A/N: So, jetzt hat das ewige Hin- und Herwechseln zwischen den Handlungssträngen fürs erste ein Ende, denn zwei davon laufen endlich, endlich zusammen. Lest und reviewt also fleissig weiter...
das Einhorn: Die Reaktion des Vaters hat mich nie wirklich überzeugt, aber irgendwie musste Anarya wieder zuhause wegkommen. Na ja, es gibt immer wieder Kapitel, die ich immer wieder umschreibe und doch nicht zufrieden damit bin, und das letzte gehörte dazu. Schön, dass du es trotzdem gut fandest.
Der Gardist
Bevor Anarya dem kranken Elben eine Antwort geben konnte, war er schon wieder eingeschlafen. Dafür fühlte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter, was sie zusammenfahren liess. Sie blickte auf und sah ihren Vater hinter sich stehen. Er deutete mit ernstem Gesicht zur Türe und schob Anarya dann vor sich her nach draussen. Als sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, drängte er die junge Frau mit sanfter Gewalt auf die Sitzbank, wo vorher noch Marek gesessen hatte.
„Wo ist Marek?"
Ihr Vater deutete mit dem Kinn zu den Pferden, die langsam um die Hütte herum schritten und den Boden auf der Suche nach etwas Essbarem abschnupperten.
„Er holt mehr Wasser für die Pferde. Das wenige, das ich mitgebracht habe, reicht nicht lange für alle Tiere und für uns, deshalb ist er mit den Schläuchen ins Dorf geritten, wo er auch Bericht erstatten wird. Was hat dir der Elb gesagt?"
Elb! Ihr Vater hatte Tiruial als Elben bezeichnet! Anarya starrte Bradwen fassungslos an, bis dieser leicht schmunzelte.
„Nur weil deine Grossmutter ihren Vater verleugnet, bedeutet das nicht, dass ich nicht selber ein wenig nachgeforscht habe. Als ich ein Kind war, habe ich Kirgu ab und zu besucht, und sie hat mir viele Geschichten erzählt – dieselben wie dir, nehme ich an. Meine Mutter schätzte diese Besuche gar nicht, und sie bemühte sich immer, mir klarzumachen, dass Kirgus Geschichten nicht der Wahrheit entsprächen. Ich habe ihr auch längst nicht alles geglaubt. Unsterbliche Wesen, dunkle Herrscher, grosse Kriege... All das gehörte für mich zu einem guten Märchen, aber nicht in die wirkliche Welt. Allerdings haben mir die Namen der Helden dieser Geschichten immer gefallen. Als ich älter wurde, kam ich nicht mehr dazu, meine Grossmutter zu besuchen. Nach dem Tod meines Vaters wurde ich zum Fürsten über dieses Gebiet, ich fand eine Frau und wurde selber Vater. Für die Eltern ist ein Kind immer etwas Aussergewöhnliches, Einzigartiges, und entsprechend wollten wir auch einen einzigartigen Namen für unsere älteste Tochter. Damals fielen mir Kirgus Geschichten wieder ein, und ich versuchte, mich an die Helden daraus zu erinnern. Dabei fiel mir ein einfaches Kinderlied wieder ein, das mir Kirgu ab und zu vorgesungen hatte. Es ging darin um die elbischen Wochentage, wie mir meine Grossmutter damals erklärt hatte. Die Namen der Helden aus Kirgus Erzählungen waren zu fremdartig, als dass ich mein Kind danach hätte taufen wollen, aber das Liedchen ging mir nicht mehr aus dem Kopf, und irgendwann schlug ich deiner Mutter vor, dass wir unsere Tochter Elenya nennen könnten. Sie war einverstanden, und so folgten später Tárion und du, Anarya.
Meine Mutter war von Anfang an wütend über diese Namen, und mit jedem weiteren Kind wurde es schlimmer. Nach der Feier deiner Namensgebung weigerte sie sich wochenlang, mit mir zu sprechen. Zum einen wollten wir sie besänftigen, zum anderen hatten alle Wochentage ausser „Tárion" einen weiblichen Klang, und du hast nur jüngere Brüder, so dass deine Mutter und ich mit den Wochentagen aufhörten und zu gewöhnlichen Namen übergingen. Um ehrlich zu sein, habe ich dann jahrelang nicht mehr an Kirgus Geschichten gedacht.
Dann hast du plötzlich damit angefangen, sie in jeder freien Minute zu besuchen. Erst habe ich gedacht, das gehe wieder vorbei, wenn du eine neue interessante Beschäftigung fändest, so wie das bei Kindern oft der Fall ist, aber als du Kirgu selbst noch besuchtest, als du zuhause in Arbeit fast ersticktest, habe ich beschlossen, einmal mit ihr zu reden. Ich wollte wissen, was dich immer zu ihr zog. Kirgu wollte sich erst herausreden, aber schliesslich gestand sie mir, dass sie dir vom Westen erzählt habe. Nach langem Bitten meinerseits gab sie dann auch zu, dass sie dich in der elbische Lebensweise unterrichte. Sie zeigte mir einige Dinge, die mir bewiesen, dass ihre Geschichten nicht nur Märchen gewesen waren, und dass es offenbar die freien Völker im Westen tatsächlich gibt.
Ich erlaubte Kirgu, dich weiterhin zu unterrichten, solange du deine Arbeiten zuhause nicht vernachlässigen würdest. Zugegeben, ich habe dich bewundert, mit welch eisernem Willen du dich durchgekämpft hast. Ich sah nie einen Sinn darin, all diese Dinge zu lernen, da du doch mit grösster Wahrscheinlichkeit niemals einem Elben begegnen würdest. Weil du aber zuhause alle Arbeit gewissenhaft ausführtest, hielt ich dich nicht davon ab, Kirgu zu besuchen. Ab und zu ging ich selber bei ihr vorbei, und Kirgu hielt mich über deine Fortschritte auf dem Laufenden. Auch wenn ich nicht einsah, warum du die elbische Sprache lernen wolltest, waren deine Mutter und ich doch sehr zufrieden mit deinen Kenntnissen der Heilkunde, und deine Mutter schwärmte davon, wie geschickt, du bei den Handarbeiten geworden seist. Während meiner Besuche bei Kirgu habe ich selber viel über den Westen gerlernt. Ich gebe zu, dass ich weder auf Pferden reiten kann, noch die Sprache der Elben verstehe, aber ich bin doch nicht so unwissend, wie du vielleicht glaubst."
Abwesend sah Anarya zu, wie sich der Hengst an den verdorrten Obstbäumen in Kirgus Garten gütlich tat. Die Stute war nicht zu sehen. Fürst Bradwen schmunzelte immer noch über das verblüffte Gesicht seiner Tochter.
„Als Marek mir von dem Pferd erzählte, hatte ich sofort den Verdacht, es sei jemand aus dem Westen gekommen, aber ich konnte es trotzdem nicht so ganz glauben. Ich redete mir lieber ein, du wollest dich vor der Reise in die Stadt drücken. Dann kamst du mit dem Schimmel angeritten, und ich war plötzlich sicher, dass Besuch aus dem Westen gekommen war. Als ich deinen jungen Freund gesehen habe, wurde mir klar, dass Kirgus Geschichten tatsächlich wahr sein müssen. Dass er kein Mensch ist wäre auch offensichtlich, wenn er nicht gerade ein absolut tödliches Gift überlebt hätte. Schon allein sein Aussehen hat mir verraten, dass er ein Elb sein muss. Nun, verrätst du mir jetzt, wer er ist?"
Anarya wollte antworten, aber in dem Moment trabte die Stute vom nächstgelegenen Dünenkamm herab zu ihr und stupste sie mit dem Kopf an. Die junge Frau wollte sie abwehren, aber da packte das Pferd ihren Ärmel mit den Zähnen und zerrte daran. Der Fürst sprang angriffsbereit auf, aber Anarya wehrte ab.
„Nein, Vater, lass nur! Es sieht aus, als wolle sie, dass ich ihr folge."
Sie stand auf und die Stute liess los und trabte zur Zisterne hinüber. Dort wartete sie, bis Anarya und ihr Vater bei ihr angelangt waren. Bradwen blickte das Tier neugierig an.
„Sie will uns zeigen, dass ein Tier in der Zisterne liegt. Oder will sie einfach nur, dass wir Wasser für sie hochpumpen? Du musst warten, Mädchen, Marek holt schon Wasser für euch zwei!"
Aber Anarya schüttelte den Kopf. Sie hatte die Taschen bemerkt, die hinter der Zisterne im Gebüsch lagen. Rasch war sie dort und betrachtete das Durcheinander. Es waren Packtaschen, wie sie Tiruial einst schon auf seiner schwarzen Stute Sirrah verwendet hatte. Beide Taschen waren offen, und ein Haufen von Kleidern, Decken, Beuteln und Lederstücken lag am Boden verstreut. Ausserdem hatte es im Sand überall Schleifspuren.
„Vater, sieh dir das mal an! Jemand hat sein Gepäck durchsucht!"
Bradwen blickte an ihr vorbei zu der Düne, die hinter ihr lag. Anarya folgte seinem Blick und sah jetzt auch die Spuren, die hinter dem Dünenkamm verschwanden. Die Stute wieherte leise und trabte an ihnen vorbei, den Spuren entlang. Dann hielt sie inne und scharrte nervös.
„Sie will, dass wir ihr folgen. Vielleicht war der Elb nicht alleine, und der zweite liegt irgendwo in der Wüste."
Bradwen schüttelte den Kopf.
„Hoffen wir, dass dem nicht so ist. Elben mögen zäh sein, aber die Nacht hat er nicht überstanden, falls er auch vergiftet wurde."
Er sah Anarya streng an.
„Ich will, dass du hier wartest. Ich werde nur auf die Düne klettern und gucken, ob irgendetwas zu sehen ist. Wenn nicht, komme ich zurück und werde dann mit Marek den Spuren folgen. Ich will nicht, dass du mitkommst. Warte hier, bis ich dir Bescheid sage!"
„Vater!"
Anarya wollte widersprechen, aber Bradwen blieb hart.
„Bleib hier! Ich bin gleich wieder da."
Dann folgte er dem Pferd, das sofort voraustrabte und auf dem Dünenkamm auf ihn wartete. Anarya sah den Fürsten oben ankommen und stehen bleiben. Einen Moment lang stand er reglos, dann hastete er die Düne hinab und verschwand aus ihrem Blickfeld. Doch schon nach kurzer Zeit erschien er wieder auf der Düne und winkte ihr zu.
„Bring Wasser, eine grosse Decke und ein Seil! Schnell!"
Die junge Frau rannte sofort zurück zum Haus. Rasch hatte sie den Wasserschlauch an sich genommen, der am Sattel ihres Kamels befestigt war. Dann nahm sie eine der Decken und das Seil an sich, die neben der Zisterne am Boden lagen und hetzte zu ihrem Vater.
Als sie oben auf der Düne angelangt war, sah sie Fürst Bradwen im nächsten Dünental neben einer Gestalt kauern, die dort lang ausgestreckt am Boden lag. Die fuchsfarbene Stute stand ein wenig abseits und knabberte an einem Gestrüpp herum, das halb von Sand bedeckt dahinsiechte. Ihr Vater sah Anarya dort oben stehen und winkte sie zu sich.
„Komm her! Rasch!"
Sie folgte seinem Befehl und war gleich darauf neben ihm angelangt. Er riss ihr den Wasserschlauch aus der Hand, öffnete den Verschluss und träufelte behutsam Wasser auf die aufgesprungenen Lippen des Mannes, der am Boden lag. Dass dies kein Elb war, das war eindeutig, aber vielmehr konnte Anarya nicht erkennen. Es war ein junger Mann, vielleicht vier oder fünf Jahre älter als sie. Er trug eine Art Rüstung aus hellem Leder und einen blauen Umhang. Um seinen Kopf waren blaue Tücher gewickelt; eines davon lag etwas abseits im Sand – offenbar hatte es als Schleier gedient und Bradwen hatte es weggerissen. Ausserdem lag dort auch noch ein Paar Packtaschen, die genau so aussahen, wie jene neben der Zisterne.
Ihr Vater verschloss den Wasserschlauch wieder und wandte sich an Anarya.
„Er ist ein Mann der Garde – du kennst die Lieder und Legenden, in denen von ihnen berichtet wird. Ich habe seit Jahren keinen mehr gesehen, und bestimmt nicht von so nah. Während des Kriegs haben sie ihre Verletzten und auch die Gefallenen immer mitgenommen. Sie kamen auf ihren weissen Kamelen aus dem Nichts geritten, kämpften und verschwanden wieder wie ein böser Traum. Zeitweise fragten wir uns damals, ob sie überhaupt lebendig seien, oder nur die Geister von gefallenen Kriegern. Der hier sieht mir allerdings lebendig aus. Gerade noch."
„Was ist mit ihm?"
Der Fürst zuckte mit den Schultern.
„Ich weiss nicht. Wassermangel, Hitze und Erschöpfung sind bestimmt mit schuld an seinem Zustand, aber wäre es nur das, so würde er trotz allem kämpfen wie eine Sandkatze, um uns zu entkommen. Stattdessen scheint man ihn nicht einmal richtig wecken zu können."
Er versuchte noch einmal, dem jungen Mann ein paar Tropfen Wasser einzuflössen und richtete sich dann ächzend auf.
„Versuchen wir, ihn zum Haus zu bringen. Gib mir das Seil, bitte."
Er nahm es Anarya aus der Hand, betrachtete es wohlgefällig und beugte sich dann wieder über den Ohnmächtigen. Anarya sah verblüfft, dass er den Mann an Händen und Füssen fesselte. Dabei rutschten die Ärmel des Mannes zurück, und sowohl der Fürst wie auch seine Tochter erstarrten.
„Was ist denn mit seinen Händen geschehen?"
Anaryas Stimme zitterte leicht, aber sie konnte den Blick nicht abwenden, als ihr Vater behutsam das Seil um die Handgelenke des Mannes schlang, wohl darauf bedacht, seine Hände nicht zu fest berühren oder gar zu verletzen. Bradwen gab nicht sofort Antwort. Stattdessen sah er sich die verkrümmten Finger und die verbrannten Handflächen erst einmal in aller Ruhe an.
„Was immer ihm passiert ist, es ist schon lange her und hat nichts mit seiner Ohnmacht zu tun. Die Verletzungen sind alt und schon lange vernarbt. Es sieht so aus, als wären es Verbrennungen, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie er dazu gekommen ist. Dieses Seil ist so leicht und so fein geflochten, dass es ihn wohl nicht schmerzen wird. Kirgu hat mir oft von elbischer Handwerkskunst erzählt, aber es mit eigenen Augen zu sehen ist doch noch etwas anderes. Laut ihr, ist so ein dünnes Elbenseil stärker als jedes Tau, das du in ganz Amarond findest."
„Aber weshalb fesselst du ihn überhaupt?"
Der Fürst zuckte mit den Schultern.
„Es ist ein erstaunlicher Zufall, dass ich am selben Tag meines langen Lebens den ersten Elben und den ersten Gardisten aus der Nähe zu sehen bekomme. Fast würde ich meinen, dass es kein Zufall ist."
Er schnaubte belustigt und fuhr dann fort.
„Von den Elben habe ich bisher noch nichts Schlechtes gehört, von den Gardisten dagegen schon. Deshalb bin ich dafür, den Gardisten fürs erste zu fesseln - so lange, bis ich entweder mit ihm oder mit dem Elben habe sprechen können. Versteht er überhaupt unsere Sprache?"
Da Anarya nicht mehr über den Gardisten wusste als ihr Vater, nahm sie an, dass seine letzte Frage sich auf Tiruial bezogen hatte. Sie nickte.
„Er versteht unsere Sprache sehr gut und spricht sie auch fliessend. Mit dem Elben werden wir keine Verständigungsprobleme haben."
„Gut. Dann hilf mir jetzt bitte mit dem Gardisten."
Er nahm Anarya die Decke ab und breitete sie neben dem Bewusstlosen am Boden aus.
„Hilf mir ihn auf die Decke zu rollen. Wir können ihn darauf zu Kirgus Haus ziehen."
Mit vereinten Kräften rollten sie den jungen Mann auf die Decke, schlugen diese über ihm zusammen und zerrten ihn dann die Düne hinauf. Bradwen schleppte zusätzlich noch die Packtaschen mit. Es war harte Arbeit, und Anarya war froh, dass der Fremde nur so klein und drahtig war. Einen Mann von der Grösse Mareks hätten sie wohl kaum den Steilhang hinauf gebracht. Obschon sie nicht gerade behutsam mit ihm umgingen, schien nichts den jungen Soldaten wecken zu können.
Oben auf der Düne angelangt atmeten Anarya und ihr Vater erst einmal tief durch und machten sich dann an den Abstieg. Auf halbem Weg rannte das Pferd an ihnen vorbei und liess sie in einer Staubwolke zurück.
„Elende Biester", hustete Anaryas Vater. „Ein Kamel würde niemals so viel Sand aufwirbeln!"
Anarya bemerkte jedoch, dass er lächelte.
Es dauerte seine Zeit, aber schliesslich hatten sie den Gardisten in Kirgus Hütte geschleppt, und ihm dort am Boden ein Lager bereitet. Tiruial belegte das einzige Bett im Haus, und ihm ging es immer noch bedeutend schlechter als dem jungen Soldaten. Ausserdem war Tiruial kein Fremder, und er war bestimmt auf ihrer Seite, was man von dem jungen Soldaten nicht sicher wissen konnte. Schliesslich hatte laut dem Fürsten noch niemand mit einem Gardisten gesprochen. Als sie den jungen Mann neben dem Bett auf eine Decke gelegt hatten, löste der Fürst die Fesseln des Mannes und deutete dabei mit dem Kinn zur Türe.
„Geh, und hole eines von den Hemden, die bei der Zisterne am Boden liegen. Er ist kleiner als der Elb, seine Kleidung sollte ihm also mehr oder weniger passen. Ich werde ihm in der Zwischenzeit die Rüstung abnehmen."
Anarya gehorchte und verliess den Raum. Bei der Zisterne suchte sie die verstreut herumliegenden Sachen zusammen und stopfte sie zurück in die Packtaschen. Eine mehr oder weniger sauber aussehende Tunika aus hellgrauem Stoff, die am Kragen kunstvoll bestickt war, behielt sie zurück. Mit den Packtaschen über der Schulter und dem Kleidungsstück im Arm ging sie zum Haus, legte die Taschen auf die Sitzbank davor und trat dann ein.
Ihr Vater hatte dem Gardisten die Rüstung abgenommen und sie auf einen Schemel gelegt. Nun war er dabei, dem Mann sein schmutziges Untergewand auszuziehen und ihn auf Verletzungen zu untersuchen. Als Anarya eintrat, deutete er auf den Haufen auf dem Schemel.
„Leg mir das Hemd hin und nimm das Lederzeug auf dem Schemel mit nach draussen. Pass auf die Armschienen auf, die Klingen sind scharf und vermutlich vergiftet. Ich ziehe den Burschen nur rasch um und komme dann auch. Marek sollte bald mit dem Wasser hier sein, du könntest dich inzwischen um eine Mahlzeit kümmern."
Der Fürst beugte sich kopfschüttelnd wieder über den Fremden.
„Es ist seltsam, ich habe bisher keine Verletzung gefunden. Er ist halb verdurstet, aber sonst scheint ihm nichts zu fehlen. Ich kann nicht verstehen, weshalb er nicht wach zu kriegen ist."
Anarya nahm den Stapel Kleider vom Schemel und ging damit nach draussen. Dort setzte sie sich auf die Sitzbank neben die Packtaschen. Es war schon seltsam. Seit ihr Vater da war, liess sie sich nur herumkommandieren. Sie konnte zwar verstehen, dass er ihre Hilfe beim Umziehen des Gardisten nicht wollte, aber trotzdem kam sie sich überflüssig vor. Nun, sie konnte zumindest das Gepäck des Mannes durchsuchen. Vielleicht trug er ja etwas Wichtiges bei sich.
Als erstes widmete sich Anarya dem Kleiderbündel, das sie aus der Hütte mitgenommen hatte. Es waren ein Paar Hosen und ein Wams aus hellem, fast weissem Leder, das zwar recht dick aber trotzdem geschmeidig war. Dazu kamen zwei Lederkonstruktionen, die man offenbar an den Schultern des Wamses befestigen konnte, um Schulterpartie und Oberarme vor Hieben zu schützen. Dann fand Anarya auch die Armschienen, von denen ihr Vater gesprochen hatte. Sie sah nicht sofort, was für Klingen er gemeint hatte, aber als sie die unterarmlangen Röhren aus dunkelbraunem Leder genauer betrachtete, sah sie, dass an der Oberseite je drei lange, schmale Taschen aufgenäht waren. Das vordere Ende der Armschoner lief in eine Spitze aus und hatte zuvorderst eine Schlaufe, die man wohl über den Mittelfinger stülpte, um das Leder auf dem Handrücken festzuhalten. Von der Spitze bis zum hinteren Ende liefen schmale Lederstreifen, die mit den länglichen Taschen verbunden waren und offenbar zu irgendeinem Mechanismusgehörten, den Anarya aber nicht kannte und auch nicht zu betätigen vermochte. In den Taschen befand sich etwas Hartes, Unbiegsames, aber wenn man versuchte hineinzusehen, konnte man nur einen metallischen Schimmer erkennen. Da ihr Vater von Gift gesprochen hatte, hielt Anarya es für vernünftiger, die Armschienen fürs erste zur Seite zu legen und sich den anderen Dingen zu widmen.
Am Gürtel des Gardisten hingen mehrere kleine Beutel, eine hölzerne Flöte und ein Messer. Es war keine Waffe, sondern eher ein Werkzeug, denn die Klinge war kurz und schien nicht sehr scharf zu sein. Die Beutel enthielten Material zum Feuermachen, ein Essgeschirr und was man sonst noch zum Überleben brauchte. Interessant war ein weisser Lederbeutel, in dem sich seltsame violette Kristalle befanden; die kleinsten so gross wie ihr Fingernagel, der grösste Klumpen mit dem Umfang einer Männerfaust, aber einem Loch in der Mitte. Ausserdem enthielt der Beutel mehrere fingerlange, silberne Nadeln, und Anarya lief ein Schauer über den Rücken. Eine solche Nadel hatte sie aus Tiruials Rücken geholt. Nun erklärte sich auch das geschnitzte Rohr, das sie erst für eine ungewöhnliche Flöte gehalten hatte. Ein Blasrohr! Wie hatte sie dieses Ding nur für eine Flöte halten können, wo doch der Mann offensichtlich seine Finger nicht mehr gebrauchen konnte.
Anarya legte auch diese Dinge zur Seite und widmete sich den Packtaschen. Ein kurzer Blick genügte, um zu sehen, dass dieses Gepäck nicht dem Gardisten sondern Tiruial gehörte. Die Taschen enthielten etwa dasselbe wie die Beutel an am Gürtel des Gardisten; dazu kam noch ein Packen mit Proviant, ein beinahe leerer Lederschlauch, in dem eine Flüssigkeit schwappte und ein kleiner Beutel mit Gold- und Silberstücken. Viele der Gegenstände trugen elbische Dekorationen.
Anarya überlegte. Offenbar war der Gardist halb verdurstet zu Kirgus Haus gekommen und hatte dort Tiruial gefunden. Anstatt dem Elben zu helfen, hatte er dessen Gepäck an sich genommen und hatte versucht, damit hinaus in die Wüste zu gehen. Aber warum war er nur so wenig weit gekommen?
Dann kam Anarya mit einem Schlag die Erkenntnis. Der Mann war am Verdursten gewesen. Es war nahe liegend, dass er sich als erstes um etwas zu Trinken kümmern würde. Anarya öffnete den halbleeren Behälter mit der Flüssigkeit und roch daran. Es war zehn Jahre her, aber sie erinnerte sich sofort wieder an den Geruch, den sie wahrnahm. Damals hatte Tiruial ihr und ihrem Bruder Tárion davon zu trinken gegeben, und sie waren eingeschlafen. Er hatte ihr gesagt, dass es ein Mittel sei, um Wunden zu behandeln, dass man es aber auch verwenden könne, um jemanden zu betäuben. Anarya musste unwillkürlich lachen. Sehr weit war der Dieb ja nicht gekommen. Sie erhob sich und öffnete die Tür zur Hütte einen Spalt.
„Vater? Ich weiss jetzt, was mit dem Gardisten los ist."
Sofort war ihr Vater bei ihr. Er schob sie sanft nach draussen und schloss die Türe hinter sich zu. Dann bedeutete er Anarya sich wieder hinzusetzen und liess sich neben ihr nieder.
„Du weisst, was mit ihm geschehen ist? Ich habe ihn untersucht – er hat keine Verletzungen ausser den verbrannten Händen. Im Grunde genommen scheint es ihm gut zu gehen, aber er ist nicht wach zu kriegen. Ich habe alles, was er als Waffe verwenden könnte aus seiner Reichweite entfernt und ihn an einen Bettpfosten gefesselt, so dass er nicht flüchten kann. Ich möchte wirklich zu gerne mit ihm reden, wenn er wach ist. Was ist also mit ihm?"
Anarya hielt ihm den Schlauch entgegen.
„Das hier ist ein elbisches Schlafmittel. Er hat es offenbar für ein normales Getränk gehalten, und da er am Verdursten war, hat er ohne lange nachzudenken davon getrunken. Der Behälter ist fast leer; falls er das alles ausgetrunken hat, wird er also recht lange schlafen. Sobald die Wirkung verflogen ist, sollte er aber aufwachen."
Bradwen sah seine Tochter an.
„Woher kennst du dieses Mittel und seine Wirkung? Hat dir das Kirgu gezeigt?"
Anarya schüttelte den Kopf.
„Sagen wir, ich bin schon früher einmal einem Elben begegnet, und er wollte nicht, dass Tárion und ich ihm folgen. Das Mittel hat nämlich auch noch die Eigenschaft, dass es einen gewisse Dinge vergessen lässt. Tárion weiss nichts mehr von dieser Begegnung, und ich hätte wohl auch keine Ahnung mehr davon, wenn mich der Elb nicht selber daran erinnert hätte."
Bradwen unterbrach sie.
„Tárion ist schon seit Jahren weg. Wann sollte denn das gewesen sein? Ich meine, als Tárion zur Armee ging, warst du noch ein Kind."
„Ja, Vater, ich war wirklich noch ein Kind, damals. Es war vor zehn Jahren, und Tárion kam zu seiner letzten Hütezeit in die Berge, um mich abzulösen. Der Elb war gekommen, um Kirgu zu besuchen, und er übernachtete bei den Ziegen. Als er zurück in den Westen reiste, kam er noch einmal vorbei und ass mit Tárion und mir zu Abend. Dann hat er uns betäubt und ist gegangen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich wieder an alles erinnerte, aber ich wusste noch, dass es etwas mit Kirgu zu tun hatte, und so ging ich bei ihr vorbei. So hat es dann angefangen, dass Kirgu mich ausgebildet hat."
Der Fürst nickte.
„Jetzt wird mir einiges klarer. Ich hatte mich schon gefragt, warum Kirgu dir all diese Dinge erzählt hat. Es war derselbe, nicht wahr? Der Elb, der dort liegt und derjenige, dem du damals begegnet bist, ist ein und dieselbe Person, oder?"
Anarya nickte zögernd. „Ja, aber wieso…"
„Du hast mir selber gesagt, du seist ihm schon einmal begegnet, und du hast mir auch erklärt, er spreche fliessend unsere Sprache. Du kennst ihn also, und da ich mir nicht vorstellen kann, dass ausser ihm noch andere Elben hierher kommen, muss er auch derjenige sein, der dir den Kräutertrank verabreicht hat. Aber..."
Er hielt inne.
„Hör mal! Marek kommt zurück. Lass uns nicht über diese Dinge reden, wenn er da ist. Ich möchte lieber von ihm erfahren, was er über die Gardisten weiss. Zu der Zeit, als sie sich das letzte Mal so weit in die Ebene herab wagten, war ich noch ein kleiner Junge. Das war während der Kriege mit den Nomaden aus dem Süden. Marek hat damals schon mitgekämpft. Ich weiss nur, dass die Garde uns geholfen hat, aber Marek kennt vielleicht noch ein paar Einzelheiten."
Und so sassen Vater und Tochter schliesslich schweigend nebeneinander auf der Sitzbank vor Kirgus Hütte und warteten auf Marek, der sichmit zwei Lastkamelennäherte,welche beide grosse Wasserschläuche auf dem Rücken trugen.
