A/N: Nachdem ich mich zwei Tage lang nicht anmelden konnte, habe ich es jetzt doch noch geschafft ein Kapitel hochzuladen. Viel Spass!
Im Westen herrscht Krieg
Gegen Abend brannte hatte Anarya neben dem Kranken ein Feuer entzündet, um ihn warm zu halten. Mit dem Sonnenuntergang wurde es rasch kühler, und Tiruial ging es nicht im Geringsten besser. Das Wasser im Brunnen war verdorben, aber glücklicherweise hatte Tiruial an seinem Gürtel eine beinahe volle Wasserflasche. Daraus kochte Anarya schliesslich einen fiebersenkenden Tee und versuchte, ihn ihm einzuflössen.
Tiruial war nur halb bei Bewusstsein, aber es gelang ihr, ihm wenigstens ein paar Schlucke von der Flüssigkeit zu verabreichen. Eigentlich hatte sie am Abend nach Hause reiten wollen, aber ihr war bewusst, dass sie den Elben nicht alleine lassen konnte. Bestimmt machte sich ihre Familie grosse Sorgen um sie. Schliesslich kam es nicht oft vor, dass die Tochter des Fürsten auf einem Pferd davon ritt, just an dem Tag, an dem sie in die Hauptstadt reisen sollte um zu heiraten. Vermutlich suchte man sie nun schon überall. Gerade als Anarya sich überlegte, wie sie ihrem Vater eine Nachricht zukommen lassen könnte, hörte sie die dumpfen Tritte eines sich nähernden Kamels. Sie blickte auf und sah einen Reiter näher kommen, der ihr eigenes Tier an einem Führstrick hinter sich her zog.
„Marek! Was tust du denn hier?"
Der Reiter brachte sein Kamel dazu niederzuknien und sprang dann von seinem Rücken. Rasch band er die beiden Tiere am Zaun an und kam dann zu Anarya herüber. Der Gutsverwalter sah nicht im Geringsten erstaunt darüber aus, dass er sie hier gefunden hatte. Er warf einen flüchtigen Blick auf Tiruial und legte dann Anarya sanft die Hand auf die Schulter.
„Ich hielt das Pferd heute Morgen für ein Wildpferd, aber als du dann auf seinen Rücken gesprungen bist, habe ich mich an meine Kindheit erinnert. Ich war damals noch sehr klein, und wütend darüber, dass ich nicht mit den Älteren zusammen spielen durfte. Sie waren weggerannt und hatten mich alleine gelassen. Ich wollte ihnen hinterherlaufen, aber ich verlief mich im Wald. Als ich weinend am Boden kauerte, kamen plötzlich die Zwillinge von Kirgu Tammari aus dem Dickicht. Sie waren zwar älter als ich, aber sie durften auch nur selten bei den anderen mitspielen – die anderen Kinder hatten Angst vor ihnen, denn man erzählte sich seltsame Dinge von Kirgu und ihrer Familie. Das Mädchen zog mich hoch und gab mir ein paar Beeren, die sie im Wald gesammelt hatte. Dann nahmen mich die Kinder mit zum Waldrand, wo zwei Pferde standen. Ich wollte wegrennen, aber sie führten mich zu den Tieren hin und der Junge nahm mich vor sich aufs Pferd. Dann ritten wir zu Kirgu Tammari. Ich bin fast gestorben vor Angst, aber ich wurde sehr freundlich empfangen und merkte rasch, dass Kirgu und ihr Mann nicht die bösen Hexer waren, als die man sie oft bezeichnete. Von da an habe ich öfter mit den Zwillingen gespielt. Sie mochten mich, weil ich sie nicht verspottete, und sie behandelten mich nie so, als ob ich jünger wäre als sie.
Dann geschah der Unfall und der Junge kam ums Leben. Ich durfte nicht mehr mit Miradan, dem Mädchen, spielen und durfte auch nicht mehr zu Kirgu gehen. Als ich alt genug war, schickte mich mein Vater in die Stadt, wo ich Soldat wurde. Es war eine harte Zeit, und ich kam nur selten und nur für kurze Zeit nach Hause zurück. Mit der Zeit vergass ich meine Spielgefährten von damals. Als ich dann nach vielen Jahren als Soldat auf das Gut deines Vaters kam, erinnerte ich mich an die Zeit mit Kirgus Kindern – vor allem an die Reitpferde, die mich schon damals immer fasziniert hatten. Eine Zeitlang versuchte ich daraufhin selber, Pferde zu reiten, aber es war unmöglich, die Biester zu zähmen, und schliesslich gab ich es auf. Ich dachte, meine Erinnerung müsse falsch gewesen sein. Erst als ich dich heute sah, fiel mir alles wieder ein und ich sagte mir, es könne nicht schaden, dich bei Kirgus Haus zu suchen. Schliesslich warst du früher oft genug bei ihr. Ich hatte recht, wie ich feststelle."
Anarya betrachtete den bärtigen Mann. Marek war auf dem Gut tätig so lange sie sich erinnern konnte. Er war nicht nur der Gutsverwalter, sondern auch enger Vertrauter und Berater ihres Vaters. Marek hatte ihren Brüdern die Grundregeln des Schwertkampfes beigebracht und hatte selbst Anarya und ihrer ältesten Schwester Elenya gezeigt, wie sie sich verteidigen konnte. Als sie ihn jetzt so ansah, fiel ihr auf, dass Marek alt geworden war. Er war immer noch stark wie ein Ochse und bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines erfahrenen Kämpfers, aber sein Haar war in den letzten Jahren ergraut und die Falten in seinem Gesicht waren tiefer geworden. Marek beugte sich nun über Tiruial und zuckte zurück.
„Wer ist das? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das ist Kirgus Ehemann. Dafür ist er allerdings ein paar Jahrzehnte zu jung."
Anarya überlegte rasch und entschied sich dann zu einer ausweichenden Antwort.
„Er ist ein Verwandter von Kirgus Ehemann. Er war schon vor ein paar Jahren einmal hier, aber ich weiss nicht, warum er zurückgekommen ist. Er wurde angeschossen."
Sie zog vorsichtig die vergiftete Nadel hervor und zeigte sie Marek. Dieser versuchte nicht einmal sie zu berühren. Stattdessen wartete er, bis sie die Nadel wieder in den Stoff eingeschlagen hatte und nahm ihr dann das Paket aus der Hand.
„Es ist lange her, dass ich so ein Ding gesehen habe. Ich werde es an mich nehmen, wenn du nichts dagegen hast. Es ist ein Wunder, dass der Junge noch lebt. Ich habe viele solcher Nadeln entfernt, aber keiner hat die Verletzung länger als ein paar Stunden überstanden – das Gift wirkt schnell und es ist stark."
Anarya starrte ihn an.
„Gibt es denn nichts, was man tun kann?"
Marek überlegte.
„Ich erinnere mich an einen Hirten, der in den Bergen angeschossen wurde. Wir fanden ihn zufälligerweise nur kurze Zeit nach dem Angriff und brachten ihn auf der Stelle zu Kirgu. Sie sagte uns, sie hätte ihm helfen können, wenn sie noch Königskraut hätte, aber es sei ihr ausgegangen, und es komme von weither und wachse nirgendwo in Amarond. Der Hirte starb kurz darauf, und sie konnte nichts tun."
„Königskraut? Davon habe ich noch nie gehört."
Anarya dachte verzweifelt nach, aber Kirgu hatte nie etwas Derartiges erwähnt. Trotzdem sprang sie auf und eilte ins Haus. Im spärlichen Licht der Laterne die sie entzündet hatte, konnte nicht viel sehen; trotzdem suchte sie verzweifelt, ob sie etwas fand, das Königskraut sein konnte.
Das Glück war ihr hold. Gerade als sie wieder nach draussen gehen wollte, entdeckte sie einen kleinen Beutel, der neben mehreren Kräuterbüscheln über dem Fenster hing. Der Beutel war mit Elbenrunen beschriftet. Anarya konnte sie im Halbdunkel nicht entziffern, aber sie nahm den Beutel und öffnete ihn. Da Kirgu gesagt hatte, Königskraut komme von weit her, war es möglich, dass es aus dem Westen stammte. Vielleicht war das hier ja Königskraut, und Tiruial hatte es bei seinem Besuch vor zehn Jahren mitgebracht. Einige längliche Blätter befanden sich in dem Beutel – Blätter von einer ihr unbekannten Pflanze.
Sie nahm den Behälter mit nach draussen ans Licht und entnahm ihm etwas von dem getrockneten Kraut. Es zerbröselte ihr zwischen den Fingern und ein seltsamer, nicht unangenehmer Geruch verbreitete sich. Es war nicht wirklich ein Duft, sondern vielmehr ein Gefühl von Frische, das die Stimmung hob und eine Leichtigkeit und ein Wohlgefühl verbreitete. Tiruial hob flatternd die Augenlider und flüsterte leise ein Wort. „Athelas", verstand Anarya, und sie erinnerte sich an die Geschichte von König Aragorn Elessar, der mit seinen heilenden Händen und mit Hilfe der Pflanze Athelas seine Getreuen geheilt hatte, die im letzten grossen Krieg der westlichen Völker von bösen Mächten verwundet worden waren. König Aragorn Elessar – Anarya beugte sich über Tiruial.
„Ist das Königskraut? Kann dir das helfen?"
Tiruial nickte beinahe unmerklich.
„Königskraut... Nur ein König... keine Heilkraft..."
Anarya sah zu Marek hinüber.
„Was meint er mit 'keine Heilkraft'? Wenn das Königskraut ist, sollte
es ihm doch helfen, oder nicht?"
Marek zuckte mit den Schultern.
„Kirgu meinte damals, man müsse es direkt auf die Wunde legen, es sauge das Gift heraus und sein Geruch stärke den Kranken. Sie sagte nichts von einem König."
„Einen Versuch ist es wert."
Anarya entfernte Tiruials Verband und nahm dann ganz vorsichtig ein weiteres Blatt aus dem Beutel. Diesmal zerbröselte es nicht, und sie legte es behutsam auf die Wunde, die eine ungesunde, schwärzliche Färbung angenommen hatte. Tiruial ächzte vor Schmerz und sein Körper bäumte sich auf. Doch zusammen mit Marek gelang es der jungen Frau, ihn ruhigzustellen, bis sie ihm den Verband wieder angelegt hatte. Dem heftigen Widerstand folgte eine tiefe Ohnmacht, und Anarya starrte ängstlich auf das aschgraue Gesicht des Elben. Erst als Marek ihr eine Decke über die Schultern breitete, merkte sie, wie kalt es geworden war, und dass sie selber vor Kälte zitterte.
„Wir sollten ihn nach drinnen schaffen", sagte Marek zu ihr, und sie nickte.
Schnell war im Haus das Bett bereitet, und gemeinsam schleppten Anarya und Marek den Kranken hinein und legten ihn in Kirgus Schlafraum nieder. Dann nahm Marek die junge Frau sanft am Arm und führte sie nach draussen.
„Dein Vater ist vor Sorge um dich ganz ausser sich, Kind. Reite nun zurück und komm erst morgen wieder. Ich werde mich um den Mann kümmern – ich hatte im Krieg oft mit Verwundeten zu tun und er ist bei mir gut aufgehoben."
Anarya schüttelte den Kopf.
„Geh du, Marek, und sag Vater Bescheid. Ich werde hier bei ihm bleiben und mich um ihn kümmern. Ich kenne den Mann und er kennt mich – mir wird er vertrauen."
Aber der Gutsverwalter blieb hart.
„Nimm eines der Pferde, dann kannst du in einer Stunde zuhause sein. Um den Mann wieder aufzupäppeln brauchen wir frische Nahrungsmittel. Schlaf zuhause und komm dann morgen wieder her. Bring ein wenig Milch mit, Brot und alles, was man einem Kranken füttern kann, der zu schwach ist, um selber zu essen. Vor allem aber brauchen wir Wasser für uns und die Tiere. Du musst gehen, Anarya, denn ich kann nicht auf Pferden reiten, und mit dem Kamel dauert der Ritt viel länger – vor allem weil die Tiere müde sind. Ich habe sie ziemlich gehetzt, um hierher zu kommen."
Schliesslich liess sich Anarya überzeugen und ging nach draussen, wo die beiden Pferde immer noch am Zaun standen. Die Stute hatte sich ein wenig erholt, aber der Hengst wirkte kräftiger und frischer als sie. Anarya trat auf den mächtigen Schimmel zu und kletterte ihm nach einem kurzen Zögern auf den Rücken. Er erstarrte, und Anarya merkte, dass ihm der fremde Reiter gar nicht behagte.
„An edraith Tiruial", sagte sie leise, „um Tiruial zu retten."
Der Hengst schnaubte und setzte sich in Bewegung.
Als Anarya zuhause ankam, herrschte grosse Aufregung. Man umringte sie und das Pferd, was dieses nervös tänzeln machte. Es kostete Anarya einiges an Überredungskünsten, bis die Leute zurücktraten und sie vom Rücken des Schimmels springen konnte.
„Wo ist mein Vater?"
Als hätte er sie gehört, trat in diesem Moment Fürst Bradwen aus dem Haus.
„Was geht hier vor?"
Als er seine Tochter neben dem mächtigen Pferd stehen sah, erbleichte er.
„Anarya! Was geht hier vor? Geh von dem Pferd weg!"
Anarya legte dem Schimmel die Hand auf den Hals und flüsterte ihm zu, er solle auf sie warten. Dann wandte sie sich an die Umstehenden.
„Lasst das Pferd in Ruhe. Keiner kommt in seine Nähe!"
Dann ging sie auf ihren Vater zu.
„Ich muss dich sprechen, Vater."
Fürst Bradwen nickte und bedeutete ihr, ihr zu folgen. im Haus packte er seine Tochter grob an der Schulter.
„Was sollte das heute? Bist du eigentlich verrückt Kind? Weißt du eigentlich, was wir uns für Sorgen gemacht haben? Wir sind hier fast gestorben vor Angst!"
Anarya liess die Vorwürfe über sich ergehen und wartete, bis sich ihr Vater einigermassen beruhigt hatte. Dann begann sie zu erklären. Sie wollte sowenig wie möglich verraten, aber das war nicht einfach – wie sollte sie die Geschichte glaubwürdig machen, ohne die Elben zu erwähnen? Schliesslich fasste sie sich ein Herz.
„Vater, wie du weißt war ich früher oft bei Kirgu Tammari zu Besuch. Sie hat mir viel über ihre Familie erzählt, und auch viel beigebracht, was sie selber von ihrem Mann gelernt hatte. Sie hat mir gesagt, dass ich ihre Urenkelin sei, und als ich sie immer wieder ausgefragt habe, hat sie mir schliesslich auch Dinge erzählt, die sie eigentlich mit ins Grab nehmen wollte. So habe ich bei ihr auch gelernt auf Pferden zu reiten, wie das beim Volk ihres Mannes üblich ist. Als ich heute Morgen diese Stute bei uns auf dem Hof sah, wusste ich sofort, dass jemand aus der Verwandtschaft von Kirgus Ehemann aufgetaucht war, denn niemand sonst besitzt vergleichbare Tiere."
Fürst Bradwen war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung, Erstaunen und Ärger. Schliesslich schüttelte er den Kopf und unterbrach Anarya.
„Das klingt ja ganz interessant, aber ich würde gerne wissen, was denn das für Verwandte sein sollen, die kommen, um Kirgu zu besuchen. Kirgu ist ja jetzt schon einige Jahre tot, und ihr Mann starb noch bevor ich geboren war. Wer sollte denn jetzt noch hier auftauchen und nach Kirgu fragen?"
Anarya fuhr unbeirrt fort.
„Ich bin mit dem Pferd zu Kirgu hinaus geritten und habe dort tatsächlich denjenigen gefunden, der auf ihm hierher geritten war. Er ist verletzt – wurde von einer Art Pfeil getroffen. Marek ist jetzt bei ihm, Vater, aber ich muss auch so rasch wie möglich zurück um zu helfen. Marek hat mich nur zurückgeschickt um Wasser und etwas zu Essen für den Kranken zu holen."
Bradwen runzelte die Stirn.
„Erst einmal wirst du jetzt schlafen gehen, Mädchen. Morgen werden wir dann weiterreden. Wie kommst du überhaupt dazu, Marek einfach dort zu lassen, um einen wildfremden Menschen zu verarzten? Hättet ihr den Verletzten nicht einfach mitbringen können, wenn er Hilfe braucht?"
„Nein, Vater, wir hätten ihm den Ritt unmöglich zumuten können. Ausserdem hätte das viel zu lange gedauert. Mit dem Pferd war ich schneller, und Marek wollte unbedingt, dass ich noch heute Abend nach Hause komme."
„Da hatte er ganz Recht. Aber meine Frage hast du nicht beantwortet: Weißt du wer der Verletzte ist, oder was er mit Kirgu zu tun hat?"
Anarya stockte. Dann entschied sie sich, die Wahrheit zu sagen – zumindest einen Teil davon.
„Ja, Vater, ich kenne den Mann. Er ist ein Verwandter von Kirgus Ehemann und er hat sie schon einmal besucht. Ich habe ihn damals auch getroffen und ihn heute sofort wieder erkannt. Er kommt von weit her; es ist also kein Wunder, dass er nichts von Kirgus Tod weiss."
Bradwen war offensichtlich nicht ganz zufrieden mit Anaryas Antworten, aber er brachte nicht mehr aus seiner Tochter heraus, und so schickte er sie schliesslich unwirsch in ihr Schlafgemach.
„Wir reden morgen weiter, Kind. Ich hoffe, dass du dir bis dahin überlegst, was du mir noch zu sagen hast."
Erst als Anarya im Bett lag, erkannte sie, was ihr Vater offenbar befürchtete. Er, der sie unbedingt mit einem Mann von Rang verheiraten wollte, fürchtete offenbar, dass sie jemanden kennen gelernt hatte und sich heimlich mit ihm traf. Die ganze Geschichte mit den Pferden und mit Marek, der nicht nach Hause gekommen war, brachte ihn zwar durcheinander, aber offenbar war er eher bereit an eine Romanze zu glauben, als an diese unwahrscheinliche Geschichte, die sie ihm soeben erzählt hatte.
Am nächsten Morgen erwachte Anarya noch bevor die Sonne aufgegangen war. Sie zog sich leise an und schlich dann lautlos in die Küche, wo sie ein paar Lebensmittel zusammenpacken wollte. Doch gerade als sie einen Schrank öffnete, betrat ihr Vater den Raum. Sein Gesichtsausdruck war unerwartet freundlich, und seine Augen funkelten amüsiert, als er sich gegen den Türrahmen lehnte und ihr so den Weg versperrte.
„So, meine Tochter will also verschwinden, ohne die Fortsetzung unseres Gesprächs abzuwarten? Das finde ich allerdings nicht ganz richtig."
Anarya versuchte, sich ihren Schrecken nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Mit möglichst fester Stimme antwortete sie.
„Marek hat diese Nacht wohl nicht allzu viel Schlaf gefunden. Ich wollte ihn so schnell wie möglich ablösen, damit er sich ausruhen kann."
„Ich werde dich begleiten, Anarya. Lass das Packen, draussen steht schon alles bereit. Das Einzige was fehlt, ist dieser verrückte Gaul – er lässt mich nicht näher als fünf Schritte an sich herankommen."
Jetzt musste auch Anarya lachen, wenn ihr auch der Schreck über das unerwartete Auftauchen ihres Vaters noch in den Knochen sass. Sie folgte ihrem Vater nach draussen, wo tatsächlich zwei Kamele bereitstanden. Das eine davon war der weisse Kamelhengst ihres Vaters, der gesattelt war und sich unruhig hin und her wiegte. Das andere Tier war mit verschiedenen Bündeln beladen.
„Ich dachte, man brauche vielleicht noch Decken, Verbandsstoff und vielleicht ein paar frische Kleider für ihn – bei Kirgu hat es ja wohl keine Männerkleidung."
Anarya musste lächeln, als sie sich Tiruial in den Kleidern ihres Vaters vorstellte. Fürst Bradwen war gedrungen und muskulös – das Gegenteil von dem hochgewachsenen, schlanken Elben. Doch sie war ihrem Vater dankbar, dass er sie begleitete; auch wenn sie sich davor fürchtete, was er wohl sagen würde, wenn er noch mehr über Tiruial und die Völker aus dem Westen erfuhr. Was würde er dazu sagen, dass sie jetzt die Hüterin des Alquaros war? Sie kamen nicht so schnell vorwärts, wie Anarya am Abend zuvor geritten war, und ihr Hengst tänzelte nervös. Schliesslich nickte Fürst Bradwen Anarya zu.
„Geh schon, Kind, bevor du mir noch runterfällst. Ich komme nach."
Die junge Frau brauchte ihr Pferd nicht anzutreiben. Kaum drückte sie die Fersen ein wenig fester in seine Flanken, preschte der Hengst los, so dass sie aufpassen musste, dass sie nicht herunterfiel. Bald war sie bei Kirgu angekommen, sprang vom Pferd und eilte ins Haus. Marek kam ihr entgegen, wobei er einen Finger auf die Lippen legte. Er schob sie wortlos nach draussen und begann erst zu sprechen, als er die Türe hinter sich geschlossen hatte. Marek sah erschöpft aus; seine Augen waren dunkel umrandet und sein Gesicht war bleich und eingefallen, aber er schien zufrieden mit sich zu sein.
„Lebt er?"
Mareks Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.
„Er ist vor etwa einer Stunde eingeschlafen. Er hat die ganze Nacht gekämpft – ich habe mehrmals gedacht, dass es zu Ende geht – aber dann ist das Fieber mit einem Schlag gesunken, er hat die Augen geöffnet und ich habe ihm Wasser gegeben, und jetzt schläft er ganz friedlich. Ich denke, er hat es geschafft. Was er jetzt noch braucht ist Ruhe. Viel, viel Ruhe. Ein seltsamer Mann ist er; ausser Kirgus Ehemann habe ich nie jemanden gesehen, der ihm ähnlich war."
Anarya hielt es für klug, nicht näher auf diese Bemerkung einzugehen.
Als Fürst Bradwen endlich ankam, sass Marek draussen vor Kirgus Haus und rauchte seine Pfeife. Von Anarya war nichts zu sehen. Als Marek den Fürsten erblickte, sprang er auf und wollte zu ihm hin rennen, doch dieser winkte ab.
„Bleibt sitzen, Marek. Ich denke, Ihr habt für heute schon genug getan. Wo ist meine Tochter?"
„Sie ist drinnen, bei dem Verletzten, Herr."
Der Fürst nickte.
„Dann werde ich mir den Mann mal ansehen. Wie geht es ihm?"
„Das Gift war stark, aber die Heilpflanzen, die wir im Haus gefunden haben, waren stärker und er ist zäher als man es sich vorstellen kann. Ich denke, er wird es überstehen."
„Gift? Anarya hat von einem Pfeil gesprochen. Ich wusste nicht, dass er vergiftet war."
Marek runzelte die Stirn und zog dann die vergiftete Nadel aus einer seiner Taschen. Behutsam wickelte er sie aus und zeigte sie Bradwen. Dieser erstarrte.
„Ein Egur? Ich habe seit Jahren keinen mehr gesehen. Das bedeutet Krieg, Marek. Wenn sie sich aus den Bergen herabwagen, bedeutet das Krieg für uns."
„Nein, mein Fürst, nicht unbedingt. Ihr habt den Verwundeten noch nicht gesehen; aber ich habe das Gefühl er kommt von weither. Es würde mich nicht wundern, wenn er das Gondramgebirge überquert hätte. Vermutlich hat er den Egur irgendwo auf dem Weg ins Tal abbekommen. Ausserdem wisst ihr, Fürst, dass sie in den Tarvikkriegen auf unserer Seite gekämpft haben. Weshalb sollten sie uns jetzt angreifen?"
Der Fürst schüttelte den Kopf.
„Er wäre niemals lebend bis hierher gekommen. Das Gift wirkt rasch und ist tödlich. Es erstaunt mich, dass du sagst, er werde es überleben – das Gift muss doch eine viel zu lange Zeit in seinem Körper gewütet haben, als dass ihm noch zu helfen wäre."
Marek lächelte.
„Es steckt einiges in dem Fremden. Wartet, bis ihr ihn gesehen habt, Fürst, dann werdet ihr vielleicht verstehen, was ich meine."
Inzwischen sass Anarya neben Tiruials Bett und betrachtete den schlafenden Elben. Er sah wirklich besser aus als am Vorabend, aber das Gift hatte ihn ausgezehrt und er war so blass, dass er auf den weissen Kissen fast durchscheinend wirkte. Er schlief ruhig und atmete schwach aber gleichmässig. Wäre dieses leichte Heben und Senken seiner Brust nicht gewesen, man hätte ihn für tot halten können.
Es war kurz vor Mittag, und ein paar Sonnenstrahlen fielen durch die Lücken in der Wand unter der Decke auf das Gesicht des schlafenden Elben. Ein goldener Schein legte sich über den Raum und verwischte alle scharfen Ecken und Kanten. Tiruials Augenlider zuckten ein paar Mal, als die Sonne auf sein Gesicht fiel. Dann schlug er die Augen auf und starrte einen Moment lang an die Decke. Anarya wagte nicht, sich zu bewegen, aber der Elb wandte langsam den Kopf zur Seite und blickte sie an. Sie erwiderte seinen Blick und er versuchte zu sprechen. Anarya musste sich dicht über ihn beugen, um seine leisen Worte zu verstehen.
„Miradan? Was ist geschehen? Wo ist Kirgu? Ich brauche das Alquaros. Im Westen herrscht Krieg."
