A/N: So, hier das nächste Kapitel. Langsam aber sicher nähern wir uns den Erklärungen, wer hier eigentlich was tut und warum...

Das Einhorn: Da dies ein sehr, sehr langes Kapitel war, habe ich es unterteilt. Deshalb musst du dich noch bis nächste Woche gedulden, bevor du die Ausreden Arayms zu hören kriegst ;-)

Täter und Opfer

Tiruial schlug die Augen auf. Er sah, dass er sich in einem Raum befand und in einem Bett lag. Über seinem Kopf baumelten an einem Deckenbalken verschiedene Kräuterbüschel, was ihn darauf schliessen liess, dass er es bis zu Kirgu geschafft hatte. Die Wunde am Rücken des Elben schmerzte leicht, aber es war auszuhalten. Tiruial wusste, dass er am unteren Ende des Bergpfads einen Pfeil abbekommen hatte. Im ersten Moment hatte das Geschoss einfach nur wehgetan, aber dann hatte er gemerkt, dass ihn Schwindel überkam, seine Muskeln sich schmerzhaft verkrampften und er kaum mehr atmen konnte. Der Pfeil musste vergiftet sein, mit einem Gift, das sehr schnell und sehr heftig wirkte. Kurz bevor ihm schwarz vor Augen geworden war, hatte er seinem treuen Hengst Tilion einen Riemen um den Hals gebunden und sich daran festgeklammert. Er hatte sich bemüht, wach zu bleiben, bis sie bei Kirgus Haus angelangt waren, aber irgendwann setzte seine Erinnerung aus. Vage erinnerte er sich noch an eine verschleierte Gestalt, eine rothaarige Frau und einen bärtigen Mann, die sich abwechselnd über ihn gebeugt hatten, als er mit dem Fieber rang.

Tiruial versuchte sich aufzusetzen, aber er war sehr schwach; so schwach, dass er es nicht einmal annähernd schaffte den Kopf zu heben. Sein Mund war trocken und sein Hals schmerzte entsetzlich. Tiruial fühlte, dass ihm vor Anstrengung der Schweiss ausbrach, aber es gelang nicht, sich aufzurichten. Sein Atem kam stossweise und wurde von einem unangenehmen, rasselnden Geräusch begleitet. Jeder Atemzug schmerzte in seiner Kehle und der Brust, so als ob er flüssiges Feuer atmen würde. Schliesslich gab Tiruial auf und liess sich ergeben zurück auf sein Lager sinken. Es würde schon jemand kommen, um nach ihm zu sehen. Irgendwo in der Nähe waren die gleichmässigen Atemzüge eines Schlafenden zu vernehmen. Es war zwar hell im Raum, also offenbar Tag, aber wer auch immer dort lag, hatte wohl während der Nacht an seinem Bett gewacht. Tiruial erinnerte sich, dass während seiner Fieberträume immer jemand an seiner Seite gewesen war, seine Stirn gekühlt und beruhigend auf ihn eingeredet hatte. Wer auch immer das gewesen war, er hatte seinen Schlaf redlich verdient.

Tiruial fühlte sich mehr oder weniger ausgeruht, und da er zur Bewegungslosigkeit verdammt war, versuchte er mit Hilfe seiner scharfen Elbensinne mehr über seine Umgebung herauszufinden. Und tatsächlich konnte er draussen die Stimmen von drei Menschen ausmachen, zwei Männern und einer Frau. Er verstand nicht, was sie sagten, aber er hörte, dass sie sich in der Sprache Amaronds unterhielten. Er hatte es also wider Erwarten ein weiteres Mal geschafft, in den Osten zu gelangen.

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Als Araym erwachte, fühlte er sich blendend. Er war zwar immer noch durstig, aber seine Kopfschmerzen und das Schwindelgefühl waren verschwunden. Einen Moment lang lag er noch da und versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Er hatte einen Mann gesehen, der aus den Bergen herabgestiegen war und hatte auf ihn geschossen. Er hatte sein Ziel verfehlt und war dann von dem herannahenden Sandsturm eingeholt worden. Was dann geschehen war, wusste Araym nicht. Vage erinnerte er sich an einen endlosen Marsch durch die Wüste, an Durst und Schwäche, aber er wusste beim besten Willen nicht, wo er jetzt sein mochte. Hatten ihn die Südwinde gefunden? Schliesslich schlug er die Augen auf und erstarrte. Dies war nicht die Sandfeste!

Araym erkannte, dass er sich in einem Haus befand, das ihn irgendwie an jenes von Kirgu Tammari erinnerte, aber er hatte keine Ahnung, wie er hierher gekommen war. Seufzend setzte er sich auf und wollte aufstehen, als ihn etwas unsanft zurückhielt. Ein kurzer Blick verriet ihm, dass er neben einem Bett am Boden lag, und dass seine Handgelenke am einen Eckpfosten des Möbelstückes festgebunden waren. Die Fesseln waren nicht besonders fest angezogen, und die Stricke waren lang genug, dass er sich aufrichten konnte, aber die Knoten waren so geknüpft, dass er sie unmöglich aufmachen konnte. Mit gesunden Händen wäre es kein Problem gewesen, sich zu befreien, aber für ihn war es unmöglich. Wie gemein!

Araym zerrte ärgerlich an den Fesseln, mit dem Ergebnis, dass er sich die Haut an den Handgelenken aufschürfte. Der kurze Schmerz brachte ihn zur Vernunft. Er sah sich weiter um und entdeckte einen Krug und einen Becher auf einem Schemel neben sich. Vermutlich hatten diejenigen, die ihn gefangen genommen hatten, ihn just ausser Reichweite angebunden. Prüfend zog er an den Fesseln und streckte sich Richtung Krug. Er erreichte ihn tatsächlich! Araym musste unwillkürlich lachen. Einem Gefangenen in der Sandfeste wäre es wohl nicht so gut ergangen, jetzt wo Malak an der Macht war. Er zog den Krug zu sich hin und schnupperte misstrauisch an dessen Inhalt. Wasser? Es roch nach nichts, und so nahm er einen kleinen Schluck direkt aus dem Krug. Es schien tatsächlich Wasser zu sein. Vorsichtig trank er noch ein bisschen und stellte den Krug dann zurück. Er wusste, dass er beinahe verdurstet wäre und jetzt nicht allzu gierig trinken durfte, wenn er nicht krank werden wollte. Plötzlich lief ihm ein Schauer über den Rücken.

„Du wirst unvorsichtig, Junge", schalt er sich, und wandte sich ruckartig um.

Warum hatte man ihn auf den Boden gelegt und sorgfältig zugedeckt, wenn es im selben Raum ein Bett hatte? Er war nicht alleine! Als er aber die reglose Gestalt auf dem Bett liegen sah, entspannte er sich wieder. Wer auch immer das war, er sah nicht aus, als ob er ihm gefährlich werden könnte. Araym betrachtete das totenblasse Gesicht, dass von wirrem, schwarzem Haar umrahmt wurde, und nach und nach kehrte die Erinnerung zurück. Der Reiter aus den Bergen! Er hatte auf ihn geschossen und ihn auch getroffen. Sie hatten es beide geschafft, Kirgus Haus zu erreichen, aber als Araym dort angekommen war, ging es dem Fremden schon sehr schlecht. Das Gift hatte länger gebraucht als sonst, aber so wie es aussah, hatte es schlussendlich doch gewirkt. Seltsamerweise tat es Araym fast leid, dass der Mann tot war. Als er ihn dort neben dem Pferd hatte hängen sehen, hatte er schon sein schlechtes Gewissen unterdrücken müssen, und jetzt fühlte er sich nicht viel besser.

Was geschehen war, nachdem er den Fremden und seine Pferde vor Kirgus Hütte wieder getroffen hatte, wusste Araym nicht genau. Er hatte versucht zum nächsten Dorf zu gelangen, um dort Wasser und Nahrung zu stehlen, aber offenbar war er nicht sehr weit gekommen. So wie es aussah, lag er hier nämlich wirklich in Kirgus Haus. Sie musste ihn und den Reiter gefunden haben. Vermutlich kannte sie den Mann, da sie ihn in ihrem Bett aufgebahrt hatte. Was ihn betraf, so wusste er nicht so recht, weshalb er gefesselt war. Nun, er war schon lange nicht mehr bei Kirgu gewesen, und Malak hatte dem Ruf der Südwinde nicht gerade gut getan.

Araym griff noch einmal nach dem Krug und nahm sich nun auch einen Becher. Da hörte er ein leises Geräusch. Ungläubig starrte er auf die vermeintliche Leiche auf dem Bett und ein erneuter Schauer lief ihm über den Rücken. Der Mann hatte die Augen offen, und er sah ihn an. Er schien etwas zu wollen, denn seine Lippen bewegten sich, aber es war kein Ton zu vernehmen. Araym verstand auch so. Als Wüstenbewohner kannte er den Blick des Mannes und wusste, was er bedeutete. Der Fremde war durstig und wollte Wasser.

In Araym stritten sich die widersprüchlichsten Gefühle. Der Reiter war aus dem Westen gekommen; es war die Aufgabe der Südwinde, ihn zu töten. Er hatte auf ihn geschossen, und somit nur das getan, was er tun musste. Nun musste er die Sache nur noch zu Ende bringen.

Die Gesetze der Südwinde spulten sich in seinem Gehirn ab. Der eigene Tod zählte nicht, wenn er einem guten Zweck diente. Gut, er war hier gefangen, aber er konnte seine Aufgabe zu Ende bringen. Wer auch immer ihn gefesselt hatte, würde ihn nachher töten, aber das spielte keine Rolle – ein Südwind war lieber tot als gefangen, das hatten seine Lehrer immer gesagt.

Araym sah sich um. Seine Waffen waren natürlich verschwunden. Es gab kein Messer, nichts was ihm hätte dienen können. Dann fiel sein Blick auf den Wasserkrug und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

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Tiruial wartete lange, bis er hörte, wie sich die Atemzüge des Schlafenden veränderten. Es dauerte eine Weile, dann hörte er, wie sich etwas neben ihm bewegte. Das Bett, in dem er lag, schwankte erst leicht, und dann ein paar Mal recht heftig. Er hörte ein leises Zischen, das sich wie ein Fluch anhörte. Dann erschien eine Gestalt in seinem Blickfeld. Tiruial sah einen Wust von rotbraunem Haar über einem dunkelgrauen Seidenhemd mit elbischen Stickereien. Seinem Seidenhemd! Wer war das? Tiruials scharfe Augen erblickten nun auch die Stricke, die von den Händen des Unbekannten wegführten. So wie es aussah, war der Mann an einen Eckpfosten seines Bettes gefesselt. Offenbar hatte er vorher versucht, sich loszureissen, was die Erschütterungen ausgelöst hatte. Der Mann strich um den Wasserkrug wie der Fuchs um den ausgelegten Köder. Schliesslich trank er direkt aus dem Krug und stellte ihn dann wieder hin. Tiruials eigene Kehle war ausgetrocknet, aber zum einen wusste er nicht, ob dieser Mann Freund oder Feind war, und zum anderen war er so oder so zu schwach, um sich bemerkbar zu machen.

Plötzlich fuhr der Mann ruckartig herum und blickte ihn an. Tiruial reagierte nicht. Erst einmal abwarten, was der andere wollte, dann konnte er sich immer noch bemerkbar machen. Nach einer Weile entspannte sich der unbekannte Mann. Er schüttelte verwirrt den Kopf und wandte sich dann noch einmal zu dem Krug. Tiruial hörte, dass er jetzt Wasser in einen Becher füllte. Für ihn? Nein, der Mann hatte eher reagiert, als würde er ihn für tot halten. Nun, dann musste er sich eben bemerkbar machen. Tiruial versuchte zu sprechen, aber er brachte nur ein heiseres Krächzen über die Lippen. Das genügte, um den Mann erneut herumfahren zu lassen. Ihre Blicke trafen sich und Tiruial versuchte, den Fremden um Wasser zu bitten. Er brachte keinen Ton über die Lippen, aber der andere schien zu verstehen. Sein Blick war unergründlich als er den Becher nahm und sich Tiruial zuwandte.

War da eine Spur von Mitleid zu sehen? Oder sogar eine Art Bitte um Entschuldigung? Dann verengten sich seine Augen plötzlich zu schmalen Schlitzen und blitzten gefährlich auf. Sein Körper spannte sich an, wie der eines Raubtieres auf dem Sprung. Gleich darauf biss er sich auf die Unterlippe und blinzelte ein paar Mal. Sein Gesicht zeigte Verwirrung. Tiruial bemerkte, dass der Fremde offenbar einen Kampf mit sich selber austrug und er wartete gespannt, was geschehen würde.

Schliesslich stellte der junge Mann den Becher wieder hin griff nach dem Krug. Er trank noch einmal daraus und schüttete dann seinen Inhalt auf den Boden. Was sollte das? Was auch immer es zu bedeuten hatte, es war nichts Gutes, da war sich Tiruial sicher. Hilflos sah er zu, wie der Mann ihm die Decke wegzog, und den Krug darin einwickelte. Dann verschwand er aus dem Blickfeld des Elben. Ein dumpfer Laut, ein Rascheln und ein leises Klirren, dann stand der Mann plötzlich wieder vor ihm. Er hielt eine Tonscherbe in der Hand, die von dem Krug stammte. Tiruial sah, dass die Hand, die die Scherbe hielt völlig verkrüppelt war. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihm die Scherbe wegzunehmen, wenn er sich nur hätte bewegen können. Tiruial sah das kalte Glitzern in den Augen des Mannes und er wollte um Hilfe rufen, aber er brachte immer noch keinen Laut über seine Lippen.

Dann spürte er den Druck der Scherbe an seiner Kehle und schloss die Augen. So war denn seine Mission gescheitert. Es war von Anfang an unwahrscheinlich gewesen, dass er Erfolg haben würde, und es war nur ein bisschen bitterer, weil er einen Moment lang wirklich gedacht hatte, er würde es schaffen.

Der Druck der Scherbe verstärkte sich, und Tiruial fühlte einen leichten Schmerz und dann, wie etwas seinen Hals hinunter lief. Er reagierte nicht darauf, hielt die Augen geschlossen und wartete. Er war nur ein Halbelb – würde er bald in Mandos Hallen erwachen, oder war ihm das ungewisse Schicksal der Sterblichen bestimmt?

Dann verschwand die Scherbe plötzlich von seiner Kehle. Einen Augenblick später fühlte er einen Becher an seinen Lippen, und er hörte eine leise, heisere Stimme.

„Ich weiss nicht ob du mich verstehst, Fremder, aber ich werde dir trotzdem sagen, dass ich nicht weiss, was ich hier eigentlich tue. Du solltest längst tot sein – das Gift der Blasrohrpfeile wirkt schnell und tödlich. Ich weiss nicht, weshalb du es überlebt hast, aber es gibt mir zu denken. Wäre ich noch ein Gardist der Südwinde, müsste ich dich jetzt endgültig töten, aber ich denke nicht, dass ich noch einmal in die Wüste zurückkehren werde. Trink jetzt, ich werde dir nichts tun."

Und Tiruial nippte vorsichtig von dem Wasser. Er war zu schwach, um zu trinken, und er wusste, dass er sich auf keinen Fall verschlucken durfte, da sein Körper wohl selbst zu kraftlos zum Husten wäre.

Als ob der junge Mann seine Gedanken gelesen hätte, verschwand der Becher von seinen Lippen, und stattdessen fühlte er, wie ihn kräftige Arme packten und aufrichteten. Ein Kissen wurde ihm in den Rücken gestopft, und dann liess ihn der seltsame Bursche in eine halbaufgerichtete Lage zurücksinken. Tiruial bemerkte, dass er wieder nach dem Becher griff. Als er sich erneut über ihn beugte, sah er ihn sich genauer an. Er war wirklich noch recht jung, aber älter als Tiruial auf den ersten Blick geschätzt hatte. Er hatte zu lange unter alterslosen Elben gelebt, als dass er sich auf ein genaues Alter hätte festlegen können, aber seiner Meinung nach zählte der Mann noch nicht ganz dreissig Sommer.

Wie er richtig gesehen hatte, trug er die elbische Tunika, die Tiruial in Bruchtal bekommen hatte, um darin an offiziellen Anlässen teilzunehmen. Das Kleidungsstück war ihm zu gross, was Tiruial erstaunte, da die Männer der Menschen sonst meist stämmiger gebaut waren als Elben. Vermutlich war das auch der Grund, dass er das Alter des anderen falsch eingeschätzt hatte. In dem übergrossen Hemd und mit dem wirren Haar, das ihm auf allen Seiten vom Kopf abstand, wirkte er fast kindlich. Tiruial bemerkte nun auch das ungewöhnliche, blaugoldene Amulett, das der Mann um den Hals trug. Es war eine leicht abgeflachte Kugel an einem dünnen Lederband. Auf dem Anhänger war eine sich aufbäumende Raubkatze zusehen. Wenn sich Tiruial richtig erinnerte, war dies das Wappenzeichen von Farad, aber die Machart des Schmuckstückes erinnerte auf verblüffende Weise an die Schmiedekunst Númenors.

Tiruial hob den Blick und betrachtete das Gesicht seines Gegebübers. Es war hager, scharf gezeichnet und von jahrelanger Wüstensonne dunkel und wettergegerbt. Die schmalen Augen waren von einem stechenden Blau. Ihre Blicke trafen sich, und der Unbekannte verzog einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen.

„Ich weiss gut, wie schwierig es ist, im Liegen zu trinken. Als mir vor zehn Jahren ein anderer von deiner Art in den Bergen entkommen ist, hatte ich lange genug Zeit, das zu erfahren. Ich scheine einfach Pech mit euch Westlingen zu haben. Der erste kostete mich meine Hände, und der zweite nun meinen Posten bei den Südwinden. Ich hoffe schwer, dass mir kein dritter über den Weg läuft, das würde ich wohl nicht überleben."

Tiruial hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete, aber er trank dankbar, als ihm dieser noch einmal den Becher an die Lippen hielt. Nach ein paar Schlucken wurde der Becher wieder weggenommen.

„Du darfst nicht zu viel trinken. Dein Körper ist zu schwach, um grössere Mengen an Wasser aufnehmen zu können, von Nahrung ganz zu schweigen. Es wäre am Besten für dich, wenn du noch ein bisschen schlafen würdest. Dich erwarten grosse Schmerzen, wenn dein Körper anfängt, das Gift abzubauen."

Tiruial, der sich nach dem Trinken ein wenig besser fühlte, schaffte es tatsächlich zu sprechen, wobei er über seine krächzende Stimme erschrak. Sein Hals schmerzte so sehr, das jedes Wort eine Qual war.

„Woher weisst du so viel über dieses Gift?"

Der junge Mann erstarrte und er runzelte die Stirn. Für einen Augenblick hatte Tiruial Angst, er hätte einen Fehler gemacht, danach zu fragen, aber dann bekam er tatsächlich eine Antwort.

„Vor zehn Jahren habe ich angefangen mit dem Blasrohr zu schiessen. Das Gift, das wir verwenden, ist tödlich, aber man kann seinen Körper daran gewöhnen. Mit meinen Händen war ich anfangs so ungeschickt, dass die Gefahr bestand, dass ich mich an meinen eigenen Pfeilen verletzen würde. So habe ich angefangen, das Gift zu mir zu nehmen, erst stark verdünnt, dann immer konzentrierter, und immer zusammen mit dem Gegenmittel. Wenn ich mich heute mit einem meiner Pfeile verletze, führt das nur zu einer kleinen Entzündung. Ein Treffer, wie du ihn abbekommen hast, würde mich allerdings wohl immer noch sehr krank machen. Aus der Zeit, als ich mich daran gewöhnt habe, weiss ich sehr gut, wie man sich fühlt, wenn man dieses Gift im Körper hat. Und ich hatte nie solche Mengen zu verarbeiten, wie es dir bevorsteht."

Tiruial wurde müde, aber dieser Mann war ungewöhnlich, und wer weiss, ob er noch einmal so frei von sich erzählen würde, wenn er Zeit hatte, ein wenig über seine Situation nachzudenken. Vermutlich redete er im Moment nur so viel, weil er sich selber nicht so ganz im Klaren war, was aus ihm werden sollte. Also raffte er sich zu einer weiteren Frage auf.

„Du warst es, der auf mich geschossen hat, nicht wahr?"

Der andere senkte den Kopf, hob ihn dann aber wieder und blickte ihn trotzig an.

„Ja, ich habe auf dich geschossen. Ich habe dich gesehen, als du den Bergpfad hinab kamst, kurz vor dem Sandsturm. Du hast mich an jemanden erinnert, und deshalb habe ich den anderen nichts gesagt. Vor zehn Jahren ist mir jemand wie du entkommen, und dafür hat einer von uns sein Leben, drei ihr Augenlicht und ich meine Hände verloren. Ich wollte nicht, dass sich das wiederholt, und deshalb bin ich alleine zurückgekommen, um dich zu töten. Als du dann weggeritten bist, dachte ich, ich hätte dich verfehlt. Wie konntest du mit dem Gift im Körper nur noch so weit kommen?"

Er bekam keine Antwort, denn Tiruial war nun so erschöpft, dass er kurz davor stand, wieder einzuschlafen. Vage bekam er noch mit, dass er wieder flach hingelegt und zugedeckt wurde. Dann hörte er nur noch von weit her die Stimme des Mannes.

„Schlaf nur so lange du kannst. Du wirst bald genug alle Kraft brauchen, die du jetzt noch sammeln kannst."

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Araym wartete, bis der Reiter schlief. Das kurze Gespräch hatte den Fremden sehr angestrengt, und er atmete flach und hastig, von ungesunden Pfeifgeräuschen begleitet. Araym fühlte erneut, wie sich sein schlechtes Gewissen regte, und er strich dem Mann behutsam eine Haarsträhne aus dem fiebrigheissen Gesicht. Irgendetwas an ihm kam ihm seltsam vor, aber Araym kam nicht darauf, was es war, abgesehen davon, dass er einen tödlichen Giftangriff überlebt hatte. Er musste von weither kommen, denn er sah anders aus, als alle Menschen, die Araym je gesehen hatte.

Schliesslich beugte er sich über den Schlafenden hinweg ans Fenster und sah hinaus. Es war früher Abend, und die Sonne stand schon tief. Draussen standen zwei Männer bei einer Gruppe von Kamelen, die am Gartenzaun angebunden waren. Sie waren dabei, die Tiere abzuladen, und Araym erkannte Wasserschläuche und einen Beutel, aus dem ein langes Brot herausragte, wie es die Bauern Amaronds buken.

Eine Frauenstimme rief etwas, und einer der Männer antwortete, aber Araym konnte nicht verstehen, worum es ging. Kurz darauf öffnete sich die Türe zum Zimmer, und Araym fuhr herum. Eine junge, rothaarige Frau trat ein und schob die Türe mit dem Fuss hinter sich zu. In der einen Hand hielt sie eine kleine Schüssel, in der anderen zwei Teller, und unter den Arm hatte sie einen Krug geklemmt. Aus der Schüssel dampfte es, und Araym nahm den Geruch von Gelbwurz war. Als die Frau sah, dass er wach war, zuckte sie zusammen, und der Krug unter ihrem Arm geriet ins Rutschen. Araym sprang hinzu und wollte ihn ihr abnehmen, bevor er zu Boden fiel.

Dummerweise hatte er für einen Moment die Fesseln vergessen. Durch die hastige Bewegung strafften sich diese so ruckartig an, dass er zurückgerissen wurde, das Gleichgewicht verlor und unsanft am Boden landete. Er verzog schmerzlich das Gesicht, und wollte gerade kräftig fluchen, als er das entsetzte Gesicht der jungen Frau sah. Sie hatte offenbar gedacht, er wolle sie angreifen. Klirrend zersprang der Krug am Boden, und Milch breitete sich in einer langsam wachsenden Pfütze aus. Araym schluckte die Bemerkung herunter, die ihm auf der Zunge lag und rutschte stattdessen zurück, bis sein Rücken an die Wand stiess. Dann hob er langsam beide Hände in einer Geste, die friedlich wirken sollte.

„Ich wollte dich nicht erschrecken, ich habe dir nur den Krug abnehmen wollen und dabei die Fesseln vergessen. Tja, jetzt ist es zu spät für den Krug. Tut mir leid, ich war wohl ein bisschen ungeschickt."

Die Frau entspannte sich ein wenig und stellte behutsam das restliche Geschirr auf den Schemel neben dem Bett, wobei sie den Wasserkrug und den Becher zur Seite schob. Dann blickte sie scheu zu Araym, und ihm fiel auf, wie bewusst sie es vermied, seine immer noch erhobenen Hände anzusehen. Rasch senkte er sie, um ihr den Anblick zu ersparen. Die junge Frau lächelte entschuldigend.

„Mir tut es leid. Ich habe mich nur furchtbar erschrocken, als Ihr so plötzlich auf mich zugesprungen seid. Ich dachte, ihr würdet beide noch schlafen."

Dabei warf sie einen Blick auf den Elben, der reglos im Bett lag. Er sah wieder aus wie tot, und Araym bemerkte, dass die junge Frau dasselbe dachte. Zögernd ging sie zu dem Schlafenden hin und beugte sich über ihn. Er sah ihre Erleichterung, als sie feststellte, dass er noch atmete, und versuchte sie zu beruhigen.

„Ich kenne dieses Gift. Es wütet nicht mehr in seinem Körper, und er ist über den Berg. Eigentlich sollte er es überstehen, wenn er die Schmerzen aushält, die ihn noch erwarten, wenn sein Körper die Reste des Giftes abbaut."

Bevor die Frau etwas erwidern konnte, ging die Türe erneut auf, und ein älterer Mann trat ein. Er sah, dass Araym wach war und schob das Mädchen rasch hinter sich. Wieder hob Araym die Hände langsam hoch.

„Ich werde nichts tun. Sagt Ihr mir, weshalb ich gefangen bin?"

Der Mann runzelte die Stirn, warf einen kurzen Blick auf den Schlafenden und trat dann auf Araym zu. Mit ein, zwei kurzen Handgriffen hatte er die Knoten um das Bett gelöst und hielt nun das eine Ende der Fesseln in der Hand. Er nickte Araym zu.

„Gehen wir nach draussen und reden wir."

Araym wurde plötzlich bewusst, dass er nur ein viel zu grosses Hemd trug, und dass seine Kleidung verschwunden war. Er errötete leicht, als er die junge Frau ansah und wandte sich dann an den Mann, der seine Fesseln hielt.

„Was ist mit meinen Sachen?"

„Später. Jetzt werden wir erst zusammen reden, und dann werden wir entscheiden, was weiter geschieht."

Dann wandte er sich an die Frau.

„Lass den Elben schlafen und komm mit nach draussen. Und nimm einen Teller für den Gardisten mit – wenn der Junge hier brav antwortet, bekommt er vielleicht sogar ein Abendessen."