A/N: Heute nur ein kurzes Kapitel, aber dafür kommt im nächsten endlich die Wahrheit über Tiruials Mission ans Licht. Jetzt gibt es erst mal viiiele Erklärungen...
Einhorn: Keine Angst, Araym bekommt schon bald wieder Arbeit, wenn auch nicht im Dienst von Anaryas Vater. (Das wäre ja schade, denn dann käme er schon bald nicht mehr vor...)
Runya
Es war Nachmittag, und die Sonne brannte heiss auf das weisse Sonnensegel, das Tárion und Marek im Garten aufgespannt hatten. Kamele und Pferde hatten sich in den spärlichen Schatten in der Nähe des Hauses zurückgezogen. Die Hitze liess die Luft flimmern, aber unter dem aufgespannten Tuch war es auszuhalten. Am Tisch, den Marek im Schutz des Sonnendaches aufgestellt hatte, sassen der Fürst, seine beiden Kinder, Marek, Araym und Tiruial. Für den Elben hatte man einen von Kirgus Ledersesseln nach draussen gebracht, worin er jetzt mehr oder weniger aufrecht sass. Sein Gesicht zeugte von der Anstrengung, die er sich zumutete, aber es war sein eigener Wunsch gewesen, dass man nicht mehr länger warte, sondern er endlich erzählen könne, weshalb er in den Osten gekommen war. Es war Tiruial gewesen, der ausdrücklich auch Arayms Anwesenheit bei dem Gespräch gefordert hatte, so dass nun auch der Gardist zwischen Marek und Tárion am Tisch sass. Der Fürst eröffnete die Versammlung.
„Es ist noch keine Woche her, dass früh am Morgen ein Pferd bei uns auf den Hof galoppierte. Meine Tochter Anarya schaffte es, das Tier zu beruhigen und sich auf seinen Rücken zu schwingen. Das Pferd führte sie hierher, zu Kirgu Tammaris Hütte, wo wir heute versammelt sind. Ich schlage vor, dass Anarya den Anfang macht, indem sie berichtet, was sie hier antraf, als sie das Haus erreichte."
Bradwen von Fenring nickte seiner Tochter aufmunternd zu und Anarya erzählte, wie sie den bewusstlosen Tiruial gefunden und von seinem Pferd losgeschnitten hatte. Sie berichtete, wie sie die vergiftete Nadel aus dem Rücken des Elben gezogen hatte, wie Marek angekommen war, und wie sie gemeinsam versucht hatten, die Wirkung des Giftes zu neutralisieren.
Dann übernahm Marek die Fortsetzung der Geschichte. Er berichtete von der Nacht, die er an der Seite des Kranken verbracht hatte und von seiner Erleichterung, als dieser sich endlich zu erholen schien. Es folgte der Bericht darüber, wie Anarya und ihr Vater Araym gefunden und zu Kirgus Haus geschafft hatten. Araym war das Ganze sichtlich peinlich, aber er sagte kein Wort. Als sie bei der Stelle angekommen waren, wo Tiruial Marek nach dem Fürsten ausgesandt hatte, um Rat zu halten, war die Sonne schon deutlich nach Westen hin gewandert und die ärgste Hitze liess nach.
„Nun wissen wir alle, was in den letzten Tagen geschehen ist. Was mich jetzt interessieren würde, ist wie es dazu kam. Ich schlage vor, dass Herr Tiruial uns jetzt erzählt, weshalb er hierher kam. Dann werden wir darüber sprechen, von wem und warum er angeschossen wurde, und schliesslich werden wir noch herauszufinden versuchen, was Araym, der Gardist mit der ganzen Sache zu tun hat."
Der Fürst nickte Tiruial zu, und dieser richtete sich ein wenig auf und blickte der Reihe nach alle Anwesenden an.
„Ich werde nun von Dingen erzählen, die für die meisten von euch fremdartig und märchenhaft klingen mögen. Doch auch wenn es für euch schwer vorstellbar ist, bitte ich euch, meine Geschichte ernst zu nehmen. Auch bitte ich darum, dass alles Gesagte unter uns bleibt."
Seine Stimme war immer noch sehr leise und schwach. Ausserdem schien ihm das Sprechen Schmerzen zu bereiten. Bevor Tiruial fortfuhr, sah er noch einmal jeden am Tisch ernst an. Erst nach geraumer Zeit sprach er weiter.
„Mein Name ist Tiruial. Wie ihr alle bereits wisst oder zumindest vermutet, komme ich aus dem Westen, von weit jenseits des Gondramgebirges. Geboren wurde ich jedoch hier, in diesem Haus, vor dem wir jetzt sitzen. Mein Vater war Elruin, ein Elb, der in den Osten kam um einen Auftrag der Valar auszuführen, meine Mutter war Kirgu Tammari."
„Ihr wollt Kirgus Sohn sein? Unmöglich! Er müsste inzwischen ein alter Mann sein! Und was soll dieses Gerede von Elben und Valar? Ich kenne diese Länder und ihre Bewohner nicht!"
Marek hatte den Elben heftig unterbrochen, doch Tiruial beschwichtigte ihn mit einer sanften Handbewegung.
„Setzt Euch, Marek. Ich werde ein wenig weiter ausholen, damit Ihr das alles verstehen könnt, was Anarya schon weiss und der Fürst zumindest ahnt. Es fehlt die Zeit, um die ganze Geschichte Mittelerdes zu erzählen, aber ich werde mich so kurz wie möglich fassen. Wie ich bereits gesagt habe, war mein Vater ein Elb. Wir Elben nennen uns auch die Erstgeborenen, denn wir wandelten lange vor euch Menschen auf dieser Erde. In vielen Dingen sind wir uns ähnlich, doch eines unterscheidet uns voneinander. Während ihr Zweitgeborenen nur eine kurze Lebensspanne hier weilt, sind wir Elben nicht der Alterung unterworfen. Wir können getötet werden, oder dahinschwinden, weil wir des Lebens müde sind, aber wenn das nicht geschieht, leben wir länger, als Ihr Euch das vorstellen könnt. Ich selber bin jung, für mein Volk nicht viel mehr als ein Kind, obwohl ich mehr als siebzig Jahre gelebt habe."
Tiruial winkte ab, als er sah, dass die anderen ihn mit Fragen unterbrechen wollten.
„Mein Vater war also ein Elb, meine Mutter dagegen ein Mensch – Kirgu Tammari, die lange Zeit hier in diesem Haus gelebt hat. Genau genommen bin ich also nur zur Hälfte ein Elb, aber es scheint, als hätte meine Zwillingsschwester das ganze menschliche Erbe, während ich alle Eigenschaften der Erstgeborenen aufweise. Ich weiss nicht, weshalb wir Geschwister so verschieden sind, aber ich denke, es hat damit zu tun, dass Miradan immer nur sein wollte wie alle anderen, während ich in allem und jedem meinem Vater nacheiferte. Es gibt auf Mittelerde Halbelben, die vor die Wahl gestellt wurden, ob sie das Leben eines Menschen oder eines Elben leben wollten, und ich denke, das ist auch mit meiner Schwester und mir geschehen – nur dass diese Wahl in unserem Fall unbewusst getroffen wurde."
Anarya nickte wissend vor sich hin. Ihr waren diese Geschichten von den Halbelben bekannt. Alle anderen Anwesenden dagegen schienen höchst verwirrt zu sein. Ohne sich darum zu kümmern fuhr Tiruial mit seinem Bericht fort.
„Um zu erklären, weshalb ich hier bin, muss ich weit in der Vergangenheit zu erzählen beginnen, zu einer Zeit, bevor die ersten Menschen ihren Fuss auf Mittelerde gesetzt hatten. Es ist eine lange und tragische Geschichte, aber ich werde sie möglichst kurz zusammenfassen. Was ich jetzt erzählen werde, wird auch für dich neu sein, Anarya, denn nicht einmal Kirgu wusste über diese Dinge Bescheid."
Tiruial hielt einen Moment inne, trank einen Schluck Wasser aus dem Becher, der vor ihm stand, und erzählte dann seine Geschichte mit so leiser Stimme, dass man ihn kaum verstehen konnte.
„Es ist Tausende von Jahren her, dass die meisten Elben in Valinor lebten. Valinor, das sind die Unsterblichen Lande, weit, weit im Westen, jenseits des grossen Ozeans. Dort leben die Valar, welche Mittelerde gestaltet und geformt haben, nachdem Eru Iluvatar ihnen gestattet hatte, Gestalt anzunehmen und auf dieser Welt zu leben. Dort, in Valinor, kannten die Elben keine Sorgen; das Leben ging seinen Lauf und ein Tag war schöner als der andere. Damals lebte eine junge Elbenmaid in der Stadt Tirion, wo die Elben ihre Heimat hatten. Sie war eine Vanya, hochgewachsen und doch zart, mit blondem Haar und blauen Augen. Sie muss eine Schönheit gewesen sein, selbst unter den Vanyar, die als die Schönsten des Elbenvolkes gelten. Die junge Frau war damals wohl nicht viel älter als ich es heute bin, und sie hatte in ihrem Leben nie etwas anderes kennen gelernt als die prächtigen Gärten Valinors. Ihr Name war Erunyauvë, und sie war dazu bestimmt, Laurelin, den goldenen Baum zu behüten, wenn sie erst einmal alt genug dafür wäre. Ihr müsst wissen, dass Laurelin und Telperion, der goldene und der silberne Baum, dem Land Licht spendeten bevor es Sonne und Mond gab. Die Bäume mussten allerdings immer wieder mit ihrem eigenen Licht begossen werden, so wie man gewöhnliche Pflanzen mit gewöhnlichem Wasser giesst. Für diese Aufgabe wurden junge Elben auserwählt, und es war eine grosse Ehre ihnen anzugehören.
Erunyauvë war jedoch nicht zufrieden damit, immer nur in der Nähe des goldenen Baumes sein zu müssen. Viel lieber ritt sie mit ihren Brüdern um die Wette oder mass sich gar im Kampf mit ihnen. Oft ritt sie auch alleine hinaus aus der Stadt und galoppierte über die weiten Wiesen Valinors. Dabei lernte sie eines Tages Sarince kennen, eine Noldo, die zufälligerweise genau gleich alt war wie sie. Da es nur wenige junge Elben auf Valinor gab, und es oft nicht ganz einfach war mit all den alten, weisen und erfahrenen Geschöpfen zurechtzukommen, freundeten sich die beiden Mädchen rasch miteinander an, obschon sie nur wenige Gemeinsamkeiten hatten. Sarince war eine typische Noldo; schwarzhaarig und mit ernsten, grauen Augen. Wie viele Noldor war sie sehr wissbegierig, aber auch aufbrausend und oft schwierig zu besänftigen, wenn ihr etwas nicht behagte. Wo Erunyauvë schnell einmal bereit war nachzugeben, drängte Sarince weiter, bis sie ihr Ziel erreicht hatte.
Sarince und Erunyauvë waren bald einmal unzertrennlich. Nur selten war die eine ohne die andere anzutreffen, obschon dies eher ungewöhnlich war. Normalerweise blieben die Vanyar unter sich, da sie den Wissensdurst der Noldor sowenig verstehen konnten, wie diese das Desinteresse der Vanyar an solchen Dingen.
Die Jahre vergingen, doch auf Valinor veränderte sich nicht viel. Fëanor, der grösste aller Juwelenschmiede lernte damals seine Kunst, und er schuf unvergleichliche Edelsteine, wie zum Beispiel die Palantiri, die heute fast alle verloren sind, doch war er noch nicht auf dem Höhepunkt seines Schaffens angelangt. Es kam zu Spannungen zwischen den Valar und Morgoth, der Valinor verlassen hatte und auf Mittelerde Böses wirkte. Doch Sarince und Erunyauvë wussten nichts von solchen Dingen. Sie ritten zusammen aus, spielten mit ihren Geschwistern und sassen oft stundenlang unter Laurelins dichtem Blätterdach und redeten über dies und das.
Fëanor war nicht nur der grösste Juwelenschmied, den die Welt je gesehen hat, er war auch hitzköpfig und eigensinnig, was sein Verhängnis wurde. Eines Tages kam ihm der Gedanke, seine Juwelen noch strahlender zu gestalten, indem er das Licht der Bäume in sie einschlösse. Doch hatte er nie zuvor auf diese Weise gearbeitet, und da ihm die Bäume wie allen Elben sehr viel bedeuteten, machte erst einen Versuch mit Sternenlicht, das ihm die Sternenkönigin Elbereth zur Verfügung stellte, bevor er sich an das Licht von Laurelin und Telperion wagte.
Auf diese Weise schuf er drei Steine, die wie auch viele andere Werke Fëanors von unvergleichlicher Schönheit sind. Diese drei Juwelen formte er nämlich mit dem Licht dreier Sterne, die direkt über dem Taniquetil, dem höchsten Berg Valinors standen. Der Farbe des Sternenlichts entsprechend, das er in die Steine eingeschlossen hatte, nannte Fëanor den grünen Stein Laica, den roten Runya und den blauen Luina. Als Fëanor diese Gemmen geschaffen hatte, zeigte er sie Elbereth und fragte sie, was sie davon halte.
Die Valië war begeistert von der Pracht der Juwelen, die schimmerten als ob Fëanor wirklich die Sterne vom Himmel geholt hätte. In ihrer Freude, aber auch in dumpfer Vorahnung der Zukunft, belegte Elbereth die drei Edelsteine mit einem Zauber. Wo immer sich diese Juwelen befänden, sollten sie mit den drei Sternen über dem Taniquetil verbunden bleiben. Wer immer sie bei sich trüge, dem sollten sie den Weg nach Valinor weisen, unabhängig davon, wie weit er von dort entfernt sei.
Fëanor war erfreut über sein Werk, aber für ihn war es nicht mehr als eine Vorstufe zu dem, was er am Ende erreichen wollte. Erst später kam er noch einmal auf die Idee mit dem Sternenlicht zurück und schuf die Nostaltîm, welche ebenso wie die Silmaril verloren gegangen sind. Die drei Juwelen, die Elbereth verzaubert hatte, gefielen Fëanor, aber sie waren ihm nicht so wichtig, wie sein Ziel, das Licht der Bäume einzufangen. So verschenkte er die Steine. Luina, kam zu den Vanyar. Sein Schein war so licht und hell, wie es diese Elben waren. Laica bekamen die Teleri geschenkt. Sein grüner Schimmer sollte sie ans Meer erinnern. Runya dagegen, das rote Juwel, behielt Fëanor für die Noldor. Sein rotes Feuer war so flammend wie die Leidenschaft dieses Volkes, Wissen zu erlangen.
So ging die Zeit dahin, und auch wenn sich das Böse auf Mittelerde regte, wussten die Elben nichts davon. Erunyauvë und Sarince wurden älter, aber noch immer verbrachten sie die meiste Zeit bei Spiel und Tanz und sie kümmerten sich nicht um die Dinge, die draussen in der Welt, fern von Valinor, geschahen. Doch je länger je mehr war Sarince fasziniert von Fëanor und seinen Werken. Sie verbrachte viel Zeit in seiner Werkstatt und sah ihm bei der Arbeit zu. Erunyauvë war der düstere Elb mit den brennenden Augen nicht ganz geheuer, aber ihrer Freundin zuliebe kam sie manchmal mit in die Werkstatt und staunte mit ihr über die Fingerfertigkeit des Noldo.
Eines Tages waren die beiden jungen Frauen am Strand, wo sie Perlen und Edelsteine suchten, um Schmuck daraus zu basteln. Es nahte der Tag, an dem Erunyauvë zur Hüterin Laurelins ernannt werden würde, und sie sollte an jenem Tag ein reich verziertes Gewand tragen. Da die Noldor Edelsteine im Überfluss besassen, verteilten sie diese oft an den Stränden, wo sie im Sonnenlicht funkelten und glitzerten. Sarince hätte jemanden in ihrer Familie oder selbst Fëanor, der sich inzwischen an ihre Anwesenheit in der Werkstatt gewöhnt hatte und ihre klugen Fragen schätzte, um Edelsteine bitten können, um damit Erunyauvës Gewand zu besticken, aber die jungen Elbinnen zogen es vor, sie sich am Strand selber zusammenzusuchen.
Nach einiger Zeit entdeckten sie ein Boot, das in der Bucht vor Anker lag. Es schien niemand dabei zu sein, aber als die beiden lange genug gewartet hatten, tauchte plötzlich ein Elb aus dem Wasser auf und legte etwas ins Boot. Dann tauchte er wieder unter Wasser und verschwand für lange Zeit. Fasziniert sahen Sarince und Erunyauvë zu, wie der Mann immer wieder auftauchte, etwas ins Boot legte und sich wieder in die Fluten stürzte. Nach einiger Zeit bemerkte er sie und schwamm zu ihnen herüber. Er konnte nicht nur länger tauchen als alle Elben, die sie kannten, er schwamm auch schneller. Als er bei ihnen angelangt war, stieg er aus dem Wasser und hielt ihnen seine Hände entgegen, in denen grosse Perlen schimmerten. Er stellte sich ihnen als Earyond vor und sagte, er gehöre dem Volk der Teleri an und lebe in Alqualonde. Die beiden Elbinnen kannten die Teleri vom Sehen, aber sie hatten nie mit einem von ihnen gesprochen. Sie wussten, dass diese Elben das Meer liebten, und dass sie als einzige Schiffe besassen, mit denen man ausser Sichtweite der Küste segeln konnte.
Earyond verbrachte den ganzen Nachmittag mit den beiden Frauen, und er holte ihnen Perlen aus dem Meer, um damit Erunyauvës Gewand zu verzieren. Von da an trafen sie ihn öfter, und irgendwann bat er Erunyauvës Vater um die Hand seiner Tochter. Kurz darauf vermählten sich die beiden, und Erunyauvë zog zu Earyond nach Alqualonde. Sarince war traurig über den Weggang ihrer Freundin, aber sie wurde ein wenig getröstet dadurch, dass sie nun anstelle von Erunyauvë zur Hüterin Laurelins ernannt wurde – eine Ehre, die bisher nur den Vanyar zuteil worden war.
Doch das Schicksal nahm seinen Lauf. Morgoth gelang es mit Hilfe der Spinne Ungolianth, die beiden Bäume zu zerstören und somit Dunkelheit über Valinor zu bringen. Fëanor hatte kurz zuvor die Silmaril geschaffen – jene Edelsteine, die das Licht der Bäume in sich trugen. Als man nun Fëanor um die Steine bat, um damit die Bäume zu retten und Valinor wieder zu erhellen, kam es zu Streit, Neid und Eifersucht, denn Fëanor wusste, dass sie sein Lebenswerk waren, und er wollte sich nicht von ihnen trennen. Schliesslich gelang es Morgoth, die Silmaril zu stehlen, und es kam dazu, dass Fëanor und seine Söhne den furchtbaren Eid schworen, der das Schicksal der Noldor besiegelte. Er schwor, er werde die Steine zurückholen, aber dies war nur zu seinem eigenen Wohl, und daher waren die Valar nicht damit einverstanden.
Als Fëanor dennoch ging, verbannten sie ihn, und verboten ihm und all jenen, die ihn begleiteten, jemals wieder nach Valinor zurückzukehren. Viele Noldor folgten Fëanor in die Verbannung, unter ihnen auch Sarince. Nun, da Laurelin tot war, hatte sie keine Aufgabe mehr, die sie erfüllen musste. Erunyauvë, die wenige Tage zuvor ihr erstes Kind bekommen hatte, hatte nur selten Zeit für sie, und ihre Familie sah sie nur selten, da ihr Vater sich eher für Schriftrollen als für seine Kinder interessierte und ihre Mutter sich mehr um ihre jüngeren Geschwister kümmerte als um sie. Ausserdem war Sarince immer noch fasziniert von Fëanor und seinem charismatischen Auftreten. Die Valar waren entrüstet über den Hochmut Fëanors und auch darüber, dass die meisten Noldor ihn begleiten wollten. In ihrem Zorn befahlen sie den Elben, ihnen Runya zu übergeben. In ihrer Verbannung sollten sie nicht den Stein besitzen, der ihnen den Weg nach Valinor weisen würde.
Und doch war Runya der erste der drei Steine, der Valinor verliess, lange vor Luina, dem Juwel des Bündnisses, das erst viele Jahrtausende von Celebrimbor, dem grossen Schmied, in einen Ring gefasst wurde und nun für immer verloren ist. Auch Laica, das von Fëanor selber in eine Halskette eingefügt worden war, wurde erst später hin und wieder von Teleri mitgenommen, wenn sie von den Küsten Valinors in den Osten segelten. Doch Runya begleitete Fëanor und die Noldor nach Mittelerde, wo der Edelstein von Ëol, dem dritten grossen Elbenschmied in eine Brosche gefasst wurde, welche den Mantel von Tarias, der Widerspenstigen, zierte. So wurde das Juwel für die verbannten Noldor zu einem Rettungsanker in der ungewissen Zukunft, die vor ihnen lag, denn eines Tages würde es ihnen den Weg zurück in die verlorene Heimat weisen."
Tiruial hielt inne und liess den Blick über seine Zuhörer schweifen. Nun, da die heisere Stimme des Elben verstummt war, schienen sie nach und nach aus einem völlig entrückten Zustand zu sich selbst zurück zu finden. Der Fürst räusperte sich, bevor er sich an Tiruial wandte.
„Das ist ja alles sehr interessant, aber was hat das mit uns zu tun?"
Tiruial antwortete nicht; er liess seinen Blick auf Anarya ruhen, gespannt ob sie die Bedeutung der Geschichte erkannt hatte. Plötzlich sah sie auf und ihre Blicke trafen sich. Anarya schien sich noch nicht ganz sicher zu sein, aber als Tiruial fast unmerklich nickte, sprang sie auf und verschwand im Haus. Kurz darauf kehrte sie mit einem kleinen Kästchen in der Hand zurück. Sie schob es Tiruial entgegen, doch dieser schüttelte den Kopf.
„Du bist seine Hüterin, Anarya."
Sie lächelte verkniffen und öffnete behutsam das Kästchen. In seinem Inneren befand sich ein Gegenstand, der in ein zartes Seidentuch gehüllt war. Als Anarya ihn auswickelte, hörte sie Laute der Überraschung von den anderen am Tisch. Auch sie selber war jedes Mal aufs Neue entzückt von der Schönheit der Brosche, die sie aufbewahren sollte. Doch zum ersten Mal war ihr bewusst, dass es nicht der fein gearbeitete Schwan war, der für die Elben von unschätzbarem Wert war, sondern der rote Stein, den seine Flügel umschlossen.
„Das ist Runya, nicht wahr? Es ist das Juwel der Noldor, das den Weg nach Valinor weist."
Tiruial nickte.
„Es ist Runya, und die Geschichte, die ich euch erzähle hat damit zu tun, wie dieses Juwel in den Osten kam. Dazu komme ich nun, wo ihr die Vorgeschichte kennt."
