A/N: Hier fängt also der zweite Teil der Geschichte an. Zehn Jahre sind vergangen, und die Hauptpersonen sind endlich erwachsen geworden ;) Reviews motivieren mich übrigens dazu; schneller zu posten...
Flucht in die Wüste
Eine Einheit von Südwinden stand am Rand der Wüste und bereitete sich auf deren Durchquerung vor. Der helle Streifen am Horizont verhiess nichts Gutes -- innerhalb der nächsten Stunden würde ein Sandsturm über sie kommen, und sie wollten in die Feste gelangen, bevor er sie eingeholt hätte. Schon jetzt hatte der Wind aufgefrischt, und er trug feinen Sand mit sich, der in die Kleidung eindrang, die Augen verklebte und den Mund austrocknete. Araym riss ärgerlich mit den Zähnen an seinem Schleier, um ihn näher an sein Gesicht heranzuziehen und zerrte dann an dem Band, mit dem er an der Kapuze befestigt war, bis der dünne Stoff wieder fest über Nase und Mund sass.
Neben ihm fluchte Sharil, dessen Umhang wild um ihn herum flatterte. Araym verstand wegen des Windes nicht, was der andere sagte, aber er erriet, dass dieser darüber schimpfte, dass man sie trotz des herannahenden Sturms ausgesandt hatte, um die nördliche Passstrasse zu bewachen. Wer sollte schon bei diesem Wetter durch die Wüste reisen wollen?
Araym liess seinen Blick über die Felswand im Westen schweifen. Durch den aufgewirbelten Sand nur undeutlich sichtbar führte hier der Weg vom Pass in engen Windungen in die Ebene hinunter. Kaum jemand wählte diesen Pfad, um das Gondramgebirge zu überqueren, denn er war schmal und steil und führte mitten in die Wüste. Die wenigen Händler, die immer noch ab und zu versuchten, in den Westenn zu gelangen, entschieden sich eher für einen der Pässe nördlich der Wüste, die viel einfacher zu begehen waren. Araym glaubte, dass die schlausten Reisenden weit im Norden einen Weg über das Gebirge suchten -- dort waren die Berge wild und zerklüftet und erlaubten es einem, im Verborgenen zu reisen. Falls es ab und zu jemandem gelang, das Gondramgebirge zu überqueren, so war das bestimmt im Norden. Araym wusste nur von einem Mann, der es geschafft hatte, ungeschoren im Süden nach Amarond zu kommen. Seine verkrüppelten Hände würden ihn dies nie vergessen lassen.
Die Südwinde hatten nun alle ihre Schleier festgezurrt und waren bereit, loszureiten. Ein letzter Blick zurück, und Araym zuckte zusammen. Das durfte nicht war sein! Er fühlte, wie sich das Haar in seinem Nacken aufstellte und sich eine Gänsehaut auf seinen Armen ausbreitete.
Unauffällig liess er seinen Blick noch ein wenig länger auf der Bergflanke ruhen. Kein Zweifel, da war tatsächlich ein Mensch auf dem schmalen Pfad, der in die Wüste hinunterführte. Dieselbe schlanke Gestalt wie vor zehn Jahren, derselbe dunkle Umhang, das gleiche schwarze Haar. Nur führte der Mann dieses Mal nicht eines sondern zwei Pferde hinter sich her.
In Arayms Kopf kreisten widersprüchliche Gedanken. Es konnte unmöglich derselbe Mann sein, auch wenn er ihm noch so ähnelte. Ausserdem war er noch weit entfernt und der Sand, der in der Luft lag trübte den Blick. Doch auch wenn es nicht der gleiche Reisende war, wie vor zehn Jahren, so war doch unzweifelhaft ein Mensch auf dem Weg in die Wüste, und es war die Pflicht der Südwinde, ihn aufzuhalten.
Araym blickte nach Süden. Der helle Streifen am Horizont war breiter geworden, und man konnte den Sturm bereits hören. Die Kamele wurden unruhig und auch die Südwinde schienen sich nicht mehr wohl in ihrer Haut zu fühlen. Und Araym entschied sich. Er sah die anderen Reiter an und rief gegen das Heulen des Windes an.
"Worauf warten wir? Wenn wir noch lange herumstehen, trifft uns der Sturm mit seiner ganzen Kraft, und darauf kann ich verzichten."
Die anderen nickten. Der kleine Trupp von Südwinden zwang seine Reittiere südwärts, dem Sturm entgegen.
Araym trieb sein Kamel an, liess sich dabei aber unauffällig an den Schluss der Kolonne zurückfallen. Im ersten Moment hatte er sich überlegt, dass es für den Reisenden auf dem Bergpfad nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder, er wartete den Sturm im Schutz der Felswand ab und konnte dann von den Südwinden nur noch eingesammelt werden, wenn der Wind sich gelegt hatte, oder er wagte sich hinaus in die Wüste. Während eines Sandsturmes würde diese Handlungsweise unweigerlich tödlich enden -- nicht einmal ein Südwind konnte einen solchen Sturm ungeschützt überstehen. Dann war ihm aber eine andere Idee gekommen. Was, wenn der Reisende die Ebene rechtzeitig erreichte und den Bergen entlang nach Norden floh? Pferde waren schnell; wenn er es bis an den Rand der Wüste schaffte, konnte er sich im niedrigen Unterholz verbergen, bis der Sturm nachgelassen hatte.
Auf diese Weise konnte ihm sogar die Flucht gelingen, denn auch die Späher am Wüstenrand würden sich vor dem Sturm in ihre Lager zurückziehen. Was war aber, wenn ihn die Späher doch entdeckten? In diesem Fall würden sie ihn jagen und töten. Aber sie würden wissen, dass er aus dem Westen kam und dass ihn eine Südwindpatrouille übersehen haben musste. Araym erinnerte sich an den Tag seiner Bestrafung, an seine Angst, die Schmerzen und das Fieber, das darauf folgte. Nein, das wollte er kein zweites Mal erleben! Ausserdem hatte sich in der Sandfeste einiges geändert. Layar war vor zwei oder drei Jahren bei einem Kampf getötet worden, und nun hatte Malak das Kommando. Layar war hart aber gerecht gewesen, Malak war einfach nur hart. Layar hatten die Südwinde verehrt, Malak fürchteten sie. Araym konnte sich gut vorstellen, was geschehen würde, wenn der Fremde von den Spähern aufgegriffen wurde. Malak würde alle Südwindtrupps auspeitschen lassen, die sich zu diesem Zeitpunkt draussen befunden hatten. Dann würde er einen oder zwei von ihnen auswählen und sie vor den Augen aller anderen zu Tode foltern. Hatte Layar nur diejenigen bestraft, die auch wirklich versagt hatten, so strafte Malak willkürlich den ersten besten, der ihm in die Hände fiel. Auf diese Weise hetzte er auch die Südwinde gegeneinander auf und zwang sie dazu, sich gegenseitig im Auge zu behalten.
Nein, im Grunde genommen hielt ihn nichts mehr in der Sandfeste. Layar war tot, Ajuur war tot, und vor zwei Monden war auch Bantila gestorben. Araym verstand sich mit vielen der Südwinden gut, aber keiner von ihnen war ihm ein wirklich guter Freund, wie es Ajuur gewesen war. Oh, wie sehr er Ajuur manchmal vermisste! Trotz seiner Blindheit war er noch lange Zeit ein gefürchteter Krieger gewesen, aber nach Layars Tod verlor er an Ansehen. Malak weigerte sich, ihn den Patrouillen zuzuteilen, und zwang ihn, in der Feste zu bleiben. Schliesslich war Ajuur gegangen. Es hiess, er wäre endlich freiwillig in die Wüste gegangen, wie man das von einem Blinden erwarte, aber Araym war sich sicher, dass etwas nicht stimmte. Ajuur und er hatten sich gegenseitig gelobt, niemals aufzugeben, und Ajuur wäre niemals gegangen, ohne ihm nicht zumindest Bescheid zu sagen oder wenigstens eine Nachricht zu hinterlassen.
Und Bantila? Sie hatte sich um Araym gekümmert, als er nach seiner Bestrafung beinahe gestorben wäre. Nach seiner Genesung hatte er viel mit ihr geredet, und sie waren gute Freunde geworden. Lange Zeit waren sie nicht mehr als Freunde gewesen, aber irgendwann hatte sich dies geändert. Araym wusste nicht, weshalb sie schliesslich ein Paar geworden waren; es war einfach so geschehen. Er wusste auch nicht, weshalb sie ihre Beziehung vor den anderen geheim gehalten hatten; es hatte einfach keinen Grund gegeben, darüber zu sprechen. Nur Ajuur und seine Frau wussten darüber Bescheid, aber sie schwiegen ebenso wie Araym und Bantila. Dann kam Malak an die Macht, und er machte Bantila eindeutige Anträge, die sie immer wieder ablehnte. Und dann, eines Tages, nahm sie Malaks Antrag an und verlobte sich mit ihm. Araym erfuhr nie, weshalb sie es getan hatte, denn sie ging ihm von da an so gründlich aus dem Weg, dass es ihm nie mehr gelang, mit ihr alleine zu sprechen. Letzten Sommer war Bantila dann schwanger geworden, und als vor zwei Monden das schwarze Fieber über die Sandfeste hereingebrochen war, hatte sie es nicht überstanden.
Araym seufzte, als er an die vergangenen zwei Jahre dachte, und sein Entschluss gefiel ihm immer besser. Nein, er würde nicht in die Sandfeste zurückkehren, um darauf zu warten, ob die Späher den Mann mit den Pferden entdeckten. Er würde keine weitere Strafe riskieren. Er liess sich immer weiter zurückfallen, hoffend, dass keiner der anderen Reiter es bemerken würde. Als sie sich dem Felsenlabyrinth näherten, in dem der Pfad zur Sandfeste verborgen lag, bog er ab und verbarg sich in einem Nebenarm der Schlucht, bis er sicher war, dass die anderen weg waren. Dann trieb er sein Kamel wieder hinaus in die Wüste. Das Tier sträubte sich, aber da er es nicht in Richtung des Sturmes trieb, sondern davon weg, gehorchte es schliesslich unwillig.
Araym eilte in die Richtung zurück, den sie soeben gekommen waren, aber er hielt sich an die Piste, die näher an den Bergen verlief, um die Orientierung im immer dichter wirbelnden Sand nicht zu verlieren. Das Kamel folgte nun willig seinen Befehlen, eifrig darauf bedacht, sich nicht vom Sandsturm einholen zu lassen. Bald einmal kamen sie dorthin, wo der Bergpfad in die Ebene mündete, und Araym verbarg sich so gut wie möglich zwischen ein paar herabgestürzten Felsbrocken. Er befahl seinem Reittier sich niederzulegen und schlich dann näher an den Weg aus den Bergen heran.
Er hatte sich nicht getäuscht. Der Fremde mit den Pferden liess sich tatsächlich nicht vom Sturmwind aufhalten. Langsam kam er das letzte steile Stück herabgeklettert und wartete geduldig, bis die Pferde ihm gefolgt waren. Die Tiere waren schweissbedeckt, und der herumfliegende Sand bedeckte ihre nassen Flanken. Araym sah an ihren weit aufgerissenen Augen, wie sehr die Pferde sich fürchteten, aber trotzdem schienen sie weiterhin den Befehlen ihres Herrn zu gehorchen. Nun, nicht mehr lange... Araym tastete nach dem Blasrohr, das an seinem Gürtel hing. Mit einer geübten Bewegung schlug er den Schleier zurück, zog mit den Zähnen das Amulett, das er um den Hals trug, unter den Kleidern hervor, klappte es mit einem geschickten Zungenschlag auf und packte mit den Schneidezähnen eine der Nadeln, die darin steckten. Dann hob er das Blasrohr an die Lippen. Der Wind blies stark, aber Araym war so nahe, dass er sein Ziel nicht verfehlen würde. Er wartete auf den geeigneten Moment, der kam, als der Fremde sich auf das grössere der beiden Pferde schwang. Für einen Moment wehte der Wind seinen Umhang zur Seite und legte seinen Rücken frei. Der Fremde trug ein Lederwams, aber das Leder schien so dünn zu sein, dass es kein Hindernis für das dünne Silbergeschoss war.
Blitzschnell verliess die Nadel das Blasrohr, doch ebenso schnell fuhr der Reiter herum, als ob er etwas bemerkt hätte. Für einen Augenblick glaubte Araym, er habe getroffen, doch dann wandte der Fremde seinen Schimmel nach Norden und preschte davon, dicht gefolgt vom zweiten, kleineren Pferd. Verfehlt! Nun, er würde dem Mann folgen müssen, jetzt hatte er keine Wahl mehr. Araym huschte zurück zu seinem Kamel und wollte sich auf dessen Rücken schwingen. Doch das Tier war halb wahnsinnig vor Angst. Gerade als er ungeschickt nach dem Sattelknauf tastete, richtete es sich auf, brüllte lauthals und rannte dann schwankend davon. Solange er es noch sehen konnte, blickte Araym ihm hinterher, dann lehnte er sich an einen der Felsbrocken und schloss die Augen. So war denn sein Schicksal besiegelt.
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Araym wusste nicht, wie lange der Sturm gedauert hatte. Als er aus seiner Ohnmacht erwachte, war er von einer dünnen Sandschicht bedeckt. Der Sand war überall, in der Nase, in den Augen, im Mund, in den Ohren, einfach überall. Der Gesichtsschleier hatte ihn vor dem Ersticken bewahrt, aber das war auch schon alles.
Ächzend richtete sich Araym auf und sah sich um. Wie immer nach einem Sandsturm war die Wüste völlig verändert. Verschwunden waren die markanten Wegpunkte, die sie vor dem Sturm verwendet hatten, bedeckt oder umgestürzt die Felstürmchen, die sie dort aufgerichtet hatten, wo nichts anderes die Orientierung erleichterte. Neue Dünen türmten sich hoch auf und bedeckten die Piste, auf der er hergeritten war. Nun, wo der Wind sich gelegt hatte, war der Himmel strahlend blau und der rötliche Sand bildete einen scharfen Kontrast dazu. Wie weit es wohl zur Sandfeste sein mochte? Eine Stunde zu Fuss? Zwei? Drei? Araym schüttelte seinen Wasserschlauch, um seine Befürchtung bestätigt zu finden. Der staubfeine Sand war in den Behälter eingedrungen und hatte das kostbare Nass in eine schlammige Masse verwandelt. Kopfschüttelnd löste Araym den Schlauch von seinem Gürtel und liess ihn zu Boden fallen. Was sollte er sich mit unnützem Gepäck belasten, wo es schon so schwierig genug sein würde, zurück zur Sandfeste zu kommen.
Die Sonne stand hoch am Himmel - es musste kurz vor Mittag sein. Zu diesem Zeitpunkt wäre es Selbstmord, ohne Wasser in die Wüste hinaus zu marschieren. Aber er konnte auch nicht hier bleiben. Arayms Mund war ausgetrocknet, sein Lippen spröde und aufgesprungen. Jeder Atemzug brannte wie Feuer in seiner Nase und seiner Kehle, wenn die heisse Luft an den ausgetrockneten Schleimhäuten vorbeistrich. Ein trockener Husten schüttelte ihn - vermutlich hatte er einiges an Sand eingeatmet, während er ohnmächtig gewesen war. Wie weit mochte es sein, bis zum Rand der Wüste? Die Späher der Südwinde hatten ein kleines Lager nördlich von hier. Ob es wohl näher lag als die Sandfeste?
Und dann wusste Araym mit einem Mal, dass er nicht in die Sandfeste zurückkehren wollte. Er würde auch nicht ins Lager der Späher marschieren, nein, er konnte nicht zu den Südwinden zurückkehren. Vor zehn Jahren hatte er auf einen Reisenden geschossen, ihn verfehlt und dafür seine Hände verloren. Nun hatte er wieder als einziger einen Fremden gesehen, hatte wiederum auf ihn geschossen, und ihn erneut verfehlt. Nein, er war es nicht länger wert, ein Südwind zu sein. Es war an der Zeit für ihn, in die Wüste hinaus zu gehen, wie er es schon vor zehn Jahren hätte tun sollen.
Araym schüttelte seine Kleider aus, so gut es ging, befestigte seinen Schleier vor dem Gesicht und wanderte los - auf geradem Weg nach Osten, hinaus in die Wüste.
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Mit der Zeit verwirrte sich Arayms Verstand. Er begann sich Dinge einzubilden, von denen er wusste, dass sie nicht da sein konnten, aber er wusste, dass dies mit dem Wassermangel und der Hitze zusammenhing, und er liess sich dadurch nicht von seinem Weg ablenken. Während seines Wanderns dachte er über vieles nach, und langsam aber sicher reifte in ihm ein neuer Entschluss. Er erinnerte sich wieder an die Geschehnisse, die vor zehn Jahren sein Leben verändert hatten. Nie war er dem Tod so nahe gewesen wie damals, als sich die Verbrennungen an seinen Händen entzündet hatten. Damals hatte ihm eine Kräuterfrau geholfen, die am Rand der Wüste in einer kleinen Hütte lebte. Man hatte ihr die Augen verbunden und sie zur Feste gebracht, damit sie ihm helfe.
Kirgu Tammari, so hiess die Frau, hatte die Südwinde ohne Widerspruch begleitet. Sie hatte Araym behandelt und sich dann zurück zu ihrem Häuschen bringen lassen. Als es Araym besser ging, hatte er sich ein Kamel genommen und war zu ihr geritten, um sie zu besuchen. Er erinnerte sich noch gut an seinen Weg dorthin. Damals war in ihm bereits der Gedanke gereift, er könnte mit Gift kämpfen. Ajuur hatte ihm schon von den alten Blasrohren der Südwinde erzählt und hatte damit Arayms Interesse geweckt. Er fürchtete sich aber, ein dermassen tödliches Gift zu verwenden wie die Südwinde früher, da er im Umgang mit seinen verkrüppelten Händen noch sehr ungeschickt war.
Kirgu hatte ihn damals willkommen geheissen und hatte sich ehrlich darüber gefreut, ihn gesund zu sehen. Auch wenn die Südwinde sie mehr oder weniger gezwungen hatten, ihn zu pflegen, schien ihr sein Wohl wahrhaftig am Herzen zu liegen. Sie redeten lange miteinander, und Araym vergass dabei völlig, weshalb er eigentlich zu Kirgu geritten war. Erst als der Abend dämmerte, und sie ihm Unterkunft für die Nacht anbot, fiel ihm ein, wonach er sie eigentlich hatte fragen wollen. Kirgu war nicht glücklich, als er sie um ein Gift bat, aber schliesslich erklärte sie sich bereit ihm zu helfen. Araym kehrte noch in derselben Nacht in die Sandfeste zurück -- in seinem Kopf die nötigen Informationen und in seinem Beutel ein kleines Säckchen mit Kräutern, die nicht tödlich wirkten wie das Pfeilgift der Südwinde, die aber einen Menschen sehr rasch schwach und schwindlig machten.
Araym hatte Kirgu noch ein paar Mal besucht, und sie schien ihn tatsächlich zu mögen, aber die alte Frau hatte sehr oft Besuch aus dem Dorf, und Araym kam nur, wenn sie alleine war. Als Araym wieder in der Lage war mit den Südwinden zu reiten und Kirgu oft Besuch von einem kleinen rothaarigen Mädchen hatte, hatte er seine Besuche bei der Heilerin eingestellt.
Jetzt, wo er dem Tod so nahe zu sein schien, wie seit zehn Jahren nicht mehr, fielen Araym seine Besuche bei Kirgu Tammari wieder ein. Sie hatte ihm immer Fruchtsaft zu trinken gegeben, Saft aus Beeren, die ihr die Dorfbewohner mitbrachten, wenn sie ihre Hilfe brauchten. Dieser Fruchtsaft hatte dafür gesorgt, dass sich Araym immer wie ein kleines Kind gefühlt hatte, wenn er bei der alten Frau sass. Zuhause in der Sandfeste gab es keinen Fruchtsaft. Kleine Kinder tranken Milch, für alle anderen gab es Wein, vergorene Kamelmilch, den starken Kräuterschnaps der Südwinde oder von Händlern erbeutetes Bier. Was würde er jetzt für einen Becher von Kirgus Fruchtsaft geben! Oder nur frisches Wasser aus dem Brunnen neben ihrem Haus!
Die Sonne brannte gnadenlos, und inzwischen war jeder Schritt eine Qual. Seine Beine schienen Tonnen zu wiegen, der Sand umklammerte die Füsse und hielt sie zurück, wenn er sich dazu zwang, sie wieder und wieder hochzuheben, vorwärts zu bewegen und wieder niederzusetzen. Bergauf rutschte er bei jedem Schritt wieder um die Hälfte zurück, wie er hochgestiegen war, bergab versank er so tief, dass der glühendheisse Sand oben in seine Stiefel rieselte, seine Beine verbrannte und sich dann um seine Füsse lagerte, um sie noch schwerer zu machen. Jeder keuchende Atemzug verbrannte ihn bis tief in seine Lungen, und machte ihn Husten. Die Augen brannten; längst hatte er keine Tränen mehr.
Ab und zu überkam ihn ein Schwindelanfall, der ihn taumeln liess. Helle Punkte tanzten vor seinen Augen und in seinen Ohren dröhnte sein eigener Herzschlag.
Und je schlechter es ihm ging, desto mehr wurde sich Araym bewusst, dass er nicht sterben wollte. Einst hatte er Ajuur versprochen, dass er nicht aufgeben würde, und eigentlich wollte er das jetzt auch nicht mehr. Er musste einen Weg aus der Wüste finden, und zwar so schnell wie möglich.
Zu Kirgu! Araym wusste, dass er nicht in die Sandfeste zurückkehren konnte, und es auch nicht wollte. Aber Kirgus Hütte sollte eigentlich zu erreichen sein. Kirgu würde sich um ihn kümmern, und wenn er sich erholt hatte, würde er nach Osten ziehen. Araym erinnerte sich kaum an Satar-Ai, wo er geboren war, aber er erinnerte sich noch an ein Lied, das ihm jemand vorgesungen hatte.
"Schlaf ruhig mein Kind, bleib einfach liegen,
Die Wellen sanft dein Körbchen wiegen.
Wasser plätschern, Fische springen,
So soll der See dein Schlaflied singen."
Araym hatte keine Ahnung, wie das Lied weiterging, noch wer es damals gesungen hatte. Er war noch zu klein gewesen, als sie Satar-Ai verliessen, und er erinnerte sich nur an vage Bilder, Düfte und Klänge ohne Zusammenhang. Trotzdem brachte er die paar Liedzeilen nicht mehr aus dem Kopf. Ausgerechnet ein See - Araym hatte nie eine grössere Wasserfläche gesehen als den Badeteich in der Sandfeste. Wieso musste ihm ausgerechnet jetzt, hier, in dieser trockenen Ödnis ein Lied über den See von Satar-Ai im Kopf herumgeistern?
Ja, wenn er es bis zu Kirgu schaffte, würde er nach Osten ziehen. Er würde nach Satar-Ai reisen und dort nach Arbeit suchen. Schliesslich war er ein guter Kämpfer, und solche wurden immer gebraucht. Hatte er erst einmal bewiesen, dass er trotz seiner Hände ein ernstzunehmender Gegner war, fand er bestimmt eine Anstellung als Söldner. Er musste nur darauf achten, niemals mehr in das Gebiet der Südwinde zu kommen, aber es gab ja genügend andere Länder im Osten, die man bereisen konnte.
