Tiruial hatte recht. Sie spürte ihr Alter deutlich, und es war Zeit, dass sie ihr Wissen weitergab, bevor sie starb.
Anarya rutschte unruhig hin und her, bis Kirgu den Faden der Geschichte wieder dort aufnahm, wo sie zuvor zu erzählen aufgehört hatte.
„Kurz bevor der Tag kam, an dem wir in die Stadt reisen würden, kam ein junger Soldat ins Dorf. Er ritt auf einem prächtigen Kamel und trug eine abgewetzte Lederrüstung, die die Spuren vieler Kämpfe aufwies. Der Reiter ritt durch das grosse Tor auf unser Gut und hielt vor dem Haus an. Ich eilte ans Fenster, als ich die Rufe von draussen hörte, und wagte es kaum, meinen Augen zu trauen. Elruin war tatsächlich zurückgekehrt! Mein Vater nahm ihn in Empfang und führte ihn ins Haus. An diesem Abend wurde gefeiert, denn mein Bruder hatte von Elruins Heldentaten bei den Waldgeistern erzählt, und mein Vater war begeistert davon gewesen.
Eine Woche verging, und nie war Elruin mit mir alleine – er grüsste mich zwar, wenn er mir begegnete, schien mir aber aus dem Weg zu gehen, wann immer er konnte.
Doch eines Morgens, als ich gerade Wasser aus dem Brunnen geholt hatte und auf dem Weg zurück zum Haus war, stand er plötzlich vor mir. Die Sonne war kurz zuvor aufgegangen und umgab ihn mit einem goldenen Strahlenkranz. Nie zuvor hatte Elruin weniger menschlich ausgesehen. Ich wusste nun ganz sicher, dass er einem anderen, uns unbekannten Volk angehörte – einem Volk, das älter, weiser und schöner als das der Menschen war. Elruin nahm mir den Wasserkrug ab und ergriff meine Hand.
„Kirgu", sagte er leise. „Du hast mir einst das Leben gerettet, aber gleichzeitig hast du mich dem Tod näher gebracht, als ich es je zuvor gewesen bin. Ich muss mit dir sprechen."
Ich war verwirrt, aber ich folgte ihm zu einer kleinen Lichtung im Wald, nicht weit von unserem Gut entfernt. Hier, wo uns niemand belauschen konnte, vertraute mir Elruin sein Geheimnis an."
Kirgu verstummte erneut. Anarya wartete eine Weile, aber als die alte Frau nicht mit ihrer Erzählung fortfuhr, stiess sie sie sachte an.
„Sein Geheimnis?"
Kirgu seufzte. Es gab nun kein Zurück mehr, und sie wusste es.
„Elruin erzählte mir, dass er aus dem Westen komme. Seine Heimat lag weit entfernt, jenseits des Gondramgebirges, ja, sogar jenseits des grossen Ozeans, der irgendwo im Westen liegt. Damals sagte er mir nicht, weshalb er in den Osten gereist war, aber er erzählte mir vom Volk der Elben, dem er angehörte. Ich habe dir früher schon von den Elben erzählt, Anarya. Es ist das schöne Volk; seine Angehörigen sind alterlos und sterben nur durch Waffen oder durch ihren eigenen Willen, wenn sie des Lebens müde geworden sind. Das hohe Alter verleiht ihnen Weisheit, aber auch eine tiefe Melancholie. Heute gibt es kaum noch Elben diesseits des Ozeans – sie sind alle in den Westen gesegelt, auf eine Insel, die kein Sterblicher betreten darf.
Elruin hatte lange Zeit auf dieser Insel gelebt, und von dort hatte man ihn ausgesandt, um hier bei uns im Osten einen Auftrag zu erfüllen. Auf dem Rückweg hatte er versucht, das Gondramgebirge zu überqueren, aber dabei war er angegriffen worden. Man hatte sein Reittier getötet und er selber hatte sich verletzt zurück ins Tal geschleppt, weil er wusste, dass er das Gebirge zu Fuss nicht überqueren konnte. Der Pfeil, der ihn getroffen hatte, war vergiftet gewesen. Einen Menschen hätte er rasch getötet, aber die Elben sind widerstandsfähiger als wir.
Als ich Elruin gefunden hatte, war er dem Tode nahe gewesen, aber ich hatte ihn gerettet, und das Unglaubliche war geschehen. Elruin der Elb hatte sich in mich, die Sterbliche verliebt. Dies war laut ihm in der ganzen Geschichte der Menschen und Elben nur dreimal vorgekommen.
Die Geschichte von Beren und Lúthien habe ich dir erzählt; dann gab es den König Aragorn, der die Elbin Arwen Undómiel ehelichte. In beiden Fällen gab die Elbin ihre Unsterblichkeit auf, um an der Seite des Mannes den sie liebte zu sterben. Nur einmal kam es vor, dass sich ein Elb in eine Menschenfrau verliebte. Doch Aegnor, der Elb, fürchtete sich davor, Andreth an seiner Seite altern und sterben zu sehen und verliess sie. Tragischerweise fand er noch vor ihr in einer blutigen Schlacht den Tod.
Und nun gestand mir also Elruin seine Liebe, und er sagte mir, er wolle bei meinem Vater um meine Hand anhalten, wenn dies auch mein Wille sei. Er wisse allerdings noch nicht, wie ein gemeinsames Leben aussehen könne, da er unsterblich sei, und ich als Sterbliche ihn nicht in seine Heimat Valinor begleiten dürfe.
Ich sah zwar die Schwierigkeiten, die auf uns zukamen, aber in diesem Moment war mir das völlig gleichgültig. Wir redeten lange miteinander und einigten uns schliesslich darauf, dass Elruin meinen Vater um meine Hand bitten würde. Wenn dieser sein Einverständnis gäbe, würde Elruin in den Westen reisen, um die Zustimmung der Valar, der Götter von Valinor, für unsere Ehe zu erhalten. Wenn es irgendwie möglich sei, würde er wie Arwen und Lúthien seine Unsterblichkeit für mich aufgeben und sein Leben als Sterblicher an meiner Seite beenden."
Kirgus Stimme brach. Anarya sah, dass ihre Augen feucht waren und auf ihrer Wange eine Tränenspur glitzerte.
„Verzeih mir, Kind, aber es fällt mir schwer, diese Erinnerungen wieder aufzuwecken. Ich habe so viele Jahre nicht mehr davon geredet, dass ich inzwischen beinahe selber an die Geschichten geglaubt habe, die man sich im Dorf über mich erzählt. Manchmal habe ich mich sogar gefragt, ob Elruin nicht nur ein Geschöpf meiner Einbildung war."
Anarya kannte die Geschichten über Kirgu. Offen sprach man von dem furchtbaren Unglück, bei dem ihr Mann und ihr Sohn mit einem Wagen in die Falkenhorstschlucht gestürzt waren; doch hinter vorgehaltener Hand hiess es, man hätte nie eine Leiche gefunden, und der Mann habe Kirgu verlassen. Andere erzählten, Kirgu sei einem Gaukler auf den Leim gegangen, der sie mit ihrer Tochter habe sitzenlassen.
Nach den alten Gebräuchen hätte Kirgu nun auf das Gut ihrer Eltern zurückkehren sollen, aber als sie sich weigerte, hatte man ihr die Tochter weggenommen, weil es sich nicht gehörte, dass ein Kind ohne Vater aufwuchs. Kirgu hatte von da an alleine in ihrem Häuschen am Rande der Jira gelebt und war mit den Jahren etwas seltsam geworden.
Nachdem sich Kirgu ein wenig gefasst hatte, sprach sie weiter.
„Dies war wohl einer der glücklichsten Momente meines Lebens. Ich habe mich oft gefragt, was geschehen wäre, wenn ich damals gewusst hätte, was mich in der Zukunft erwartet. Doch ich bin überzeugt davon, dass ich genau gleich entschieden hätte – das Leid kann nicht das vollkommene Glück überdecken, das ich erleben durfte.
Am selben Abend nach seinem Geständnis mir gegenüber bat Elruin meinen Vater um ein Gespräch. Die beiden verschwanden in der Stube und wir anderen warteten gespannt vor der Türe. Niemand aus der Familie wusste, worüber Elruin mit meinem Vater sprechen wollte, aber als sie mich ansahen, fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen und sie bestürmten mich mit Fragen. Meine Mutter war glücklich und meine jüngeren Geschwister spotteten und lästerten, aber ich wusste, dass mich meine beiden kleinen Schwestern im Stillen beneideten.
Das Gespräch dauerte lange, doch schliesslich kam mein Vater aus der Stube und sein Gesicht war ernst. Elruin folgte ihm, ging an ihm vorbei und verliess wortlos das Haus. Vater schickte uns Kinder in unsere Zimmer – selbst mich, um die es doch ging. Wütend sass ich da und horchte auf die Stimmen meiner Eltern. Sie schienen sich zu streiten, und ich glaubte zu hören, dass meine Mutter auf meiner Seite war.
Es dauerte lange, aber dann stand plötzlich meine Mutter in der Türe und rief mich in die Küche. Sie erklärte mir, dass Vater mich nicht mit einem dahergelaufenen Soldaten verheiraten wolle, dessen einziges Handwerk das Töten sei. Ihrer Meinung nach sei Elruin jedoch nicht sein Leben lang Soldat gewesen, denn dazu sei er zu gebildet und zu sanftmütig. Sie glaube viel eher, dass er edlen Geblüts sei – ein Fürstensohn vielleicht, aber es erstaune sie, dass er widerspruchslos das Haus verlassen habe, anstatt mit Vater darüber zu sprechen.
Ich wusste Bescheid. Elruin hatte nichts von seiner elbischen Abstammung erzählen wollen. Trotzdem war ich bitter enttäuscht, dass er sich nicht einmal von mir verabschiedet hatte.
Drei Tage vergingen und wir hatten alle Hände voll zu tun. Wir Frauen arbeiteten den ganzen Tag im Garten, die Männer waren auf den Feldern oder im Stall. Mein Vater musste sich nicht nur um das eigene Gut kümmern, sondern auch um alle Sorgen und Nöte der Dorfbauern, für die er verantwortlich war. Ich selber war wütend und enttäuscht, aber ich wagte nicht, mich gegen ihn aufzulehnen. Da eine Viehseuche ausgebrochen war, konnte mein Vater keine Zeit erübrigen, um mich in die Stadt zu begleiten, aber ich sah deutlich, dass er mich nun erst recht so schnell wie möglich verheiraten wollte.
Am Morgen des vierten Tages kam ein junger Bursche auf unser Gut und bat um Arbeit. Ich hätte ihn beinahe nicht wieder erkannt. Elruin hatte sich sein Haar nach Art der Bauern kurz abgeschnitten, und er trug die schäbige Kleidung eines Landarbeiters, der im Sommer von Gut zu Gut zieht, um seine Dienste anzubieten. Seltsamerweise schien ihn ausser mir niemand zu erkennen. Mein Vater, froh um jede Hilfe, stellte ihn ein, ohne lange Fragen zu stellen.
Elruin nannte sich Eskar, was, wie du ja weißt, in der alten Sprache Amaronds 'Sklave' bedeutet. Den ganzen Sommer durch arbeitete Eskar auf unserem Hof, und er machte sich unentbehrlich. Wo immer man ihn anstellte, was immer man ihm befahl, er gehorchte ohne Widerspruch und seine Arbeit war ohne jeden Makel. Eskar arbeitete in der Sattlerei und im Stall. Er schmiedete, tischlerte, half den Frauen im Garten und in der Küche, er behandelte Krankheiten und Verletzungen bei Mensch und Tier und abends vertrieb er einem die Zeit mit Liedern und Geschichten. Doch niemals sprach er mit mir, und die Blicke, die er mir zuwarf, bedeuteten mir, Stillschweigen zu bewahren. Den ganzen Sommer durch gelang es mir nicht ein einziges Mal, mit ihm alleine zu sein, um mit ihm zu sprechen.
Glücklicherweise hatte mein Vater den ganzen Sommer durch nicht die Zeit gefunden, mich in die Stadt zu begleiten, und ich wusste, dass ich zumindest bis nach der Ernte noch eine Gnadenfrist hatte.
Im Herbst, als die Ernte vorbei war und mein Vater, gemäss den Gebräuchen, die meisten Sommerarbeiter entliess, bat er Eskar, auf unserem Gut zu bleiben, und er machte ihn zu seinem Stallmeister, da Eskar sich besonders geschickt im Umgang mit Tieren gezeigt hatte.
Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Mein Vater machte seinen Vorschlag, und Elruin erhob sich. Es schien, als wäre eine Verkleidung von ihm abgefallen, denn plötzlich erkannten ihn alle, die am Tisch sassen. Meine Mutter schrie leise auf vor Überraschung und mein Vater erbleichte. Doch Elruin lächelte milde.
„Vor einem halben Jahr habt ihr mich weggeschickt, weil ich ausser dem Schwert kein Werkzeug zu führen wüsste. Ein halbes Jahr lang habe ich Euch jetzt bewiesen, dass dies nicht der Wahrheit entspricht. Nun, da ich Euer Stallmeister bin, wiederhole ich meine Bitte, mein Herr. Ich bitte Euch hier, vor allen Anwesenden um die Hand Eurer Tochter Kirgu."
Mein Vater brauchte einen Augenblick um sich zu fassen, dann erhob auch er sich.
„Als ich Euch damals gesagt habe, meine Tochter würde keinen Soldaten heiraten, meinte ich damit nicht, ich würde sie einem einfachen Landarbeiter überlassen. Kirgu hat etwas Besseres verdient als einen Stallmeister. Ich weiss nicht, wie ihr es geschafft habt, mich einen Sommer lang zu täuschen, aber ich bin deswegen nicht wütend auf Euch. Ihr dürft Stallmeister in meinen Diensten bleiben, doch wagt es nie wieder, mich um die Hand einer meiner Töchter zu bitten."
Meine Mutter wollte etwas sagen, und auch ich sprang auf, zu protestieren. Doch wie schon einmal wandte sich Elruin wortlos ab und verliess den Raum.
In der Türe drehte er sich noch einmal um und sagte mit kalter Stimme: „Ich, fürchte, Ihr müsst Euch einen anderen Stallmeister suchen."
Diesmal war ich nicht so verzweifelt über Elruins Verschwinden wie das letzte Mal. Er war einmal zurückgekommen und ich baute fest darauf, dass er mich auch diesmal nicht für immer verlassen hatte.
Doch die Zeit verging und die Reise in die Stadt wurde vorbereitet. Mein Vater war gereizt, und ich sah deutlich, dass er mich so schnell wie möglich unter der Haube haben wollte. Ich dagegen wollte nicht in die Stadt fahren, ich wollte keinen Ehemann suchen; aber mein ganzes Jammern und Flehen nützte nichts, mein Vater blieb hart. Meine Mutter versuchte oft, mich zu trösten, und ich merkte, dass sie nichts dagegen gehabt hätte, wenn ich Elruin als Ehemann bekommen hätte. Ihn kannte sie als netten und höflichen Menschen, der immer hilfsbereit war. Auch wenn er nichts besass, so hatte er doch einen besseren Charakter als mancher Fürstensohn, der sein Leben lang nur verwöhnt worden war. Ausserdem hätte es meiner Mutter gefallen, wenn ich in der Nähe geblieben wäre, anstatt in ein weit entferntes Fürstentum einzuheiraten.
Der Tag der Abreise kam und ich war verzweifelt. Im Morgengrauen jagte man uns aus den Betten und mit rotgeweinten Augen tappte ich hinaus auf den Hof, wo die Wagen bereitstanden. Ich hatte darum gebeten, wenigstens mein Kamel mitnehmen zu dürfen, aber mein Vater hatte mir gesagt, dass es sich in der Stadt für eine junge Dame nicht schicke zu reiten, und so setzte ich mich in einen der Wagen und harrte der Dinge die da kommen sollten. Es dauerte lange, bis alles für die Reise bereit war, aber genau in dem Moment, als mein Vater das Signal zum Aufbruch geben wollte, stürmte ein Reiter auf den Hof.
Totenstille kehrte ein, als der Fremde sein Reittier vor dem Wagen zügelte, auf dem mein Vater sass. Es war Elruin, der zurückgekehrt war, um ein weiteres Mal um meine Hand anzuhalten. Sein einstmals kurzgeschnittenes Haar war den Sommer über nachgewachsen und fiel ihm jetzt wie ein glänzendes, schwarzes Tuch über die Schultern. Ein silberner Reif, der mit hellblauen Juwelen besetzt war, zierte seine Stirn, und die dünnen Strähnen, die sein Gesicht umrahmten, waren auf ungewöhnliche Weise mit schimmernden Steinen durchflochten. Elruin trug ein weisses Gewand, das mit Silberfäden durchwirkt war. Ein karmesinroter Umhang fiel ihm über die Schultern und bedeckte die Kruppe seines Pferdes. Der Umhang wurde von einer silbernen Brosche zusammengehalten, die die Form eines fliegenden Schwanes hatte, dessen Flügel einen riesigen, roten Edelstein umschlossen. Das Ungewöhnlichste aber war, dass Elruin tatsächlich auf dem Rücken eines Pferdes sass – eines schneeweissen Hengstes, der zwar ebensogross war, wie unsere Zugtiere, aber viel zierlicher und eleganter. Das Pferd trug weder Geschirr noch Zaum, und es tänzelte nervös unter seinem Reiter.
Die Menschen auf dem Hof hielten den Atem an. Bevor mich irgendjemand aufhalten konnte, sprang ich aus dem Wagen und auf Elruin zu. Dieser wies mich mit einer Handbewegung an zu warten und liess dann sein Pferd sich auf eine beeindruckende Weise aufbäumen. Dann hielt er es an und Pferd und Reiter standen so bewegungslos wie ein Standbild. Als Elruin endlich sprach, war seine Stimme nicht mehr die eines untertänigen Landarbeiters, sondern die eines Herrschers, der es gewohnt ist, Befehle zu erteilen.
„Ihr habt Elruin den Soldaten und Elruin den Stallmeister von Eurem Gut verjagt, weil sie Euch nicht gut genug für Eure Tochter Kirgu waren. Heute spricht Elruin, Fürst der Perlmutterstadt und Herrscher über die Schwanenbucht zu Euch und bittet Euch darum, Kirgu ehelichen zu dürfen. Sollte auch der Fürst abgewiesen werden, so wird wohl oder übel Elruin der Wegelagerer gezwungen sein, Euch auf Eurer Reise in die Stadt aufzulauern, und Kirgu mit Gewalt an sich zu nehmen. Es wäre mir aber recht, wenn ich auf dieses Mittel verzichten könnte, denn fiel es mir leicht, als Soldat und Bauer aufzutreten, so liegt es nicht in meiner Natur, mich als Räuber zu betätigen."
Elruin verstummte und blickte meinen Vater abwartend an. Dieser brauchte lange Zeit, um sich fassen zu können. Dann riss er sich schliesslich zusammen und sprang ungeschickt vom Kutschbock. Mit dem Versuch, sich ein letztes Bisschen Würde zu bewahren, bedeutete er Elruin mit einer Kopfbewegung, ihm ins Haus zu folgen. Dieser nickte gnädig, sprang mit einer geschmeidigen Bewegung vom Pferd, flüsterte diesem etwas zu und folgte dann meinem Vater ins Haus.
Spätestens jetzt hatte jeder Anwesende gemerkt, dass Elruin nicht vom Volk der Menschen war. Sein Aussehen, seine Bewegungen, sein Auftreten – all das wies ihn als ein Wesen aus, wie man es hier in Amarond nie zuvor gesehen hatte. Ein Raunen ging durch den Hof und alle begannen wie wild durcheinander zu reden. Ich fing einen Blick meiner Mutter auf, die mich traurig ansah. Es war ihr wohl soeben bewusst geworden, dass Elruin von weiter her kam, als alle die Fürstensöhne, mit denen mich mein Vater verheiraten wollte. Doch als sie meinen Blick auffing, lächelte sie mir tapfer zu und gab mir durch ein Nicken zu verstehen, dass sie mit meiner Entscheidung einverstanden sein würde, wie auch immer sie ausfiele.
Zum Entsetzen der Anwesenden stiess das Pferd Elruins, das bisher ruhig dagestanden hatte, plötzlich einen leisen, sanften Laut aus und trottete auf mich zu. Einige Männer wollten den Hengst aufhalten, aber andere hielten sie zurück, gebannt von dem Schauspiel, das sich ihnen bot. Das riesige Tier kam auf mich zu und schnaubte leicht, als es vor mir stand. Ich hatte fürchterliche Angst – schliesslich hatte ich schon oft erlebt, wie bösartig Pferde reagieren konnten, wenn man ihnen zu nahe kam. Andererseits war dieses Tier zu mir gekommen und es gehörte Elruin; es war also besser für mich, wenn ich diese Furcht rasch ablegte. Zögernd hob ich die Hand und berührte den Hengst am Hals. Er legte mir seinen schweren Kopf sanft auf die Schulter und blieb so stehen.
Ich weiss nicht, wie lange es dauerte bis mein Vater und Elruin zurückkamen, aber während der ganzen Zeit standen das Pferd und ich bewegungslos da und lernten und gegenseitig kennen. Elruin kam auf uns zu, sprang mit einem leichtfüssigen Sprung auf den Pferderücken, fasste mich um die Taille und zog mich vor sich aufs Pferd.
Dann flüsterte er mir leise ins Ohr: „Wenn du noch willst, dann können wir heiraten. Dein Vater ist einverstanden."
Du kannst dir den Jubel nicht vorstellen, der herrschte, als mein Vater unsere Hochzeit bekanntgab. im vergangenen Sommer hatten alle Leute im Dorf Elruin schätzen gelernt, und nun, da er sogar noch ein Fürst war, kannte die Begeisterung über unsere Heirat keine Grenzen.
Doch die Feier konnte nicht sofort stattfinden. Elruin hatte meinem Vater zwar erzählt, dass er aus dem Westen kam, doch hatte er ihm verschwiegen, dass er ein Elb und somit unsterblich war. Dies machte ihm immer noch Sorgen, und er wollte vor der Hochzeit in seine Heimat zurückkehren, um mit den Valar über unsere Zukunft zu reden. Er wollte so bald wie möglich abreisen, um noch vor dem ersten Schnee das Gondramgebirge überqueren zu können. Mit etwas Glück konnte er im Frühling zurück sein, wo wir dann unsere Hochzeit feiern würden.
Auch wenn mein Vater nicht wusste, weshalb Elruin noch vor der Eheschliessung in den Westen reisen wollte, so verstand er doch, dass dieser noch einige Dinge zu regeln hatte, bevor er eine Braut aus dem Osten in sein Fürstentum mitbringen konnte.
Am Abend vor seiner Abreise kam Elruin zu mir und drückte mir ein kleines Paket in die Hand.
„Falls die Valar unsere Heirat nicht billigen, werden sie mich vielleicht nicht zu dir zurückkehren lassen wollen. Ich gebe dir deshalb dieses Schmuckstück als Pfand. Es ist der Grund dafür, dass ich überhaupt in den Osten gekommen bin und für die Valar von sehr grosser Wichtigkeit. Solange du es besitzt, werden sie mich gehen lassen müssen, um es von dir zurückzuholen. Kirgu, du darfst es niemals jemand anderem als mir geben und auch mit niemandem darüber sprechen. Dies ist eine Schmiedearbeit aus Valinor und ihre Macht ist gross. Bewahre sie gut auf und sprich mit niemandem darüber. Ich verspreche dir, dass ich zurückkommen werde, was auch immer geschehen mag. Bis dahin bist du die Hüterin des Alquaros – sei dir der Wichtigkeit dieser Aufgabe bewusst, auch wenn ich dir nicht sagen kann, was es mit diesem Schmuckstück auf sich hat."
Als ich das Paket öffnete, erblickte ich die schwanenförmige Brosche, die Elruin am Tag seiner Ankunft als Fürst auf dem Gut getragen hatte. Der Stein, der von den Schwanenflügeln umrahmt wurde, war so gross wie ein Wachtelei und schimmerte in einem dunklen Rot. Der Schwan selber war so fein gearbeitet, dass man selbst einzelne Federn unterscheiden konnte. Da Elruin es mir so befohlen hatte, wickelte ich die Brosche sorgfältig wieder ein und versteckte sie in einer Kleidertruhe.
Der Winter schien ewig zu dauern, und ich schaute sehnsüchtig nach Westen, wo Elruin irgendwo unterwegs war. Mein Vater hatte sich inzwischen mit dem Gedanken angefreundet, dass ich Elruin heiraten würde, und er stattete mich mit einer grosszügigen Mitgift aus. Meine Mutter half mir, alles für die Hochzeit vorzubereiten, zu nähen, zu sticken und zu weben. Als die ersten Blumen die Schneedecke durchbrachen, waren wir mit den Vorbereitungen fertig, und als hätte er es geahnt, kehrte Elruin aus dem Westen zurück.
Seine düstere Miene verhiess nichts Gutes, doch solange meine Eltern anwesend waren, überspielte er gekonnt seinen Unmut. Erst als wir alleine vor dem Haus sassen, teilte er mir leise mit, dass die Valar sich gegen unsere Hochzeit ausgesprochen hätten. Er als Elb aus Valinor habe keinen Grund, eine Sterbliche zu heiraten, und es sei nicht möglich, dass er seine Unsterblichkeit zu meinen Gunsten aufgebe. Die Zeit der Elben auf Mittelerde sei vorbei, und er solle in Valinor bleiben, wo seine Heimat sei.
Hätte Elruin nicht das Alquaros, die Schwanenbrosche, in meiner Obhut gelassen, so hätte man ihn nicht mehr in den Osten segeln lassen. Da er jedoch als einziger wusste, wo sich das Schmuckstück befand, mussten sie ihn wohl oder übel ziehen lassen.
Elruin bereitete mich nun behutsam auf das vor, was mich erwartete.
„Kirgu, wenn wir heiraten, wirst du das Schicksal der Menschen erleiden. Du wirst alt werden und irgendwann sterben. Als Elb kann ich dieses Schicksal nicht mit dir teilen, so gerne ich das auch möchte. Da ihr Menschen in Amarond nichts von uns Elben wisst, werde ich nicht ewig bei dir bleiben können. Eines Tages wird es eindeutig sein, dass ich immer gleich aussehe, während du sichtlich alterst. Man wird über uns reden, und es könnte Schwierigkeiten geben. Dein Volk ist abergläubisch, Kirgu, und ich glaube nicht, dass ein Unsterblicher hier gern gesehen wäre. Deshalb werde ich dich wohl verlassen müssen, wenn es zu offensichtlich wird, dass ich nicht wie die anderen bin. Ich hoffe immer noch, dass die Valar sich eines besseren besinnen und mir meinen Wunsch erfüllen, dass ich an deiner Seite alt werden darf, aber es wäre besser, wenn wir uns nicht darauf verlassen würden."
„Wie lange?",konnte ich ihn nur fragen, denn ich hatte Angst, gleich in Tränen auszubrechen.
„Nun, im Moment sehe ich älter aus als du. Gefährlich wird es erst, wenn du deutlich älter bist, als ich scheine. Ich denke, dass das gut fünfzehn Jahre dauern wird – zwanzig, wenn wir Glück haben."
„Zwanzig Jahre sind mehr, als manche Braut sich wünschen könnte, deren Verlobter im letzten Krieg gefallen ist. Ich werde damit leben können, denke ich, und ich werde mir immer vor Augen halten, dass jedes Jahr ein geschenktes Jahr ist und es dementsprechend geniessen."
Dann fiel mir jedoch ein, was mir auf dem Herzen lag, seit ich in den langen Winternächten darüber nachgedacht hatte.
„Elruin? Werden wir Kinder haben können? Und wie werden sie sein? So wie du oder so wie ich?"
Er seufzte.
„Ich habe befürchtet, dass du mir diese Frage stellen würdest. Um ehrlich zu sein, ich kann sie dir nicht beantworten. Es gab zwar Kinder aus Mischehen, aber die Quellen sind zu spärlich, als dass man viel über ihre Art wüsste. Einmal kam es vor, dass die Nachkommen aus Mischbeziehungen vor die Wahl gestellt wurden, ob sie als Elb oder als Mensch leben wollten. Doch ich kann dir nicht viel mehr darüber sagen. Wenn wir Kinder haben sollten, so müssen wir abwarten, was aus ihnen wird."
Ich war trotz oder gerade wegen der Schwierigkeiten, die auf uns zukamen, überzeugt davon, dass ich Elruin heiraten wollte. Die Feier fand zur Tag- und Nachtgleiche statt und es war eine Feier, die allen noch lange in Erinnerung blieb. Nach der Hochzeit zogen wir in das kleine Häuschen am Rande der Jira, das Elruin für uns gebaut hatte.
Wir lebten ein einfaches Leben, ohne uns darum zu kümmern, was man über den Fürsten sagte, der in einer Hütte lebte, anstatt seine Braut mit in sein Reich zu nehmen. Wir bestellten ein kleines Stück Land, züchteten Vieh und pflegten den Garten hinter dem Haus. Vor allem aber sammelten wir Heilkräuter und behandelten damit Mensch und Tier im Dorf. Im Austausch dafür versorgte man uns mit allem, was wir nicht selber hatten. Es war eine wundervolle Zeit, und ich war glücklich. Auch Elruin war so fröhlich, wie ein Elb nur sein kann, der unendlich weit von seiner Heimat entfernt unter Menschen lebt.
Im Frühling darauf gebar ich Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen. Gemäss dem Brauch Amaronds gab ich ihnen ihre Kindernamen, die erst an ihrem fünften Geburtstag gegen ihre endgültigen Namen eingetauscht würden.
Die Jahre vergingen und die beiden wuchsen heran wie ganz normale Kinder. Sie waren unzertrennlich und lernten alles gleichzeitig. Sie machten am selben Tag ihre ersten Schritte, sprachen am selben Tag ihr erstes Wort und entwickelten sich, wie jedes andere Menschenkind im Dorf. Die beiden Kinder glichen sich so sehr, dass es ein Glück war, dass der Junge die schwarzen Haare seines Vaters geerbt hatte, während das Mädchen meine roten Locken trug. Sah man die beiden etwas genauer an, so sah man auch, dass das Mädchen blaue Augen hatte, der Junge dagegen ein graues und ein dunkelblaues – eines so grau wie Elruins Augen, das andere einem Schattenauge ähnlich.
In meiner Familie war es öfters vorgekommen, dass jemand Schattenaugen hatte, doch nie zuvor hatte ich gehört, dass jemand zwei verschiedene Augen hatte.
Auch wenn wir uns bemühten so zu leben wie alle anderen, gab es doch viele Dinge, an die sich Elruin einfach nicht gewöhnen konnte. So weigerte er sich zum Beispiel, Pferde auf unsere Weise einzubrechen und zur Arbeit zu zwingen. Unsere Pferde waren unsere Freunde, wie es auch jene Pferde sind, die im Moment hinter meinem Haus stehen. Wir bemühten uns jedoch, dies geheim zu halten, denn die Menschen von Amarond mögen keine Veränderungen.
Elruin benötigte auch nur sehr wenig Schlaf. Dagegen konnte er nächtelang unbeweglich auf einer Felskuppe am Rand der Wüste stehen und nach Westen blicken. Ich wusste, dass er in diesen Momenten unter grossem Heimweh litt, aber ich wagte es nicht, ihn zu stören.
Elruin und ich sagten den Kindern nichts davon, dass ihr Vater anders war als die anderen Väter im Dorf, und sie merkten nichts davon, denn sie kamen nur selten mit den Leuten aus dem Dorf zusammen."
Kirgu hielt inne und lächelte Anarya gedankenverloren an.
„Du hast viel von ihr, Kind. Du glaubst gar nicht, wie sehr du mich an meine kleine Miradan erinnerst."
Anarya wartete gespannt darauf, dass Kirgu fortfuhr. Sie ahnte, dass jetzt der traurige Teil der Geschichte folgen würde – der Teil, wo sie erfahren würde, weshalb Kirgu jetzt alleine in diesem Haus am Rand der Wüste lebte. Doch die alte Frau liess sich Zeit. Langsam schenkte sie Tee nach, ass einen Bissen von ihrem Kuchen und erzählte erst dann mit leiser Stimme weiter.
„Der fünfte Geburtstag der Kinder rückte näher und wir fragten uns, wie wir sie nennen sollten.
Wie es so oft ist, wenn man etwas jeden Tag sieht – wir sahen die Veränderung nicht, die mit den Zwillingen vor sich ging. Es war meine jüngste Schwester, die eines Tages zu Besuch kam und feststellte, wie das Mädchen gewachsen sei. Als wir die Zwillinge nebeneinanderstellten mussten wir zugeben, dass sie recht hatte. Der Junge war plötzlich um einen halben Kopf kleiner als seine Schwester und er wirkte auch zarter als sie. Elruin reagierte nicht sehr glücklich auf diese Entwicklung. Ich wusste, dass er etwas ahnte, doch er wollte lange Zeit nicht mit mir darüber sprechen. Schliesslich sagte er mir, er werde am Tag der Namensgebung sagen, was er vermute.
Als dieser Tag herangekommen war, hatten wir uns auf zwei Namen geeinigt. Das Mädchen sollte Miradan heissen. In der Sprache Elruins bedeutete das soviel wie 'Juwel der Menschen'. Was sie betraf, so war ziemlich klar, dass sie sich entwickelte wie ein normales Menschenkind, und dass sie nicht viel elbisches Erbe in sich trug. Sie würde wohl einmal eine bildschöne Frau werden, aber dann altern und sterben, wie jeder Mensch.
Den Jungen nannten wir Tiruial, was soviel wie 'Wächter des Zwielichts' oder 'Der ins Zwielicht blickt' bedeutet. Was ihn betraf, so wusste ich nicht so recht, was wir zu erwarten hatten. In den letzten Monaten war er deutlich hinter seiner Schwester zurückgeblieben und die Unterschiede zwischen den beiden wurden immer deutlicher.
Elruin offenbarte mir nun traurig, dass sich Tiruial entwickle wie ein Elbenkind; erst gleichschnell wie ein Mensch, nun aber je länger je langsamer. Als Elbenjunge wäre er erst mit etwa siebzig Jahren erwachsen."
Anarya fiel ihr ins Wort.
„Tiruial? Ist er mit dem Tiruial verwandt, der dich besucht hat? Kommt er aus dem Westen? Wie Elruin? Was wollte er hier? Und wo ist dein Sohn jetzt? Und deine Tochter?"
Kirgu unterbrach das hektische Gerede des Mädchens.
„Sitz still und hör zu! Ich bin gleich fertig und dann werden deine Fragen von selbst beantwortet sein."
„Wir konnten nichts anderes tun als abwarten. Die Jahre kamen und gingen, und bald einmal konnten wir nicht mehr leugnen, dass Tiruial tatsächlich langsamer alterte als Miradan. Die Leute im Dorf begannen zu reden und uns war es nicht mehr wohl bei der ganzen Sache. Hätte man auch noch einige Jahre verheimlichen können, dass Elruin nicht alterte, so war es doch zu offensichtlich, dass Tiruial trotz seiner elf Jahre aussah, als ob er nur sieben oder acht Jahre alt wäre. Jetzt, da die Kinder zur Schule gingen und während der Schulzeit im Dorf bei meinen Eltern wohnten, war es unmöglich, sie zu verstecken. Inzwischen hätte niemand mehr geglaubt, dass es sich bei den beiden um Zwillinge handelte.
Schliesslich fällten wir eine bittere Entscheidung. Tiruial musste verschwinden, denn in ihm war zuviel elbisches Blut. Auch wenn wir nicht wussten, wie er sich mit den Jahren entwickeln würde, konnten wir es nicht wagen, ihn länger in diesem Dorf voller abergläubischer Menschen zu lassen. Und es war nicht nur Amarond, wo wir nicht leben konnten, sondern die ganze Welt. Unter Menschen hätte man uns nirgendwo akzeptiert, und Elben gab es auf Mittelerde nur noch wenige, von denen wir nicht erwarten konnten, dass sie sich gegen den Willen der Valar stellten. Elruin wollte mir und Miradan aber ein Leben ersparen, wo wir nie länger als ein paar Jahre an einem Ort bleiben konnten.
Und so fuhren eines Tages Elruin und Tiruial in den Wald, um ein Fuder Holz nach Hause zu bringen. Ich wusste, dass sie nicht zurückkehren würden, aber trotzdem brach es mir beinahe das Herz, als ich erfuhr, dass man den Wagen in der Falkenhorstschlucht gefunden hatte.
Die Tage des Glücks waren vorbei. Ich hatte mir in den letzten Jahren viele Eigenarten der elbischen Lebensweise angewöhnt, und es kam für mich nicht mehr in Frage, wieder bei meinen Eltern zu leben, auch wenn sie es mir wiederholt anboten. Ich ertrug die Gegenwart anderer Menschen nur noch schlecht, da ich mich an das einsame Leben am Rande der Wüste gewöhnt hatte.
Schliesslich zog ich Miradan zuliebe wieder ins Dorf zurück, aber ich fühlte, dass man hinter meinem Rücken über mich redete und so kehrte ich in mein kleines Häuschen zurück.
Damals war es für eine Frau unmöglich, ihr Kind alleine grosszuziehen. Man beschloss an einer Dorfversammlung, dass mir mein Kind wegzunehmen sei. Miradan wurde zu meiner ältesten Schwester gebracht, die sie nun als ihre eigene Tochter grosszog. Ich musste mir oft anhören, ich hätte das Kind völlig verwildern lassen, und die seltenen Male, wo ich Miradan besuchen durfte, war ich nie mit ihr alleine. Mit der Zeit verblassten ihre Erinnerungen an Vater und Bruder – Miradan wurde zu einer bildhübschen, jungen Frau, die sich manchmal beinahe schämte, wenn ich, Kirgu, die verschrobene Alte, aus der Wüste kam, um sie zu sehen.
Miradan hat später selber geheiratet – den Fürsten von Fenring, deinen Grossvater – und ist zu einer angesehenen Frau geworden. Ich dagegen habe hier alleine gelebt, immer in der Hoffnung, etwas von Elruin und Tiruial zu hören. Doch ich musste lange, lange Zeit warten.
Erst gestern ist mein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen – ich durfte Tiruial noch einmal sehen, meinen Sohn."
Anarya starrte sie an.
„Aber er müsste doch inzwischen uralt sein! Ich meine, das ist doch so lange her!"
Kirgu lächelte.
„Das ist sein elbisches Erbe. Er weiss nicht, ob er eines Tages alt werden und sterben wird, aber bisher ist er ebenso elbisch wie sein Vater und daher nach den Massstäben seines Volkes kaum mehr als ein Kind. Das einzige, was er von meiner Familie geerbt hat, ist das Schattenauge. Miradan dagegen hat sich so menschlich entwickelt, wie es nur möglich war. Ich weiss nicht ob es mit meiner Lebensweise zu tun hat, oder mit meiner Beziehung zu Elruin, aber ich bin trotz meines hohen Alters immer noch recht rüstig. Miradan dagegen ist schon jetzt eine alte Frau, und wenn man uns nebeneinander sehen würde, bezweifle ich, dass man sie als meine Tochter ansehen würde."
Kirgu bemerkte, dass Anarya sie neugierig anstarrte und ahnte die nächste Frage des Mädchens voraus.
„Ja, Anarya, Miradan lebt immer noch im Dorf und ich sehe sie ab und zu – auch wenn wir kaum mehr miteinander zu tun haben. Die meisten Leute haben vergessen, dass wir Mutter und Tochter sind.
Aber nun haben wir für heute genug geredet, Kind. Ich kann und will dir nicht alles auf einmal erklären. Wenn du aber willst, werde ich dir alles über den Westen und das Volk der Elben beibringen, was ich selber weiss. In ein paar Jahren dann, wenn du alt genug bist, werde ich dir erklären, was Tiruial gemeint hat, als er sagte, der Schwan brauche einen neuen Hüter. Doch noch ist es zu früh dazu. Reite jetzt nach Hause, und lass dir die Dinge noch einmal durch den Kopf gehen, von denen ich dir heute erzählt habe. Und Anarya – rede mit niemandem darüber! Deine Eltern würden es nicht schätzen, wenn sie wüssten, dass ich dir von meinem Leben erzählt habe."
