A/N: Dies ist das letzte Kapitel des ersten Teils. Danach wird es einen Zeitsprung von zehn Jahren geben und die eigentliche Handlung fängt an. Über ein paar kleine Reviews würde ich mich immer noch sehr freuen...
das Einhorn: Als hättest du geahnt, dass ich damit drohen wollte, den zweiten Teil nicht mehr hier zu posten... Keine Angst, auch wenn die Reviews auf sich warten lassen, gibt es weiterhin neue Kapitel, solange ich noch ab und zu eine Rückmeldung bekomme.
Ein Geist kehrt zurück
In Hornthal war ein Ratstag angebrochen, an dem die Dorfbewohner in die Halle der Lumianen gehen durften, um ihre Hilfe und ihren Rat zu erbitten. An diesen Tagen wurde entschieden, wer eine neue Hütte bauen durfte, wer ins Langhaus zog oder dieses verliess, wer wen heiratete, wer Kinder haben durfte und welche jungen Männer nach Nadelfels ziehen sollten. In einer langen Reihe standen die Dorfbewohner vor dem Hügel am See und warteten geduldig darauf, dass sie an die Reihe kamen, ihre Wünsche vorzubringen.
Doch dann kam Unruhe in die Menge. Einige von ihnen hatten den Kargai entdeckt, der den Pfad aus dem Dorf herunter kam, und sich auf sie zu bewegte. Es war keiner der Kargai aus Hornthal, denn diese waren alle beim Rat der Lumianen zugegen. Der Fremde nickte den Dorfbewohnern höflich zu und stellte sich dann in die Reihe der Wartenden. Man wollte ihm den Vortritt lassen, aber er schüttelte den Kopf und meinte, er habe Zeit.
Er musste ein alter Kargai sein, denn seine Eisrüstung war an mancher Stelle verkratzt und schartig, und sie war reich mit Kampftrophäen verziert. So waren in den Brustpanzer Reihen von Bärenkrallen und -zähnen eingelassen und auf den Schulterplatten waren fächerförmig die Federn eines Sturmdämons angeordnet. Der Helm jedoch hatte die Form eines Wolfskopfes, und dort wo sich das Visier wie der Oberkiefer des Wolfes über dem Unterkiefer schloss, waren längs der Kante Wolfszähne in das Eis eingelassen. Ein dunkelgraues Wolfsfell zierte die Schulterpartie des Umhangs.
Ehrfurchtsvoll hielten die Dorfbewohner Abstand von dem Fremden, der geduldig wartete, bis er an die Reihe kam. Vor den Augen des gesamten Dorfes ging er durch das Tor im Hügel und verschwand in der Tiefe.
Da an diesem Tag die Sonne schien, war die Halle noch viel heller, als beim ersten Mal, als Sijn sie betreten hatte. Die drei Lumianen sassen wiederum auf ihren Thronsesseln, aber diesmal standen sechs Kargai in weissen Rüstungen neben ihnen. Sijn erkannte sofort seinen Zwillingsbruder, und ein höhnisches Lächeln verzog sein Gesicht. Noch hatten sie ihn nicht erkannt, und alle blickten ihm gespannt entgegen. Sijn fiel auf, dass die Rüstungen seiner ehemaligen Gefährten immer noch reinweiss und neu aussahen, so als hätten sie in der ganzen Zeit seit ihrer Weihe nicht einen einzigen Kampf austragen müssen. Er selber dagegen hatte in der Wildnis um sein Leben kämpfen müssen.
Nachdem ihn die Wölfe aufgepäppelt hatten – mit Schaudern erinnerte sich Sijn an das hervorgewürgte Fleisch, das er schliesslich von den alten Wölfen angenommen hatte, als er den Hunger nicht mehr ertrug – hatte er an ihrer Seite gejagt. Gemeinsam hatten sie Karduks erlegt, einen Bären besiegt, der sich in die Schlucht gewagt hatte, und schliesslich sogar einen Sturmdämonen vom Himmel geholt, als dieser eines ihrer Jungtiere entführen wollte. Beim Kampf mit dem Dämonen war die alte Leitwölfin getötet worden, und da Sijn sich an Lossiths Mahnung erinnerte, ein Wolfsfell mitzubringen, hatte er Fell und Zähne des toten Wolfs genommen und damit seine Rüstung dekoriert.
Er hatte es gewagt, die Jagdtrophäen mit Hilfe der wilden Kräfte in die Rüstung einzufügen, doch in der ganzen Zeit hatte er seine Macht nie für grössere Dinge als dies gebraucht. Immer wieder hatte Sijn sich in die Nähe von Hornthal gewagt, und von den umliegenden Gipfeln aus beobachtet, was im Dorf geschah. Als er gesehen hatte, dass man sich für einen Ratstag vorbereitete, wusste er, dass seine Zeit gekommen war, und er hatte das Wolfsrudel verlassen, um ins Dorf zurückzukehren. Und nun stand er hier, und die Augen aller Anwesenden ruhten auf ihm. Sijn klappte das Visier seines Helms auf, so dass alle sein Gesicht sehen konnten, und er sah aus dem Augenwinkel, wie Lycar zusammenzuckte.
„Edle Lumianen, ich kehre heute von der Jagd zurück, auf die ihr uns am Tag der Weihe geschickt habt. Es hat lange gedauert, bis ich mit meinem Wolfsfell hierher kommen konnte, aber die Lawine, die mein Bruder ausgelöst hat, versperrte den Ausgang der Schlucht, so dass ich gefangen war."
Die Kargai wechselten rasche Blicke, und Lycar wurde totenblass. Doch die Lumianen zeigten nicht die geringste Regung.
„Wir hätten uns in einem ehrlichen Kampf gegenüber stehen sollen, doch Lycar hat es vorgezogen, mich heimtückisch aus dem Weg zu räumen. Er hat weder den Wolf erlegt, dessen Fell ihr verlangt habt, noch hat er mich getötet, wie er es hätte tun sollen. Ich bringe euch hier das Fell und ich verlange den Platz meines Bruders einzunehmen, den dieser unrechtmässig errungen hat."
Lycars Hand glitt zum Griff seines Schwertes, aber Rilka, die Lumiane des Frostes, warf ihm einen warnenden Blick zu und begann dann zu sprechen.
„Der siebte Kargai ist zurückgekehrt. Ein Kargai, von dessen Tod uns berichtet wurde, steht hier vor uns und behauptet, am Leben zu sein. Lycar hat uns von dem Zweikampf erzählt, bei dem er seinen Bruder getötet habe. Er hat uns auch von der Lawine berichtet, der er nur mit Müh und Not entkommen sei. Nun sehen wir hier Sijn, seinen Bruder, der sagt, es habe nie einen Kampf gegeben, und Lycar habe die Lawine ausgelöst. Lossith, Lumiane des Firns, lies in deinen Erinnerungen und sag mir, ob Ähnliches schon geschehen ist in der Geschichte des Bergvolkes."
Lossith schloss die Augen und verharrte einen Moment lang bewegungslos. Dann trug sie mit heller Stimme vor, woran sie sich erinnerte.
„Es gab mehrere Fälle von totgeglaubten Kargai, die zurückkehrten. In den meisten Fällen war dies so kurz nach ihrem Verschwinden, dass noch kein neuer Kargai aus dem Nachbardorf gerufen worden war. In diesem Fall nahm der alte Kargai seinen Posten wieder ein. Dann gab es den Fall von dem ich schon am Tag vor der Weihe berichtet habe. In diesem Fall wurde durch einen Zweikampf entschieden, wer der neue Kargai sein würde. Einmal kehrte ein Krieger zurück, der ein Jahr lang ein Gefangener der Orks gewesen war. Er berichtete den Lumianen alles, was er während seiner Gefangenschaft über den Feind erfahren hatte und ging dann aus freiem Willen zum Feuerberg."
Rilka nickte.
„Diese Fälle berichten alle von Kargai, die zurückgekehrt sind, obschon man sie für tot hielt. Sie alle waren aber nicht gestorben, sondern aus verschiedenen Gründen am Leben geblieben. Wenn Sijn ein solcher Kargai wäre, würde das bedeuten, dass Lycar gelogen hat, als er uns von seinem Tod berichtete. Gibt es keinen anderen Fall, in dem ein Kargai fälschlicherweise vom Tod eines anderen berichtet hat, obschon er wusste, dass dieser noch lebte?"
Wieder schloss Lossith einen Moment lang die Augen bevor sie antwortete.
„In der Geschichte des Bergvolkes kam es vor, dass Kargai nicht die Wahrheit sprachen, aber nie in einem vergleichbaren Zusammenhang."
Die Lumiane des Frostes dachte nach, bevor sie mit ihren Fragen fortfuhr.
„Was war die häufigste Strafe für einen Kargai, der beim Lügen ertappt wurde?"
Diesmal kam die Antwort prompt.
„Die Strafen waren unterschiedlich und den verschiedenen Begebenheiten angepasst. Die schlimmste Strafe ereilte den Kargai, der die Lage eines Dorfes an die Orks verriet und dies vor dem Rat der Lumianen leugnete. Er wurde auf dem Dorfplatz hingerichtet. Doch in den meisten Fällen ging es nur darum, Jagdtrophäen zurückzugeben oder verursachte Schäden eigenhändig zu beseitigen. In fünf Fällen wurde das Schwert des Lügners zerbrochen, dreimal mussten Kargai ihre Rüstung abgeben und sich selber eine neue schmieden."
Rilka blickte zu Lycar hinüber und betrachtete dann lange Zeit Sijn in seiner verzierten Rüstung. Schliesslich wandte sie sich wieder an Lossith.
„Nehmen wir an, Lycar hätte die Wahrheit gesprochen. In diesem Fall wäre derjenige, der hier vor uns steht nicht Sijn, sein Bruder. Kannst du dazu etwas sagen, Lossith?"
Die Lumiane des Firns verstummte für lange Zeit. Schliesslich nickte sie bedächtig.
„Zwei Fälle gibt es, die vergleichbar sind. Einst wurde ein junger Kargai im Kampf gegen die Sturmdämonen Angmars getötet. Im Dorf verbrannte man seinen Körper nach alter Sitte, doch kurz nach der Zeremonie kam ein Sturmdämon ins Dorf geritten. Er sass auf dem Karduk des toten Kargai, und er verhielt sich nicht in geringster Weise feindselig. Man nahm ihn gefangen und brachte ihn vor den Rat der Lumianen, wo er erstaunlicherweise in unserer Sprache redete, und behauptete, er sei der tote Kargai. Er schien dies auch tatsächlich zu glauben, und er wusste Dinge, die nur dieser Kargai wissen konnte.
Aus freiem Willen verriet er vieles über Angmar und die Sturmdämonen, und erwartete offenbar, dass man ihn in die Reihen der Kargai aufnehme. Da er interessantes Wissen besass, liess man ihn im Dorf leben, und er begleitete die Kargai überall hin. Schliesslich wurde er in einem Kampf gegen die Sturmdämonen getötet, ohne dass man je herausgefunden hätte, wer er wirklich gewesen war."
Rilka hob interessiert den Kopf.
„Du hast von zwei Fällen gesprochen, Lossith. Worum ging es beim zweiten?"
Lossith lächelte.
„Der zweite Fall ist dem unseren ähnlicher. Es ist sehr, sehr lange her, dass die Kargai aus Nadelfels einen Bären jagten, der mehrmals ins Dorf eingefallen war und Karduks gerissen hatte. Da es sich um ein gewaltiges Tier handelte, beschlossen sie, ihm eine Falle zu stellen. Sie gruben ein gewaltiges Loch am Ende einer schmalen Schlucht und bedeckten es mit dünnen Zweigen und Schnee. Dann lockten sie den Bären in die Schlucht, indem sie ihn mit Steinwürfen reizten. Das Tier rannte ihnen in rasender Wut hinterher bis zu dem Loch, dass die Kargai geschickt übersprangen. Doch der letzte Kargai sprang nicht weit genug. Er trat auf die Kante des Lochs und brach ein. Die anderen versuchten ihm zu helfen, aber in dem Moment war der Bär heran, und obschon er die Falle bemerkte, wurde er von seinem eigenen Schwung weitergetragen, und er brach ein und fiel in die Tiefe. Der Kargai, dessen Fuss zwischen den dünnen Ästen feststeckte, stürzte mit hinunter, und man hörte nur noch das Wüten des Bären. Traurig und hilflos standen die anderen Kargai um das Loch herum, aber schliesslich brachten sie die Arbeit zu Ende, indem sie die Bärenfalle mit Felsbrocken zuschütteten. Dann kehrten sie ins Dorf zurück. Die Zeit verging, ein neuer Kargai kam als Verstärkung für die fünf Überlebenden und das Leben in Nadelfels nahm seinen Lauf.
Doch eines Tages kam der Kargai ins Dorf, der in die Bärenfalle gestürzt war. Da die anderen Kargai seinen Tod miterlebt hatten, wusste man, dass es sich bei ihm nur um einen Geist handeln konnte. Der Zurückgekehrte behauptete zwar, er habe den Sturz in die Bärenfalle überlebt, aber er weigerte sich standhaft zu sagen, wie und auf welche Weise er sich denn daraus habe befreien können. Die Lumianen entschieden, dass niemand den Sturz in dieses Loch hätte überleben können, vor allem nicht, weil die anderen Kargai es danach noch zugeschüttet hatten. Es musste sich also bei dem Zurückgekehrten um einen Geist handeln, und als solchen behandelte man ihn. Er wurde von allen Leuten im Dorf ignoriert, bis er einsah, dass er nicht mehr zu den Lebenden gehörte und das Dorf verliess."
Rilka seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
„Es ist schwierig zu urteilen. Es gibt nicht viele Geschichten über Geister, denen man Glauben schenken kann, und trotzdem scheint mir diese Erzählung unserer Angelegenheit am ähnlichsten zu sein.
Es stellt sich uns also eine Frage: Hat Lycar gelogen, als er uns von Sijns Tod berichtet hat, oder steht uns hier ein Geist gegenüber? Mein Herz sagt mir, dass unsere Kargai nicht lügen, aber meine Erfahrung warnt mich davor, an Geister zu glauben. Was meint ihr dazu, meine Schwestern?"
Zum ersten Mal sprach nun auch die Lumiane des Sturms. Sie liess den Blick über alle sechs Kargai schweifen und starrte dann schliesslich Sijn an.
„In der langen Zeit, in der ich die Lumiane des Sturms von Hornthal bin, habe ich nie erlebt, dass einer meiner Kargai gelogen hat. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ein Kargai so feige wäre, einem Kampf auszuweichen, indem er eine Lawine auslöst. Wir alle kennen die Gefahren der Natur, und ich wage zu behaupten, dass niemand leichtfertig eine Lawine auslösen würde, wenn es einen anderen Weg gibt, ein Problem zu lösen. Wenn ich mir denjenigen ansehe, der vorgibt Sijn zu sein, so vergrössern sich meine Zweifel noch. Seht in an! Welcher Kargai, der noch nicht einmal seine Weihe hinter sich hat, wäre in der Lage seine Rüstung so herzurichten? Schaut nur die Trophäen! Bären, Wölfe, ja sogar die Federn eines Sturmdämons! Und wie hätte er seine Rüstung so herrichten sollen? Wie hätte er den Helm formen können, ohne dazu in eine Schmiede zu gehen? Nein, dies kann nicht Sijn sein, der hier vor uns steht!"
Rilka nickte bedächtig und wandte sich dann an Lossith.
"Dein Urteil, Lumiane des Firns?"
Lossith zögerte, bevor sie stockend zu sprechen begann.
„Wenn dies hier wirklich Sijn ist, so hat er lange Zeit ausserhalb des Dorfes in der Wildnis gelebt. In diesem Fall kann ich mir gut vorstellen, dass es ihm gelungen ist, einen Wolf oder sogar einen Bären zu erlegen – wenn man sein Leben verteidigen muss, gelingen einem manchmal unwahrscheinliche Dinge. Seht die Schrammen und Scharten auf der Rüstung! Seht, dass er kein Schwert mehr trägt! Dieser Kargai hat viel erlebt, und er ist reifer geworden, als jene es sind, die seit ihrer Weihe noch keinen einzigen Kampf auszutragen hatten. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, so kann ich mir doch vorstellen, dass es Sijn ist, der hier vor uns steht. Die Frage ist nur, was in diesem Fall zwischen Lycar und ihm geschehen ist."
Rilka sass lange Zeit völlig regungslos da und lies die Wort der beiden anderen Lumianen auf sich wirken. Schliesslich wandte sie sich in einem leichten Plauderton an die anderen Lumianen.
„Ich habe eigentlich nie an Geister geglaubt, aber heute schien es mir tatsächlich, als ob ich einen gesehen hätte. Er behauptete, er sei der siebte Kargai, den Lycar in den Bergen getötet hat, aber dies ist unmöglich. Zum einen kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Kargai fälschlicherweise vom Tod eines anderen berichten würde, zum anderen war dieser Geist Sijn nicht ähnlich genug. Hätte er nur das verlangte Wolfsfell getragen, so hätte er echt sein können, aber kein so junger Kargai kann einen Sturmdämonen besiegen, um sich mit seinen Federn zu schmücken. Es muss also ein Geist sein, den ich gesehen habe."
Surij, die Lumiane des Sturms nickte.
„Ich habe diesen Geist auch gesehen, und ich bin froh, dass es sich bei ihm nur um einen Geist gehandelt hat. Wäre tatsächlich dieser Sijn aus den Bergen zurückgekehrt, so hätte man erneut einen Kargai zuviel gehabt, und dazu wäre noch gekommen, dass einer der Kargai als Lügner bezichtigt worden wäre. Sijns Rückkehr hätte nur Unfrieden in unser Dorf gebracht, wo unser Leben doch im Moment so ruhig verläuft."
Lossith dagegen senkte den Kopf.
„Bei dem Kargai, der damals in die Bärengrube fiel, waren fünf andere Kargai zugegen und sahen dem Unfall zu. Hier und heute haben wir über einen Fall gesprochen, bei dem nur zwei Leute die Wahrheit kennen. Was sie erzählen, unterscheidet sich jedoch in einem wesentlichen Punkt. Nun, das Wohl des Dorfes steht über allem, und so werde ich nichts weiter sagen. Doch eines möchte ich zum Abschluss doch noch betonen. Ich erinnere mich an viele Geistergeschichten, und alle haben eines gemeinsam: Nie hat ein Geist nicht die Wahrheit gesagt. – Aber was sitzen wir hier tatenlos da? Oben warten immer noch Leute, die auf unseren Rat hoffen, und wir sitzen hier herum und schwatzen von Geistern. Lasst uns besser mit dem Rat fortfahren."
Sijn zuckte zusammen, dann trat er auf die Lumianen zu.
„Ich bin kein Geist! Lycar hat mich betrogen! Seht ihn doch an; seht wie er zittert vor Angst, dass seine Lüge ans Licht kommt! Ihr könnt mich nicht fortjagen! Ich habe dasselbe Recht wie Lycar, hier im Dorf zu leben. Nein, ich habe sogar eher das Recht als er, denn wie ich sehe, trägt er im Gegensatz zu mir kein Wolfsfell am Mantel!"
Keine der Lumianen schien ihn wahrzunehmen, und Sijn verspürte plötzlich grosse Angst. Er wusste, dass er kein Geist war, aber was, wenn man nicht auf ihn hören würde? Die Lumianen sprachen nun von alltäglichen Dingen, und einer der Kargai ging zur Treppe, um den nächsten Dorfbewohner in die Halle zu rufen. Sijn trat zu Bohir hin.
„Bohir, du kennst mich doch? Du weißt, dass ich kein Geist bin! Sieh Lycar doch mal an! Er hat gelogen, sieh doch, wie er sich fürchtet, dass die Wahrheit an den Tag kommt!"
Der Anführer der Kargai blickte starr durch ihn hindurch. Rilka hatte das Urteil gesprochen, und niemand würde es wagen, sich ihr zu widersetzen. Als Sijn dies begriff, fühlte er, wie etwas in ihm zerbrach.
Nun gut, er würde gehen. Er würde das Dorf verlassen und nie mehr zurückkehren. Nur eines blieb ihm noch zu tun. Kurz entschlossen trat er vor Lycar hin und zog ihm sein Schwert aus dem Gürtel.
Sein Bruder wusste nicht, was er tun sollte, da er sich nicht anmerken lassen durfte, dass er Sijn sehr wohl wahrnahm. Bevor er irgendetwas tun konnte, holte Sijn aus und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Lautlos sackte Lycar in sich zusammen, und Sijn hörte Rilkas Stimme:
„Helft ihm hoch und bringt ihn weg! Die Geistergeschichten waren offensichtlich zuviel für ihn. Und er wird sich ein neues Schwert schmieden müssen – das seine scheint er verloren zu haben."
Sijn steckte die Waffe seines Bruders ein und ging mit raschen Schritten zur Treppe. Als er sie fast erreicht hatte, hörte er hinter sich Lossiths Stimme.
„Seltsam an der Geschichte mit dem Bären ist, dass der zurückgekehrte Kargai nie zugegeben hat, dass er ein Geist war. Als er merkte, dass man ihn im Dorf nie mehr annehmen würde, ging er nicht zum Feuerberg, um endgültig aus dem Leben zu schwinden, nein, er ging zur Schmiede und färbte seine Rüstung schwarz. Man kannte ihn noch jahrelang als den schwarzen Kargai, der in den Bergen sein Unwesen trieb."
Draussen standen immer noch die Dorfbewohner vor dem Tor und warteten. Ein Kargai führte soeben einen alten Mann die Treppe hinab, als Sijn ins Freie trat. Keiner der beiden beachtete ihn, und auch die Dorfbewohner draussen schienen ihn nicht wahrzunehmen. Der Kargai musste ihnen vom Beschluss der Lumianen erzählt haben, so dass sie ihn jetzt auch ignorierten.
Warum hatte Lossith von dem schwarzen Kargai erzählt? Sie schien Lycar nicht sonderlich zu mögen, und Sijn war es so vorgekommen, als wäre sie von Anfang an auf seiner Seite gewesen. Offenbar schien sie sich zu wünschen, dass er um sein Leben kämpfte, anstatt sich in sein Schicksal zu ergeben. Sijn überlegte, während er vom Hügel weg in Richtung Dorf ging. Er konnte nicht mehr Kargai in Hornthal werden, das war eindeutig. Die Entscheidungen der Lumianen waren endgültig. Er konnte auch nicht zurück nach Gletschern, noch konnte er sich einem anderen Dorf anschliessen. Weggehen? Aber wohin? Sijn hatte immer in den Bergen gelebt, und er wusste nichts von den Völkern der Ebenen. Ausser dem Bergvolk kannte er nur die üblen Kreaturen aus Angmar, und mit ihnen wollte er nichts zu tun haben.
Inzwischen hatte er das Dorf erreicht, und eher unbewusst führte ihn sein Weg zur Schmiede, wo das Feuer heiss brannte. Der Schmiedelehrling stand am Schleifstein und bearbeitete ein langes Küchenmesser.
Sijn sah die Legierung, mit der man die Eisrüstungen härtete auf einem Regal stehen und nahm sie herunter. Der Junge sah ihn nicht an. Offenbar hatte sich das Urteil der Lumianen schon bis ins Dorf herumgesprochen.
Ohne lange zu zögern entledigte sich Sijn seiner Rüstung und begann sie Stück für Stück auseinander zu nehmen. Dann pinselte er die einzelnen Teile vorsichtig mit der Legierung ein und hielt sie mit einer langen Zange ins Feuer. Immer wieder nahm er sie heraus, kühlte sie im Wasser ab und bepinselte sie von neuem. Dann hielt er die Stücke erneut in die Flammen, bis sie sich dunkel verfärbten.
Erst als auch der letzte Teil der Rüstung schwarz wie die Nacht war, hielt Sijn inne. Der Schweiss perlte ihm von der Stirn, und sein Hemd klebte ihm am Rücken. Die Rüstung lag vor ihm. Einst hatte sie so weiss geschimmert wie frisch gefallener Schnee, aber nun war sie dunkel und die bläulichen Sturmdämonenfedern auf den Schulterplatten glitzerten gefährlich. Das Schwarz war nicht so stumpf, wie Sijn es sich vorgestellt hatte, nein, es glänzte, als wäre die Rüstung nass.
Nach einem kurzen Zögern liess Sijn seine Rüstung liegen wo sie war und ging zur Hütte neben der Schmiede. Er öffnete die Tür und trat ein. Eine junge Frau starrte ihm ängstlich entgegen, aber sie sagte kein Wort. Sijn ging zu der Truhe hinüber, die neben der Tür an der Wand stand und öffnete sie. Wie vermutet enthielt sie Kleider. Sijn lächelte die Frau entschuldigend an und entnahm der Truhe ein Hemd, eine Hose und einen dicken Wollumhang. Dann ging er zur Feuerstelle und nahm sich ein Brot und einen Beutel mit Trockenfleisch vom Vorratsgestell. Er verliess die Hütte wieder, aber in der Tür wandte er sich doch noch an die junge Frau.
„Es tut mir leid, dass ich Euch diese Dinge wegnehmen muss, aber ich habe mich dem Urteil der Lumianen zu beugen und das Dorf zu verlassen. Wenn Ihr ihnen Euren Verlust meldet, werden sie Euch die gestohlenen Dinge bestimmt ersetzen. Lauft nur rasch, damit Ihr noch rechtzeitig zum Rat kommt!"
Die Frau antwortete nicht, aber sie erhob sich, als Sijn den Raum verliess. Kurze Zeit später verliess auch sie die Hütte und folgte ihm zur Schmiede. Als sie an dem jungen Mann vorbei ging, liess sie einen Beutel vor seine Füsse fallen und murmelte leise:
„Ich habe den jüngsten Kargai nie gemocht. Eingebildet ist er, und geprahlt hat er mit dem Mord an seinem Bruder. Ich wünsche diesem Geist jedenfalls alles Gute, solange er sich nicht an uns Dorfbewohnern für die Schandtaten seines Bruders rächt."
Sijn wartete, bis die junge Frau weg war, dann bückte er sich und hob den Beutel auf. Darin befanden sich ein Feuerstein, ein kurzes Messer, ein paar Handschuhe und ein Bündel Kräuter, die angenehm dufteten. Sijn wusste, dass sie mit Wasser aufgebrüht gegen allerhand Krankheiten halfen.
Er ging zurück zur Schmiede, wo er sein Hemd auszog, und sich an dem Kübel wusch, in dem er vorher seine Rüstung ausgekühlt hatte. Dann zog er die frischen Kleider an und begann seine Rüstung anzulegen.
Als er damit fertig war, hing er sich den Beutel über die Schulter, nickte dem Schmiedelehrling freundlich zu und ging zu den Umzäunungen, in denen die Karduks standen. Sein Kalb befand sich ein wenig abseits von der Herde, so als ob auch es verstossen worden wäre. Sijn rief das Tier zu sich und legte ihm einen Strick um den Hals.
Zusammen mit dem Karduk verliess er das Dorf. Mit festen Schritten und ohne einen Blick zurück trat er in die Hornklamm und liess sein bisheriges Leben hinter sich. Es war Zeit für einen Neubeginn, auch wenn er noch nicht wusste, wie dieser aussehen würde.
