A/N: Es geht weiter - keine Angst, solange ich ab und zu die Bestätigung erhalte, dass noch jemand mitliest, poste ich auch weiter. Ich wollte letzte Woche eigentlich nicht drohen, aber es hat offensichtlich funktioniert ;-)
I.H.N.: Hallo! Danke, dass du dich gemeldet hast, auch wenn Erus Tochter (noch?) nicht vorgekommen ist. Die Wagenfahrer habe ich nicht vergessen: Amarond liegt viel weiter im Osten, aber irgendwann müssen die Helden ja auch in bekanntere Gebiete Mittelerdes kommen, und da werden die Wagenfahrer aus dem Ostennicht fehlen. Ich erwarte wirklich keine wöchentlichen Reviews von dir - ich bin selber auch nicht die fleissigste Reviewerin, auch wenn ich mir Mühe gebe...
Jetzt aber zum nächsten Kapitel:
Tiruials Rückkehr
Es war noch früh am Morgen, und die ersten Sonnenstrahlen tauchten das Tal in ein goldenes Licht. Einige Nebelschwaden hingen noch über den Feldern, aber es würde ein wundervoller Spätsommertag werden.
Anarya stand am Fenster und blickte nach Westen, wo sich das Gondramgebirge in rotgoldenem Licht präsentierte. Heute musste ihr jüngster Bruder Odios mit den Ziegen in die Hügel ziehen und es war ihm entsetzlich zuwider. Anarya dagegen hätte viel darum gegeben, an seiner Stelle zu sein. Auch sie musste heute das Gut verlassen und sich auf die Reise in die Hauptstadt machen. Ihr Vater hatte ihr eine Einladung an den Herbstball des Königs verschaffen können, denn es war üblich, dass adlige Jugendliche im heiratsfähigen Alter an diesem Fest teilnahmen, um neue Bekanntschaften zu schliessen. Fürst Bradwen hatte für Anarya bereits einen Ehemann ins Auge gefasst, und er wollte, dass sie ihn am Ball kennen lernte.
Anarya wusste, dass sie mit zwanzig Jahren schon eine der älteren Teilnehmerinnen am Ball sein würde. Eigentlich hätte sie schon vor vier Jahren in die Hauptstadt reisen sollen, um am Hof des Königs zu leben und sich als Fürstentochter zu präsentieren, aber dann war das schwarze Fieber ausgebrochen, und Anarya, die als eine der wenigen davon verschont geblieben war, war auf dem Gut geblieben, um sich um die Kranken zu kümmern. Nach dem Tod ihrer Mutter, die der Krankheit erlegen war, hatte sie deren Pflichten und Ämter am Hof übernommen und sich um ihren Vater und ihre jüngeren Geschwister gekümmert. Eigentlich hatte sie im Stillen gehofft, dass es immer so bleiben würde, aber Fürst Bradwen hatte nicht vergessen, dass er seine Tochter einst in die Hauptstadt hatte schicken wollen, und dieses Jahr hatte er eine Haushälterin gefunden und daraufhin Anaryas Reise arrangiert.
Fürstentochter hin oder her, hier, fern von der Hauptstadt, packten alle gleichermassen mit an, und Anarya verbrachte viel Zeit in der Küche, so auch an diesem letzten Morgen vor ihrer Abreise in die Hauptstadt. Gedankenverloren setzte sie Wasser auf und schürte das Feuer, während sie sich vorzustellen versuchte, wo sie am nächsten Tag um diese Zeit wohl sein würde, wo übermorgen, in einem Monat, in einem Jahr? Würde sie wohl einen Ehemann finden, den sie mit der Zeit lieben lernte, so wie ihre Mutter ihren Vater? Würde er ihr ein Leben in solcher Freiheit ermöglichen, wie sie es gewohnt war, oder musste sie sich dem strengen Verhaltenskodex des Königshofes unterordnen? Und konnte sie dies aushalten? Doch plötzlich riss sie ein schriller Schrei aus ihren Überlegungen. Stimmen riefen hektisch durcheinander und mit einem lauten Rumpeln stürzte irgendetwas zusammen. Hastig stellte Anarya die Tassen hin, die sie gerade in der Hand hatte und eilte zur Haustüre.
Im Hof stand Marek, der Gutsverwalter, zusammen mit sechs oder sieben Stallburschen um ein Pferd herum, das sie in die Mauerecke neben dem Eingangstor gedrängt hatten. Das Tier schlug wild um sich und schrie seine Wut und seinen Hass den Männern entgegen, die versuchten, ihm eine Schlinge um den Hals zu werfen. Das hellrote Fell des Pferdes war schweissbedeckt und Schaum flockte von seinen Flanken, wenn es sich bewegte. Seine Nüstern waren weit aufgerissen und bebten. Lange würde das Tier diesen ungleichen Kampf nicht mehr durchhalten. Ohne zu überlegen trat Anarya aus der Tür und rief das Pferd an.
„Daro, roch, daro!"
Das Pferd hielt inne und starrte zu Anarya hinüber. Sofort wollte sich Marek mit der Schlinge auf es stürzen, aber Anaryas Stimme hielt ihn zurück.
„Bleibt von dem Pferd weg! Alle! Tretet zurück und lasst es aus der Ecke herauskommen!"
Verständnislos starrten die Männer sie an, aber Anarya wirkte so überzeugend, dass sie zögernd zurückwichen. Schnaubend, mit bebenden Flanken machte das Pferd einen Schritt in Anarya Richtung. Diese streckte behutsam die Hand nach ihm aus und begann leise auf das Tier einzusprechen. In der Aufregung hatte sie alle ihre Elbischkenntnisse vergessen, und so murmelte sie leise in ihrer eigenen Sprache. Sie wusste, dass die Bedeutung der Worte unwichtig war; es zählte nur, dass das Pferd den beruhigenden Klang vernahm.
Während das Tier sich langsam und misstrauisch auf die junge Frau zu bewegte, konnte Anarya es etwas näher betrachten. Es war eine Stute, kleiner als die meisten Pferde Amaronds und dabei zierlich und schlank. Ihr Fell war kupferfarben bis auf ein sternförmiges, weisses Abzeichen auf der Stirne. Sie trug weder Geschirr noch Zaumzeug, aber Anarya war überzeugt, dass es sich bei ihr nicht um ein Wildpferd handelte – es musste das Reittier eines Elben sein!
Sie erinnerte sich an den Herbst vor ziemlich genau zehn Jahren, als sie das erste Mal ein solches Pferd gesehen hatte. Es war der Tag gewesen, als Tiruial aufgetaucht war und sie nach Kirgu Tammari gefragt hatte. Er hatte die Nacht in ihrer Hütte geschlafen und war dann am Morgen zu Kirgu geritten. Dies war der Anfang von Anaryas Studien bei Kirgu gewesen. Damals hatte sie erfahren, dass Kirgu einst einen Elben aus dem Westen geheiratet hatte, dieser dann aber mit ihrem gemeinsamen Sohn in seine Heimat zurückgekehrt war, weil er nicht so schnell gealtert war wie seine Zwillingsschwester. In den darauf folgenden Jahren lernte Anarya von Kirgu viel über das Volk der Elben.
Kirgu brachte ihr Sindarin bei – die Elbensprache, die auf dem Kontinent verwendet wurde, aber auch einige Bruchstücke Quenya, der Hochsprache der Elben, die man im fernen Valinor sprach. Ausserdem lernte Anarya auf Kirgus nach elbenart gezähmten Pferden zu reiten, auf elbische Weise mit dem Bogen zu schiessen, Heilpflanzen zu sammeln und zu verarbeiten und sogar, sich mit elbischen Langmessern zu verteidigen. Viel Zeit verbrachten sie auch damit, die Muster und Verzierungen, die Elruin seiner Frau gezeigt hatte, zu sticken oder zu malen, und die einst so verhasste Handarbeit ging Anarya immer leichter von der Hand.
Doch einige Dinge blieben für Anarya geheimnisvoll. Kirgu hatte ihr nie gesagt, wer ihre Tochter war, und auch nicht, weshalb sie ausgerechnet Anarya als ihre Schülerin ausgewählt hatte. Sie sprach auch nie über den Schwan, dessen Hüterin Anarya laut Tiruial einst werden sollte. Überhaupt schwieg Kirgu beharrlich, wenn Anarya sie fragte, weshalb Tiruial sie eigentlich besucht habe.
Doch damals, als das schwarze Fieber über Amarond hereingebrochen war, erkrankte auch Kirgu. Sie überstand zwar die Krankheit, war aber danach sehr geschwächt. Die alte Frau war inzwischen durch das Alter so gebrechlich geworden, dass sie wusste, dass sie sich nicht mehr erholen würde. Anarya pflegte sie, so oft sie von zuhause weggehen konnte, aber Kirgu wurde schwächer und schwächer. Schliesslich vertraute sie Anarya ihre letzten Geheimnisse an, die sie nicht mit in den Tod nehmen wollte. An diesem Tag erfuhr Anarya, dass sie die Urenkelin von Kirgu sei – ihr Vater, Fürst Bradwen, sei ihr Enkel, deshalb habe er auch immer dafür gesorgt, dass man ihr Lebensmittel bringe und sich um sie kümmere. Kirgus Tochter Miradan konnte sich nie mit ihrem elbischen Erbe abfinden. Sie wollte sein wie alle anderen und nahm daher einen anderen Namen an und verschwieg sowohl ihrem Gatten als auch ihren Kindern ihre Herkunft. Bradwen hatte zwar erfahren, dass Kirgu seine Grossmutter war, aber er hatte sich nie sonderlich für sie und ihre Vergangenheit interessiert. Erst in den letzten Jahren habe er Kirgu ab und zu besucht und mit ihr geredet.
War diese Verwandtschaft schon überraschend genug, so war das zweite Geständnis von Kirgu noch viel verwirrender. Sie übergab Anarya ein kleines Paket, und bat sie, es zu öffnen. In einen zarten Stoff eingewickelt lag darin eine Brosche in Form eines Schwans im Flug, dessen Flügel einen dunkelroten Edelstein umschlossen.
„Dies ist das Alquaros", hatte Kirgu geflüstert. „Elruin hat mir nie viel darüber erzählt, ausser dass es für die Elben von unschätzbarem Wert sei. Er hinterliess es mir als Pfand dafür, dass er zurückkehren würde. Als Tiruial mich vor ein paar Jahren besuchte, teilte er mir mit, dass Elruin verschwunden sei. Nach all den Jahren hatte er von den Valar die Erlaubnis erhalten zu mir zurückzukehren und mit mir zusammen zu leben. Er hätte sogar seine Unsterblichkeit für mich ablegen dürfen. Die Valar haben ein anderes Zeitgefühl als wir Menschen – vermutlich war ihnen nicht bewusst, dass ich schon damals uralt war... Tiruial kam aber nicht nur, um mir die Entscheidung der Valar mitzuteilen. Er kam auch wegen des Alquaros. Er erzählte mir von Unruhen in Mittelerde, und dass man das Alquaros zu unlauteren Zwecken verwenden wolle. Er bat mich, es weiterhin zu hüten und zu verbergen; vor allem aber, es niemandem zu geben ausser ihm selbst oder Elruin. Da er aber sah, dass ich alt geworden war, sagte er mir auch, ich müsse das Alquaros jemandem anvertrauen, der es nach mir hüten könne. Tiruial hatte dich in den Bergen getroffen und sofort bemerkt, dass du mit mir verwandt sein musstest – es waren nicht nur deine Augen, die dich verrieten, sondern auch dein Aussehen und deine Leichtfüssigkeit. Sogar dein Name, Anarya, ist ein Wort der elbischen Hochsprache Quenya. Ich weiss bis heute nicht, wie Bradwen auf die Idee mit den elbischen Wochentagen kam, aber auf jeden Fall taufte er seine drei ältesten Kinder Elenya, Tárion und Anarya, also Tag der Sterne, Tag der Valar und Tag der Sonne.
Als du Tiruial deinen Namen genannt hast, erkannte er sofort, dass dies das Wort für Sonntag in seiner Sprache ist. Verständlicherweise war er darüber erstaunt und fragte mich daher nach dir. Als er von mir erfuhr, dass du meine Urenkelin bist, sagte er, er werde mit dir sprechen, bevor er in den Westen zurückkehre. Ich war daher damals nicht allzu überrascht, dass du zu mir kamst und von mir lernen wolltest. Nun ist es soweit, Anarya. Ich werde nicht mehr lange leben, und das Alquaros braucht einen neuen Hüter. Pass gut auf die Brosche auf und sprich mit niemandem darüber. Gib sie nur an Tiruial oder Elruin weiter und suche einen neuen Hüter für sie, wenn du dich nicht mehr dazu in der Lage fühlst, sie zu schützen."
Anarya war bis zum Ende bei Kirgu geblieben, aber diese war schwächer und schwächer geworden und hatte nicht mehr sprechen können. Doch kurz bevor sie ihre Augen für immer schloss hauchte sie noch einen letzten Satz, den Anarya nur mit Mühe verstehen konnte: „Wenn du Elruin einmal begegnen solltest, sag ihm, dass ich in Mandos' Hallen auf ihn warten werde wie einst Beren auf Lúthien gewartet hat."
Seit Kirgus Tod hatte Anarya nicht mehr viel Zeit gehabt, über die Elben und den Westen nachzudenken. Doch nun, wo dieses Pferd vor ihr stand, wuchs in ihr mit einem Mal die Sehnsucht nach der Ferne, und sie bemerkte, wie sehr ihr Kirgus Erzählungen in den Jahren seit ihrem Tod gefehlt hatten. Behutsam legte Anarya der Stute die Hand auf den schweissnassen Hals und liess sie langsam nach hinten gleiten, bis sie den Widerrist des Tieres zu fassen bekam. Sie hatte schon lange kein Pferd mehr geritten und wusste, dass der erste Versuch aufzusteigen gelingen musste. Anarya holte einmal tief Atem und schwang sich dann an der Flanke des Pferdes hoch. In dem Moment als das Tier den fremden Reiter auf seinem Rücken spürte stieg es hoch auf die Hinterbeine und fiel dann schwer auf alle vier Hufe zurück. Anarya, die immer noch beruhigend vor sich hin murmelte setzte sich behutsam zurecht und wandte sich dann an die Männer, die sie starr vor Entsetzen anblickten.
„Ich bin gegen Abend zurück", rief sie Marek, dem Gutsverwalter, zu und presste dann der Stute die Fersen in die Flanken.
„Noro lîm, mellon nîn", forderte sie das Pferd auf zu laufen, und die Stute bäumte sich noch einmal wild auf und galoppierte dann auf das Tor zu.
Der schnelle Ritt nahm Anarya im ersten Moment den Atem und sie rutschte hilflos auf dem feuchten Pferderücken hin und her. Doch nach und nach gewöhnte sie sich wieder an die rasche Gangart und sie merkte, dass die Stute zwar schnell galoppierte, aber dabei nicht etwa durchging, sondern sich gut lenken liess. Trotzdem schien sie ein bestimmtes Ziel zu haben, und Anarya liess sie gewähren. Sie wusste, wie intelligent Elbenpferde waren, und sie war je länger je überzeugter, dass dies hier tatsächlich so ein Tier war.
Bald einmal wurde ihr klar, dass die Stute auf dem Weg zu Kirgus Hütte war. Sie näherten sich dem Rand der Wüste und kamen schliesslich bei dem kleinen Haus an, das seit Kirgus Tod leer stand. Schon von weitem sah Anarya das grosse weisse Pferd, dass bewegungslos in Kirgus Garten stand und zu ihr herüberblickte. Die Stute wurde langsamer und blieb schliesslich keuchend und mit bebenden Flanken am Gartentor stehen. Anarya rutschte vorsichtig von ihrem Rücken und öffnete das kleine Tor. Der Schimmel stand immer noch bewegungslos an derselben Stelle und blickte ihr entgegen. Er war grösser als die Stute, aber auch er trug weder Sattel noch Zaum. Beim näher kommen bemerkte Anarya jedoch einen dünnen Lederriemen, der um seinen Hals geschlungen war. Nun sah sie auch, weshalb das Pferd sich nicht bewegte. Sein Reiter hatte sich mit dem linken Fuss in dem Halsriemen verfangen und hing nun kopfüber an der Flanke des Schimmels, so dass sein Kopf direkt neben den Vorderhufen des Tieres am Boden ruhte. Eine falsche Bewegung des Pferdes hätte verhängnisvolle Folgen gehabt.
Leise auf das Tier einsprechend trat Anarya näher. Der Hengst blickte sie aufmerksam an und duldete es, dass sie den Knoten des Riemens zu lösen versuchte. Doch rasch merkte sie, dass das Gewicht des Reiters ihn so fest zusammengezogen hatte, dass sie ihn niemals würde aufmachen können. Der Schimmel zuckte zusammen, als Anarya ihr Messer aus dem Gürtel zog, doch er bewegte sich nicht, als sie den Strick durchtrennte. Mit einem dumpfen Laut fiel der Reiter zu Boden, wo er regungslos liegen blieb. Der weisse Hengst trat behutsam zur Seite, schnupperte kurz an der reglosen Gestalt am Boden, stupste Anarya sanft an und ging dann langsam zu der Stute hinüber, die immer noch am Gartenzaun stand.
Anarya beachtete die Pferde nicht weiter, und beugte sich über den reglosen Körper des Reiters. Tiruial hatte sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert. Auch wenn Anarya damals noch ein kleines Mädchen gewesen war, erinnerte sie sich genau an die feinen Gesichtszüge, umrahmt von dem glatten, schwarzen Haar. Seine verschiedenfarbenen Augen waren geschlossen, seine Lippen aufgesprungen und ein dünner Schweissfilm bedeckte seine Stirn. Er war totenbleich – nicht die normale elbische Blässe, sondern eine kranke, graue Gesichtsfarbe.
Tiruial gab einen keuchenden Laut von sich und seine Augenlider flatterten, aber er schien sie nicht wirklich wahrzunehmen. Anarya bemerkte, dass er glühte vor Fieber. Tiruial sah krank aus, aber Kirgu hatte ihr immer wieder gesagt, dass Elben gegen jede Art von Krankheiten gefeit seien. Erst als sie ihn genauer untersuchte, entdeckte sie die dünne silberne Nadel, die zwischen den Schulterblättern in seinem Rücken steckte. Er war verletzt und die Wunde hatte sich wohl entzündet, was der Grund für sein Fieber sein mochte. Doch als Anarya nach der Nadel greifen wollte öffnete Tiruial plötzlich die Augen und starrte sie an. Er erkannte sie nicht, schien sie nicht einmal richtig zu sehen, aber Anarya hörte, was er gepresst hervorstiess.
„Daro! Saew!" „Daro" war ein Wort, dass sie kannte und verstand – es war die Aufforderung zu warten, innezuhalten. Doch das zweite Wort „Saew" erkannte sie nicht sofort. Anarya wusste, dass sie es schon gehört hatte, wusste aber nicht mehr in welchem Zusammenhang und hatte keine Ahnung mehr, was es bedeuten könnte. Da sie vermutete, dass es etwas mit der Nadel in seinem Rücken zu tun hatte, beugte sie sich vor, um diese genauer anzusehen. Sie war etwa halb so lang und am oberen Ende halb so dick wie ihr kleiner Finger. Nach unten hin liefen dünne Rinnen auf die Spitze zu, die das Lederwams Tiruials durchdrungen hatte und nun in seinem Rücken steckte.
Plötzlich sah Anarya auch die bräunlichen Flecken, die sich auf der Nadel befanden, und sie erinnerte sich an die Bedeutung des Wortes „Saew". In einem Gedicht über die Spinne Ungolianth war es vorgekommen – als die Bestie die Bäume von Valinor vergiftet hatte. Tiruial hatte sie vor Gift warnen wollen! Sein schlechter Zustand hatte also nichts mit einer Krankheit oder einer entzündeten Wunde zu tun, sondern mit einem Gift, das in seinem Körper wütete.
Anarya zögerte kurz und griff dann nach einem Zipfel von Tiruials Umhang. Sie wickelte ihn mehrmals um ihre Hand, um diese zu schützen und griff dann erneut nach der Nadel. Mit einem raschen Ruck zog sie sie aus der Wunde, die sofort heftig zu bluten begann. Die Nadel war an ihrer Spitze mit feinen Widerhaken versehen, die nun die Wunde weiter aufgerissen hatten. Da nirgends ein sauberes Stück Stoff zu finden war, sprang Anarya auf und lief zur Hütte Kirgus hinüber. Im Stillen verfluchte sie sich, dass sie nicht vorher daran gedacht hatte, für Verbandsstoff und heilende Salbe zu sorgen.
Die Tür des Häuschens war nicht verschlossen, und Anarya trat ein. In den letzten Jahren hatte sich über alles eine feine Staubschicht gelegt, aber ansonsten sah es hier drinnen aus, als sei Kirgu nur kurz weggegangen und würde jeden Moment zurückkommen. Kirgus Kasten, den sie immer mitgenommen hatte um Kranke zu behandeln, war wie üblich gut bestückt und ordentlich aufgeräumt. Anarya entnahm ihm, was sie brauchte und rannte dann nach draussen zu Tiruial.
Vorsichtig zog sie ihm den Umhang aus, schaffte es aber nicht, auch sein Lederwams zu entfernen, da der Elb zu schwer für sie war und ihr die Kraft fehlte ihn umzudrehen. Sie wollte ihm nicht unnötig Schmerzen bereiten, und so zückte sie ihr Messer und schnitt sein Wams und das darunter liegende Hemd am Rücken auf, um die Wunde freizulegen. Behutsam behandelte sie die Verletzung mit blutstillenden und entzündungshemmenden Kräutern und verband sie dann mit sauberem Leinen. Nach kurzem Zögern riss sie noch einen weiteren Stofffetzen vom Verbandszeug und wickelte die vergiftete Nadel darin ein, die sie zuvor nur achtlos auf den Boden gelegt hatte. Nachdem sie sich versichert hatte, dass sie sich nicht daran stechen konnte, steckte sie das kleine Stoffpaket in die Tasche an ihrem Gürtel. Vielleicht konnte sie die Nadel jemandem zeigen, der sich mit Giften auskannte und wusste, wie sie den Verletzten behandeln sollte.
Für einen Augenblick überlegte sie, wie sie Tiruial ins Innere des Hauses schaffen könne, aber ihr war klar, dass dies nicht möglich sein würde. Auch wenn Tiruial kein Schwergewicht war, würde sie seinen schlaffen Körper niemals hochheben, geschweige denn alleine tragen können. So ging sie ins Haus zurück und holte ein paar Decken, womit sie den Elben sorgfältig zudeckte. Trotz der Hitze des Tages wurde Tiruial immer wieder von Kälteschauern geschüttelt. Stundenlang wachte Anarya an der Seite des Elben, ohne dass sich eine Veränderung seines Zustandes abzeichnete. Auch wenn sie von Kirgu viel über die Heilkunst erlernt hatte, fiel ihr nichts ein, womit sie Tiruial hätte helfen können.
