A/N: So, hier kommt mal ein richtig langes Kapitel. Endlich finden die Gespräche ein Ende, und es gibt wieder ein bisschen Handlung. Die Länge des Kapitels ist ein kleines Trösterchen dafür, dass es eine kleinere Sommerpause geben könnte. Mir steht schon wieder ein Umzug bevor, und auch sonst ist im Juli ziemlich viel los. Aber keine Panik, die Pause dauert höchstens 2 Wochen, und vielleicht komme ich ja irgendwann doch mal an einen Computer, um ein kleines Kapitelchen zu posten...
Aufbruch
Fürst Bradwen wandte sich nun an Marek.
„So, nun kennen wir die Geschichte von Tiruial bis auf eine kleine Einzelheit. Als er hier eintraf, war er verletzt, schwer verletzt sogar. Wäre er kein Elb, so wäre er wohl gestorben. Marek, könntest du beschreiben, worum es sich bei Tiruials Verwundung handelte?"
Marek, der von Tiruials Geschichte noch immer wie betäubt da sass, brauchte eine Weile, um den Befehl des Fürsten zu verstehen. Bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte, kam ihm Araym zuvor.
„Fürst Bradwen von Fenring, ich denke, dass ich dies wohl besser erklären sollte."
Der Fürst wehrte ab.
„Nein, Araym, Ihr kommt gleich an die Reihe. Ich möchte nur erst, dass Marek erklärt, was Anarya in Tiruials Rücken gefunden hat."
Marek hatte sich inzwischen gefangen und legte nun mit einer vorsichtigen Bewegung die Nadel auf den Tisch, die Tiruial verwundet hatte. Tárion blickte äusserst interessiert darauf, während Araym betreten auf die Tischkante vor sich starrte. Die anderen hatten die vergiftete Nadel schon gesehen. Marek wartete einen Moment, bevor er mit seiner Erklärung anfing.
„Vor langer Zeit, ich war damals noch ein junger Mann, wurde Amarond von den Nomaden aus der Wüste angegriffen. Sie waren gut organisiert und brachten unser Heer immer wieder in grosse Bedrängnis. Die Schwierigkeit war, dass die Nomaden durch ihre Späher immer genau wussten, wo wir Soldaten stationiert hatten, und dass sie dann immer an einem völlig anderen Ort angriffen. So plünderten sie kleine Siedlungen am Rand der Wüste, töteten die Bevölkerung, stahlen ihr Hab und Gut und waren in die Wüste verschwunden, bevor das Heer Amaronds auftauchte. Dann wiederum legten sie Hinterhalte und griffen unsere Soldaten an. Bevor sich eine Verteidigung gebildet hatte, waren sie auch schon wieder verschwunden und wir hatten neue Verluste zu beklagen. Ich weiss nicht, wie es weitergegangen wäre, wenn wir nicht unerwartet Hilfe bekommen hätten. Es waren verschleierte Männer auf schnellen Kamelen, die wie Geister auftauchten und verschwanden. Sie schienen immer zu wissen, wo die Nomaden als nächstes zuschlagen würden und fielen über sie her wie Rudel von ausgehungerten Sandkatzen. Damals sah ich zum ersten Mal solche Giftnadeln wie diese hier. 'Egur' werden sie genannt, und sie töten rasch und unweigerlich. Die verschleierten Reiter verwendeten diese Geschosse mit Blasrohren, und sie waren unwahrscheinlich zielsicher damit. Später, als der Fürst ein junger Mann war, und ich ihm das Kämpfen beibringen sollte, sahen wir noch einige Male solche verschleierten Reiter und hatten mit ihren Giftpfeilen zu tun. Nur wurden sie dieses Mal gegen uns verwendet."
Tárion nickte verstehend und der Fürst lächelte seinen Sohn aufmunternd an.
„Ja, Tárion, erzähl uns, was du während deiner Ausbildung über die Garde gelernt hast."
Anaryas Bruder räusperte sich und begann dann zu wiederholen, was man ihm beigebracht hatte.
„Seit jeher gibt es niemanden, der das Gondramgebirge überquert. Das schwarze Fieber kommt aus dem Westen, ebenso die Sklavenhändler, der vergiftete Koron und viele andere üble Dinge, die die Länder im Osten quälen. Yoris und Simurakh, die unsterblichen Könige Farads, haben von einem dunklen Herrscher im Westen gesprochen, und Yoris ging mit einem ganzen Heer tapferer Krieger verloren, als er sich gegen ihn wandte. So war es kurz nach dem Ende der Herrschaft von Yoris und Simurakh, dass sich die Herrscher von Amarond, Karmand, Farad und dem Wintergebirge trafen, um Rat zu halten. Um zu vermeiden, dass eine neue Gefahr aus dem Westen über die Koldarebene hereinbrechen könnte, beschloss man die Pässe über das Gebirge ein für alle Mal zu sperren. Bis heute werden alle Pfade in den Westen von der Garde bewacht, und nur wer ein Schriftstück bei sich trägt, das von mindestens drei verschiedenen Herrschern der Ostländer unterzeichnet ist, darf das Gondramgebirge überqueren. Jeder andere, sei es ein Händler, ein Abenteurer oder ein Bote, wird ohne Vorwarnung getötet, wenn er sich zu weit in die Berge vorwagt. Nur die Hirten werden verschont, wenn sie nicht gar zu weit vordringen."
Marek unterbrach ihn.
„Nicht immer, junger Herr, nicht immer. In den Jahren, in denen ich Soldat war, habe ich mehrmals erlebt, dass Hirten von einem Egur getötet wurden. Nur einen haben wir lebend gefunden, aber wir schafften es nicht, ihn rechtzeitig zu Kirgu Tammari zu bringen."
„Die Garde... So nennt man uns also inzwischen in Amarond. Das ist nicht falsch, aber es ist auch nicht ganz richtig."
Alle Blicke wandten sich Araym zu, der nun nicht mehr auf die Tischkante starrte, sondern aufrecht dasass. Sein Blick war nicht anders als stolz zu nennen, und seine Augen blitzten, als er fortfuhr.
„Einst, als die Könige des Ostens die Garde der fünf Winde schufen, hatten sie nur ein Ziel vor Augen. Der Osten sollte um jeden Preis vor dem Westen geschützt werden. Man konnte es nicht wagen, dass ein einzelnes Land gegen die Gesetze verstiess und so den ganzen Osten gefährdete. Daher ist es nicht einfach 'die Garde', sondern 'die Garde der fünf Winde'. Es ist nicht ein einzelnes Heer, es sind vier voneinander unabhängige Einheiten, die sich gegenseitig keine Rechenschaft schuldig sind, und sich nur den Befehlen des fünften Windes unterordnen. Selbst mit dem Schriftstück, das von drei Herrschern unterschrieben ist, kommt man nicht einfach so über das Gebirge. Der fünfte Wind ist der einzige, der einem die Passage über die Berge gestatten kann – selbst mit dem Siegel dreier Könige kommt man nicht weiter als bis vor den fünften Wind."
Araym war die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer gewiss. Gespannt starrten sie ihn an, denn was er hier erzählte, war für jeden der Anwesenden völlig neu. Der junge Mann warf dem Fürsten einen fragenden Blick zu, und als dieser ihm zunickte, fuhr er fort.
„Die vier Winde bewachen die verschiedenen Pässe über das Gebirge. Sie stammen aus verschiedenen Ländern des Ostens, haben unterschiedliche Strategien und Kampftechniken, und keiner weiss über die anderen Winde Bescheid. Ich habe dem Fürsten gesagt, dass ich meine Leute nicht verraten werde, auch wenn ich nicht mehr zu ihnen gehöre. Nun, da ich aber die Geschichte des Elben gehört habe, werde ich ein wenig mehr sagen, als ich eigentlich vorhatte. Sollte sich im Westen wirklich ein so gewaltiges Heer sammeln und sich auf die Suche nach dem Schmuckstück machen, das Eure Tochter, Fürst, bei sich trägt, so werden die fünf Winde wohl nicht viel dagegen tun können. Wir sind die besten Kämpfer, die man sich denken kann, aber wir sind wenige – genug um Handelskarawanen aufzuhalten, aber gewiss nicht annähernd zahlreich genug, um ein Heer zu stoppen, das um jeden Preis die Berge überqueren will.
Ich, Araym, war einst Araym Ordis, ein Soldat der Südwinde. Wir bewachen die südlichen Pässe des Gondramgebirges und die südlichen Ebenen am Fuss der Berge. Unsere Stärke liegt in der Heimlichkeit und der Schnelligkeit. Die Südwinde waren es, die Amarond schon in einigen Kriegen geholfen haben, und die Südwinde sind es, die ihr ab und zu zu Gesicht bekommt, wenn sich wieder Reisende zu nahe an die Berge herangewagt haben.
Ohne mich brüsten zu wollen, wage ich zu behaupten, dass die Überquerung des Gondramgebirges im Süden schwerer ist, als anderswo. Ich weiss nicht viel über die anderen Winde, aber eines ist bekannt. Das Gift der Südwinde und die überlegenen Waffen und Rüstungen der Nordwinde sind am gefährlichsten. Die Ost- und Westwinde dagegen sind eher gewöhnliche Soldaten, die ein paar mutige Kämpfer wohl ohne grössere Schwierigkeiten bezwingen könnten. Trotzdem denke ich, eine Passage in den Westen ist hoch im Norden am ehesten möglich. Die Nordwinde sind die gefährlichsten von uns allen, aber im Norden sind die Berge zerklüftet und es gibt viele geheime Pfade über die Pässe, so dass man unmöglich alle überwachen kann. Ein einzelner Mann sollte es schaffen, sich dort ungesehen durchzuschleichen. Im Süden dagegen gibt es nur sehr wenige begehbare Wege, die ständig beobachtet werden. Ausserdem führen all diese Pfade nur auf eine Hochebene, wo die Ostwinde wachen."
Tiruial nickte.
„Als ich das erste Mal in den Osten kam, wäre ich dort beinahe getötet worden. Damals kehrte ich weit im Norden über einen verborgenen Pass in den Westen zurück, der wirklich viel sicherer war, als der Südpass, den ich auf dem Hinweg gewählt hatte."
Araym erstarrte. Sein Gesicht war plötzlich schneeweiss, als ob er einen Geist gesehen hätte. Dann atmete er tief durch und seine Stimme versagte beinahe, als er ein paar fast unverständliche Worte hervorstiess.
„Ihr! Ihr wart es, der... Deshalb die Ähnlichkeit... Ich hätte es wissen müssen!"
Tiruial biss sich in einer menschlich anmutenden, verlegenen Geste auf die Unterlippe, bevor er leise antwortete.
„Ich war mir nicht bewusst, dass wir uns schon begegnet sind, aber es stimmt, dass ich einst im Süden über das Gebirge kam und wohl mit den Südwinden ... zu tun hatte."
Araym sah aus, als würde er demnächst in Ohnmacht fallen. Sein Blick irrte abwechselnd zu Tiruial und den anderen am Tisch und fiel dann immer wieder auf seine verkrüppelten Hände zurück, die nutzlos auf dem Tisch ruhten.
Tiruial legte seine Hände in einer müden Bewegung an die Schläfen und schloss für einen Moment die Augen. Dann seufzte er leise.
„Ich erinnere mich. Ich ging mit meinem Pferd den Fluss entlang. Es war ein schmaler Felsstreifen am Rand einer Schlucht. Den Pfad hatte ich verlassen, weil ich schon mehrere Male angegriffen worden war. Mein Pferd und ich hatten schon einige Verletzungen davongetragen und wir waren erschöpft. Ich war wohl etwas gedankenverloren – deshalb bemerkte ich erst im allerletzten Moment, dass man auf uns schoss. Glücklicherweise verfehlte der Bogenschütze sein Ziel, was mir die Gelegenheit gab, zurück zu schiessen und mich dann in den Fluss fallen zu lassen. Mein Pferd wurde zwar verletzt, aber wir schafften es ins Tal, wo ich nach tagelanger Flucht meine Verfolger abhängen konnte. Ich war damals ziemlich am Ende. Trotz meines guten Gehörs und meiner scharfen Augen hatte ich während der ganzen Überquerung des Gebirges nie jemanden gehört oder gesehen, bis man mich angriff. Diese fünf Winde sind wahrhaftig gute Krieger."
„Nicht gut genug... Schliesslich habt Ihr es schon zweimal geschafft, an ihnen vorbei zu kommen."
Die Stimme Arayms klang bitter, aber Tiruial unterbrach ihn fast ärgerlich.
„Wie Ihr selbst gesagt habt, Araym, ist es für einen einzelnen Mann ungleich viel einfacher ungesehen voranzukommen, als für eine Handelskarawane. Ich bin ein Elb, und somit nicht mit einem Menschen zu vergleichen. Mein Gehör ist besser und meine Augen sind schärfer als die Euren, ich kann mich bewegen, ohne Spuren zu hinterlassen und wenn ich nicht gesehen werden will, werde ich normalerweise nicht gesehen. Wäre ich damals nicht verletzt und am Ende meiner Kräfte gewesen, so hättet ihr mich niemals entdeckt. Ausserdem war die Reise für mich beide Male äusserst gefährlich, und es ist mehr dem Glück als meinen Fähigkeiten zu verdanken, dass ich es überlebt habe. Dieses Mal wäre ich gestorben, wenn nicht Anarya rechtzeitig da gewesen wäre, um mir zu helfen."
Der Fürst hatte bisher geduldig zugehört, aber nun wandte er sich ernst an Araym.
„Nun, junger Mann, ich denke es ist nun Zeit für Eure Geschichte. Ich möchte gerne wissen, weshalb wir Euch hinter Kirgus Hütte in der Wüste gefunden haben. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass dies etwas mit Tiruial zu tun hat, nicht wahr?"
Araym schwieg lange, doch als niemand etwas sagte, begann er stockend zu sprechen.
„Ich war ein Südwind. Ich sah ihn aus den Bergen herabkommen und wusste, dass ich ihn töten musste."
Der junge Gardist starrte vor sich auf den Tisch und wagte nicht weiter zu sprechen. Er hatte Angst vor der Reaktion der anderen, aber nun war es gesagt und konnte nicht zurückgenommen werden. Tiruial beugte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht vor und fasste Araym unters Kinn, so dass dieser ihm in die Augen blicken musste.
„Ich weiss Bescheid, Araym, denn ich habe Euch gesehen. Ich sah die Reitergruppe, als ich auf dem schmalen Bergpfad herunterkam, und ich sah, dass einer von ihnen mich bemerkt hatte. Dann seid ihr allerdings weiter geritten und ich habe mich nicht darum gekümmert, ob einer der Reiter zurückkehrte. Der Sturm nahm mir die Sicht, so dass Ihr mich überraschen konntet. Ich wusste bereits, dass ihr es seid, der auf mich geschossen hat, schliesslich habt Ihr mir das selber gesagt, als wir beide in Kirgus Haus lagen. Araym, Ihr habt nur Eure Befehle befolgt. Ich hätte an Eurer Stelle dasselbe getan. Nun erzählt, wie es war, und ich verspreche Euch, dass ich keinerlei Rachegedanken hege."
Araym wich ärgerlich zurück und befreite sich mit einem Ruck aus dem Griff des Elben.
„Ich muss an einer anderen Stelle mit meiner Erklärung beginnen, damit Ihr mich verstehen könnt. Vor zehn Jahren war ich ein junger Bursche, der gerade erst mitgehen durfte, wenn die Krieger auszogen, die Pässe zu bewachen. Ich habe Euch damals entdeckt, aber Ihr entkamt unseren Pfeilen."
Araym hielt inne bis Tiruial zustimmend nickte.
„Bei uns gibt es ein Gesetz, das besagt, dass derjenige, der einen Reisenden entkommen lässt, geblendet wird."
Anarya zuckte zusammen, Tárion erbleichte, und selbst der Fürst und Marek schienen schockiert zu sein. Tiruial dagegen nickte erneut und forderte Araym mit einer einfachen Geste auf weiter zu sprechen.
„Nun, ich hatte Euch zwar entkommen lassen, aber ich hatte Euch rechtzeitig gesehen. Unser Gesetz besagt nur, dass derjenige, der den Reisenden nicht gesehen hat, geblendet wird, wenn ihm das die Flucht ermöglicht hat. Ich hatte Euch gesehen und auf Euch geschossen, aber meine Pfeile verfehlten ihr Ziel. Ich war ein schlechter Bogenschütze."
Tiruial nickte.
„Ihr wurdet bestraft."
Es war keine Frage, es war eine Feststellung, und Araym stritt es nicht ab. „Man blendete meine Gefährten, die Euch nicht gesehen hatten. Mir dagegen verbrannte man die Hände, damit ich nie mehr einen Pfeil abschiessen könne."
Ohne auf die Reaktion der anderen zu warten fuhr Araym fort.
„Ich wäre damals fast gestorben, aber dank meines Lehrmeisters hielt ich durch. Ich lernte mit meinen verkrüppelten Händen zu leben und sogar zu kämpfen. Es dauerte lange, aber schliesslich war ich wieder ein Krieger wie alle anderen auch."
„Nur mit anderen Waffen, nicht wahr?"
Der Fürst legte die Ledermanschetten auf den Tisch, die Araym getragen hatte, als sie ihn gefunden hatten.
Es war tatsächlich ein schwaches Lächeln, das über Arayms Gesicht huschte.
„Ich konnte keinen Pfeil mehr abschiessen, geschweige denn ein Schwert halten. Ajuur, mein Lehrmeister war es, der mir von den alten Kampfmethoden der Südwinde erzählte. Heute reiten die Südwinde offen in den Kampf, früher dagegen taten sie alles im Verborgenen, und wie Euer Gutsverwalter schon sagte, kamen und verschwanden sie wie Geister. Während wir heute hauptsächlich mit herkömmlichen Waffen kämpfen, waren die Südwinde früher Meister der Gifte. Und so lernte ich wieder mit dem Blasrohr umzugehen, wie die alten Südwinde."
Araym hielt kurz inne und fuhr dann mit leicht spöttischem Unterton fort.
„Es war übrigens Kirgu Tammari, die mir dabei geholfen hat, die alten Gifte der Südwinde wieder zu entdecken."
Zu seinem Erstaunen nickte der Fürst nur.
„Sie kannte alle Heilmittel der Natur. Verständlich, dass sie auch die Gifte kannte. Sie muss Euch gemocht haben, Araym, wenn sie ihr Wissen mit Euch geteilt hat."
Anarya dagegen fuhr wütend auf.
„Was soll das? Mir hat Kirgu alles über die Pflanzen und Tiere Amaronds erzählt, doch sie hat mich nichts über tödliche Gifte gelehrt. Wie kommt sie dazu, solch gefährliche Dinge einem Mörder zu verraten?"
Als er als Mörder bezeichnet wurde, kniff Araym seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sein Körper spannte sich, wie der einer Raubkatze vor dem Sprung. Der Fürst machte jedoch eine beschwichtigende Bewegung.
„Kirgu war eine weise Frau. Du, Anarya hattest das Wissen über Gifte nicht nötig. Was hättest du damit angefangen? Araym dagegen war ein Soldat. Er hat nicht anderes gelernt, als zu kämpfen. Kirgu hat ihm ihr Wissen mitgeteilt, damit er überleben konnte. Sie hat es wohl nicht gerne getan, aber sie tat es, um ihm zu helfen. Was hätte er ohne ihr Wissen tun sollen?"
Araym entspannte sich ein wenig.
„Sie hat es nicht gerne getan, aber sie wusste, dass ich keine andere Wahl hatte, als mit Gift zu kämpfen. Kirgu hatte mir das Leben gerettet, nachdem man meine Hände verstümmelt hatte. Ich weiss nicht, ob sie mich mochte, aber sie schätzte meinen Kampfgeist. Übrigens hat sie mir nicht viel von dem tödlichen Gift für die Blasrohre verraten. Dazu gab sie mir nur wenige Hinweise, wie ich mich daran gewöhnen könne, so dass ich selber nicht daran sterbe. Was Kirgu mir gezeigt hat, ist das Gift an meinen anderen Waffen."
„Andere Waffen?" fragte Tiruial neugierig. Der Gardist war ein interessanter Mensch, und Tiruial wollte nur zu gerne mehr über ihn erfahren.
„Ja, andere Waffen – Waffen, die es mir ermöglichen zu kämpfen, ohne meine Hände zu gebrauchen. Darf ich?"
Araym streckte die Hand nach einer der Ledermanschetten aus und wartete, bis der Fürst nickte. Dann zog er sie mit einer überraschend geschickten Bewegung über die rechte Hand und zurrte mit den Zähnen die Riemen fest. Marek und Tárion lauerten auf eine falsche Bewegung des jungen Mannes, aber Araym blieb ruhig. Langsam, mit erhobenen Händen stand er auf und entfernte sich ein paar Schritte vom Tisch. Dann machte er eine ruckartige Bewegung aus dem Handgelenk und ein schnappendes Geräusch ertönte. Aus den länglichen Taschen an der Oberseite des Armschoners schossen drei unterarmlange, blaugoldene Klingen hervor, die nun über Arayms zusammengekrümmte Hände hinausragten wie drei Krallen. Er fuhr damit ein paar Mal mit einem zischenden Geräusch durch die Luft und liess sie dann mit einem kräftigen Ruck wieder in ihre Hüllen zurückschnappen.
„Mit diesen Klingen verteidige ich mich im Nahkampf. Es war erst etwas gewöhnungsbedürftig, aber heute kann ich gegen jeden Schwertkämpfer bestehen, der mich angreift. Ausserdem sind die Klingen mit einem Gift versehen, das zwar nicht tötet, aber den Gegner verlangsamt oder sogar lähmt. Seine Wirkung lässt zwar nach kurzer Zeit wieder nach, aber es reicht, um mich den Kampf gewinnen zu lassen."
Mit diesen Worten setzte sich Araym wieder hin, löste die Riemen seines Armschoners und streifte ihn ab. Dann schob er ihn wieder dem Fürsten zu.
Dieser zögerte einen Moment, bevor er ihn entgegennahm.
„Ich werde Eure Waffen noch für einen Moment verwahren, Araym, so lange, bis ihr mit Eurer Erzählung am Ende angelangt seid. Bisher sehe ich aber nichts Falsches in Eurer Handlungsweise, da ihr nur Befehle befolgt habt. Falls sich daran nichts ändert, werde ich Euch gehen lassen, unter der Bedingung, dass Ihr von hier verschwindet und Euch nie mehr bei räuberischen Aktivitäten in meinem Fürstentum erwischen lasst. Die letzten Angriffe der Südwinde kann ich nämlich als nichts anderes bezeichnen, denn als Raubüberfälle. Mag sein, dass ihr früher nur die Berge bewacht habt, aber in letzter Zeit können die Händler kaum noch unbeschadet durch die Wüste reisen."
Arayms Gesichtszüge verhärteten sich.
„Das ist einer der Gründe, weshalb ich die Südwinde verlassen habe. Vor einiger Zeit gab es bei uns einen neuen Kommandanten. Früher taten wir Südwinde nur, was unsere Pflicht war: Wir bewachten die südlichen Übergänge über das Gondramgebirge. Der neue Kommandant nimmt es jedoch nicht so genau mit den uns zugeteilten Gebieten. Je länger je mehr verkommen die Südwinde zu einfachen Räubern. Es gibt viele unter uns, die damit nicht einverstanden sind, aber der Kommandant lässt keine Unruhe unter seinen Soldaten aufkommen und bestraft Widerspruch gnadenlos.
Unser alter Kommandant hielt sich an die alten, strengen Gesetze, aber er blieb dabei immer gerecht und wir folgten ihm aus Loyalität und weil wir ihn verehrten. Der Neue dagegen hält die Südwinde in Angst, und nur deshalb gehorchen sie ihm.
Als ich Euch, Tiruial, den Bergpfad hinab kommen sah, hatte ich die Wahl. Ein Sandsturm zog auf, und die Aussicht, dass Ihr ihn überleben würdet, war gering. Einen Moment lang überlegte ich mir, Euch einfach entwischen zu lassen, aber falls man Euch erwischt hätte, wäre unsere ganze Einheit schwer bestraft worden. Aus demselben Grund wollte ich die anderen nicht auf Euch aufmerksam machen. Wärt Ihr uns entkommen, so hätte das schrecklich Folgen für uns gehabt. Da ich mich bei Südwinden sowieso nicht mehr wohl fühlte, beschloss ich, Euch im Alleingang zu stellen. Ich weiss nicht, ob ich zurückgegangen wäre, wenn ich Euch getötet hätte, aber als Ihr geflohen seid, wusste ich, dass man mich töten würde, weil ich die Einheit ohne Erlaubnis verlassen und einen Reisenden entkommen lassen hatte.
Es war mehr Zufall als etwas anderes, dass ich zu Kirgu Tammaris Hütte kam. Ich beschloss, sie um Hilfe zu bitten, um dann mit besserer Ausrüstung nach Farad zu reiten. Dort hätte ich mir bestimmt als Söldner meinen Lebensunterhalt verdienen können.
Bei Kirgus Hütte sah ich Euch liegen. Ihr wart zwar noch am Leben, aber ich glaubte, Ihr hättet keine Aussicht, die Verwundung zu überstehen. Also nahm ich Euer Gepäck an mich und machte mich damit auf den Weg in die Wüste. Was dann genau geschah, weiss ich nicht."
Tiruial wartete, bis Araym fertig erzählt hatte, dann sah er den jungen Mann mit ernstem Blick an.
„Zweimal habt ihr versucht mich zu töten, Araym. Beide Male wart ihr erfolglos, was keine Schande ist, da nur wenige Menschen sich mit einem ausgebildeten Elbenkrieger, wie ich es einer bin, messen können. Ich bin zwar nicht gegen Fernkampfangriffe gefeit, aber wir Elben sind Giften gegenüber widerstandsfähiger als Menschen. Trotzdem wäre ich wohl gestorben, wenn ihr mir nicht geholfen hättet."
Araym zuckte zusammen.
„Wie. . . was meint Ihr?"
Tiruial lächelte.
„Als ich halbtot an der Flanke meines Pferdes hing, nahm ich in meinen Fieberträumen eine Gestalt wahr, die sich über mich beugte. Als es mir besser ging, dachte ich erst, es sei Anarya gewesen, aber das ist nicht richtig, oder? Ihr wart es, nicht wahr Araym? Ihr habt mir ein Mittel gegen die Schmerzen gegeben. Als wir dann beide in Kirgus Hütte lagen, hättet Ihr mich erneut töten können, aber stattdessen habt Ihr mir Wasser gegeben. Ich kann Euch gegenüber keinen Hass empfinden, Araym, nicht einmal Wut. Ich habe jedoch eine Bitte an Euch. Noch einmal schaffe ich die Überquerung des Gondramgebirges nicht alleine. Ich bin schwach, und die Zeit drängt. Begleitet mich in den Westen. Zeigt mir einen sicheren Pfad durch die Berge, unbewacht von der Garde. Ihr wollt Söldner werden? Nun, das könnt Ihr auch auf der anderen Seite des Gebirges. Es droht ein Krieg, und wir werden bald froh genug um jeden Mann sein, der eine Waffe zu führen versteht."
Araym schien völlig verwirrt zu sein. Es dauerte lange, bis er sprach, und alle Blicke waren gespannt auf ihn gerichtet, als er Tiruial antwortete.
„Ja, ich habe damals das Gift neutralisiert, als ich Euch vor Kirgus Hütte fand. Ich dachte, Ihr würdet so oder so sterben, deshalb habe ich Euch etwas gegeben, um die Wirkung des Giftes aufzuhalten. Hätte ich allerdings geahnt, dass ihr überleben würdet, so weiss ich nicht, ob ich gleich gehandelt hätte. Ich wollte Euch nur zu einem schmerzloseren Tod verhelfen. Ja, ich habe Euch geholfen, aber selbst in Kirgus Hütte habe ich noch versucht, Euch zu töten. Wie könnt ihr mir vertrauen? Mir, einem Mann, der nie etwas anderes getan hat, als harmlose Reisende zu überfallen? Wie wollt Ihr wissen, dass ich Euch nicht auf schnellstem Weg zu den Südwinden führen werde, damit sie sich wieder bei sich aufnehmen?"
Tiruial schüttelte den Kopf.
„Ihr seid kein Bandit, Ihr seid ein Soldat. Ihr habt selber gesagt, dass Euch die Methoden des neuen Kommandanten nicht gefallen. Nein, ich glaube nicht, dass Ihr mich verraten würdet. In den Tagen, die wir jetzt hier sind, habe ich mir ein Bild von Euch gemacht, das ganz und gar nicht dem eines Verräters entspricht. Es kann sein, dass ich mich täusche, aber ich werde mein Angebot oder meine Bitte nicht zurückziehen. Werdet Ihr mich begleiten?"
Tárion sprang auf.
„Ich werde Euch begleiten, Tiruial. Mein Dienst in der Armee der Königin ist für den Moment beendet. Ich bin freigestellt, bis es zu einem Krieg in Amarond kommt, was hoffentlich noch lange nicht der Fall sein wird. Lasst mich Euch begleiten und den Westen sehen. Lasst mich dort kämpfen und verhindern, dass Euer Krieg überhaupt erst nach Amarond kommt!"
Tiruial lächelte Tárion freundlich an.
„Euer Angebot ehrt mich, Tárion von Fenring. Ich wäre stolz, Euch an meiner Seite zu haben, aber das ändert nichts daran, dass ich auch Arayms Hilfe bedarf. Ihr kennt ebenso wenig einen Weg über die Berge wie ich. Ausserdem kann ich nicht entscheiden, ob Ihr mich begleiten dürft. Das liegt allein in der Hand Eures Vaters."
Der Fürst blickte seinen Sohn lange Zeit an, bevor er antwortete.
„Der Krieg im Westen bedroht auch unser Land. Früher oder später wird dieser Mordur in den Osten kommen, wenn er tatsächlich nach diesem Schwan sucht. Ich werde Euch helfen, Tiruial, denn Eure Aufgabe erscheint mir wichtig. Wenn Tárion es so wünscht, so darf er Euch begleiten. Allerdings wird er nicht alleine gehen. Ich werde Euch ein paar der Soldaten mitgeben, die meinem Fürstentum dienen. In diesem Fall wird es jedoch umso wichtiger sein, dass Ihr unbemerkt über die Berge kommt, denn einer grösseren Gruppe wird es schwerer fallen, sich zu verbergen. Es wird allerdings eine Weile dauern, alles zu planen, und ich möchte auch nicht, dass sich mein Sohn überhastet in dieses Abenteuer stürzt. Ich werde Euch erst ziehen lassen, wenn ich sicher bin, dass Ihr auf sicherem Weg über das Gebirge kommt."
Araym unterbrach den Fürsten mit einer brüsken Handbewegung.
„Ich habe verstanden. Vieles was heute besprochen wurde ist mir unbekannt, aber ich sehe ein, dass es wichtig ist, dieses Schmuckstück in Sicherheit zu bringen. Wenn es wirklich zu einem Krieg gegen diesen Mordur kommen sollte, so kann es nur im Interesse der fünf Winde sein, zu verhindern, dass dieser Krieg zu uns in den Osten kommt. Ich werde Euch über die südlichen Pässe führen, so gut es mir möglich ist. Ich kann nicht versprechen, dass wir unbemerkt bleiben, aber ich werde mein Bestes geben, dass wir an den Südwinden vorbeikommen. Was allerdings die anderen Winde betrifft, die das Gebirge bewachen, so weiss ich auch nicht mehr über sie als ihr."
Tiruial nickte ihm zu.
„Das genügt vollkommen, Araym. Sind wir erst auf der Hochebene angelangt, kenne ich einen Weg, auf dem ich bisher noch nie angegriffen wurde. Selbst mit mehreren Begleitern sollte es möglich sein, dort ungesehen durchzukommen.
Wir müssen so schnell wie möglich aufbrechen, denn mit jedem Tag wächst Mordurs Heer, und wir wissen nicht, wann er sich auf den Weg in den Osten machen wird. Bis wann können Eure Männer bereit sein, Fürst Bradwen?"
Der Fürst überlegte, aber bevor er antworten konnte, bat Marek darum, sprechen zu dürfen.
„Mein Fürst, ich bin nicht mehr der Jüngste, aber ich kann es immer noch mit manchem jungen Heisssporn aufnehmen. Ich bitte Euch, die Männer anführen zu dürfen, die ihr Tárion mit auf den Weg gebt. Ihr habt genug gute Männer, die meinen Posten als Gutsverwalter übernehmen können, aber kaum einen Soldaten, der wie ich bereits einen Krieg miterlebt hat."
Nun ergriff auch Anarya das Wort.
„Vater, Tiruial ist verletzt, und er ist noch weit davon entfernt, seine Kräfte wiedererlangt zu haben. Ich bin die Hüterin des Alquaros und muss ihn begleiten!"
Sie liess niemanden zu Wort kommen, sondern fuhr energisch fort.
„Was ist, wenn Tiruial etwas zustösst? Kein Mensch aus dem Osten kennst die Sprachen der Völker im Westen; keiner ausser mir. Wer erklärt den Elben, wieso wir das Alquaros mit uns tragen, wenn Tiruial dazu nicht in der Lage sein sollte? Ich werde auf dieser Reise keine Last sein, Vater. Ich kann reiten, sogar auf Pferden, ich kann mit dem Bogen umgehen und habe von Kirgu auch vieles über den elbischen Nahkampf gelernt."
Zu ihrem Erstaunen nickte Araym und unterbrach die junge Frau.
„Es gibt noch etwas, das ich sagen muss. Es ist mir sehr unangenehm und es quält mich seit Tagen, aber bisher fand ich einfach nicht den Mut, darüber zu reden. Als ich vorhin sagte, ich hätte Tiruial das Gegenmittel für das Gift nicht gegeben, wenn ich ihn nicht für einen Sterbenden gehalten hätte, war das nicht, weil ich ihn zu diesem Zeitpunkt immer noch tot sehen wollte. Ich war halb verdurstet und wusste nicht, was ich wollte, aber Tiruials Tod war für mich plötzlich nicht mehr so wichtig und ich wollte ihn nicht leiden lassen. Hätte ich gewusst, dass er überleben kann, so hätte ich gezögert, denn ich habe Gift mit Gift bekämpft, um seinen Schmerz zu lindern."
Tiruial nickte.
„Ich hatte es vermutet. Ihr seid mir in den letzten Tagen immer ausgewichen, sonst hätte ich schon längst gefragt."
Araym schlug die Augen nieder.
„Die Kristalle, die ich mit mir trage, können in Verbindung mit Silber töten und geben in Wasser aufgelöst ein Gegenmittel für das Gift ab. In Tiruials Fall hatte ich jedoch kein kochendes Wasser, um den Heiltrank zuzubereiten, und so habe ich ihm einen ganzen Kristall gegeben. Die Vergiftung wurde aufgehalten, aber der Kristall hat auch Schaden angerichtet."
Er blickte den Elben verlegen an, aber Tiruial verzog sein Gesicht zu einem Lächeln.
„Es hat mich von Anfang an verwirrt, dass sich mein Hals anfühlte, als ob ich Goreksäure getrunken hätte. Schliesslich hatte ich das Gift ja nicht zu mir genommen, sondern es durch den Pfeil abbekommen."
Araym nickte.
„Der Kristall hat Euch das Leben gerettet, indem er die Ausbreitung des Giftes aufgehalten hat. Bei seiner Auflösung hat er Euch jedoch schwere Verletzungen im Rachen und an den Atemwegen zugefügt. Ich weiss nicht, wie schlimm Eure Atmung beeinträchtigt wurde, aber ich fürchte, zumindest Eure Stimme ist für immer verloren."
Tiruial schien nicht allzu erschrocken zu sein.
„Ich hatte so etwas schon geahnt, aber Ihr müsst Euch keine Sorgen machen, Araym. Wir Elben sind zäh. Selbst wenn ich hundert oder zweihundert Jahre lang nicht lauter werde sprechen können als jetzt, so wird meine Stimme zurückkehren und der Schmerz wird verschwinden. Ich bin ein Elb und lebe für die Ewigkeit – was macht es da aus, wenn ich ein paar hundert Jahre warten muss, bis ich wieder gesund bin?
Allerdings muss ich zugeben, dass Anarya Recht hat. Bis wir im Westen sind, werde ich wohl kaum in der Verfassung sein, lange Verhandlungen zu führen, geschweige denn, einem Heer Befehle zu geben. Es wäre also tatsächlich von Nutzen, wenn jemand zumindest die Grundzüge der wichtigsten westlichen Sprachen kennen würde. Es widerstrebt mir jedoch, Anarya mit auf eine so gefährliche Fahrt zu nehmen. Tárion lernt gern und schnell, wie ich schon wiederholt feststellen konnte. Wenn er einverstanden ist, werde ich ihm so viel über den Westen beibringen, wie es mir in der kurzen Zeit bis zu unserem Aufbruch möglich ist."
Anarya schüttelte den Kopf.
„Tárion lernt schnell, das ist wahr, aber ich habe zehn Jahre lang die Elben studiert. Es ist unmöglich, dass er in ein paar Tagen all das lernt, wofür ich Jahre gebraucht habe. Ausserdem habe ich von Kirgu viel über die Heilkunde gelernt. Ich könnte auf dieser Reise eine grosse Hilfe sein."
Sie verhandelten noch lange, bis offensichtlich wurde, dass Tiruial kaum mehr aufrecht sitzen konnte. Schliesslich entschied der Fürst, dass Anarya und Tiruial sich eine Woche lang damit beschäftigen sollten, Tárion und Araym alles Nötige über den Westen beizubringen. Marek würde sich in der Zwischenzeit darum kümmern, eine kleine Gruppe von Soldaten zusammenzustellen, die sie auf der Reise in den Westen begleiten würden. Anarya dagegen würde die Gruppe auf keinen Fall begleiten. Niemand wollte es wagen, die junge Frau mitzunehmen, und der Fürst wollte sie sicher in der Hauptstadt wissen, falls es tatsächlich Krieg geben sollte.
Noch am selben Abend ritt der Fürst mit seinen Kindern zurück ins Dorf. Marek und Araym kamen am nächsten Tag mit Tiruial nach, der sich nur mit Mühe auf seinem Pferd halten konnte.
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Eine Woche später war die Gruppe reisefertig. Alle Leute aus der Umgebung hatten sich versammelt, um dem seltsamen Zug zuzusehen, der sich gemächlich auf den Weg nach Süden machte. An der Spitze ritt dieser geheimnisvolle Fremde auf einem weissen Pferd, gefolgt vom Fürstensohn, der in voller Rüstung auf seinem prächtigen Kamel sass und einen Umhang mit dem Wappen des Hauses der Fenring trug. Neben ihm sass ein weiterer unbekannter Mann, der die helle Lederrüstung und die blauen Schleier eines Gardisten trug, auf einem Kamel, das demjenigen des Fürstensohnes in nichts nachstand. Schliesslich folgte der Gutsverwalter Marek, der seine alte Rüstung angelegt hatte.
Hinter ihm ritten zehn Soldaten des Fürsten. Es waren ausnahmslos junge, unverheiratete Männer, die sich freiwillig zu dieser Reise gemeldet hatten. Niemand wusste, wohin die Reise eigentlich ging, aber der Fürst hatte betont, dass es lange dauern könne, bis man zurückkehre, und dass der Gruppe grosse Gefahren drohten. Langsam ritten die Männer durch Dorf und nahmen lächelnd die Blütenzweige entgegen, die ihnen die Frauen am Strassenrand zuwarfen. Tiruial lächelte, denn dies war ein Brauch den er auch aus dem Westen kannte, wo sowohl Menschen wie Elben die Soldaten, die in den Krieg zogen, mit Blumen schmückten und Blüten vor ihnen auf den Weg streuten.
Als sie den Dorfausgang erreichten, vertrat ihnen der Fürst den Weg. Er sass auf seinem weissen Kamelhengst und trug dieselbe Rüstung wie sein Sohn. Gemäss dem Brauch wollte er sich hier von seinen Leuten verabschieden. Neben ihm sass Anarya auf dem roten Pferd, was allgemeines Erstaunen auslöste. Anstelle eines Plattenpanzers trug sie nur ein leichtes Lederwams, das mit Metallringen beschlagen war. Ihr Umhang war hellgrün und ohne jede Verzierung. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich die junge Frau von ihrem Bruder verabschieden wollte, aber die meisten Leute hatten doch bemerkt, dass die Fürstentochter Reisekleidung trug und ihr Pferd mit Packtaschen beladen war. Der Fürst sah nicht gerade glücklich aus, aber Anarya hatte einen triumphierenden Gesichtsausdruck aufgesetzt.
Als Tiruial, Araym und Tárion bei ihnen angekommen waren, breitete der Fürst die Arme aus, legte dann vor der Brust die Handflächen aufeinander und neigte den Kopf, was die klassische Verabschiedungsgeste Amaronds war. Tiruial, Araym und Tárion erwiderten den Gruss, doch Anarya blieb starr auf ihrer Stute sitzen. Erst als der Fürst ihr einen wütenden Blick zuwarf und sein Kamel zur Seite nahm, liess sie ihr Pferd vortreten. Mit einem sanften Lächeln legte sie die rechte Hand auf ihr Herz und verbeugte sich leicht.
„Namárië. Anar caluva tiëlyanna!"
Tárion starrte seine Schwester sprachlos an, aber Tiruial lächelte breit, als er die List der jungen Frau erkannt hatte. Er erwiderte ihre Verbeugung auf dieselbe Weise.
„Elen síla lúmenn' omentiëlvo."
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann wandte sich Anarya an ihren Bruder.
„Dies ist die traditionelle Verabschiedung der Elben. Solltest du jemals nach Imladris kommen, und dort einem der grossen Elbenherren begegnen, so wird er dich wohl mit den Worten begrüssen, mit denen Tiruial mich gerade angesprochen hat. Was wirst du tun? Wirst du ihn genauso anstarren, wie du es gerade eben mit mir getan hast? Glaubst du ernsthaft, dass man dich daraufhin noch ernst nehmen wird?"
Tárion hatte seine Schwester noch immer nicht durchschaut. Araym dagegen grinste noch breiter als Tiruial. Er mochte die junge Frau und bewunderte ihren Einfallsreichtum.
„Du hättest es mir beibringen sollen, Anarya."
Tárions Stimme klang vorwurfsvoll, aber das Mädchen schüttelte nur den Kopf.
„Ich habe dir bewusst keine elbischen Grussformeln beigebracht, weil ich das hier bereits geplant hatte. Aber selbst wenn du mich vorhin verstanden hättest, hätte das nichts daran geändert, dass ich euch begleiten muss. Was weisst du von der elbischen Höflichkeit? Hast du eine Ahnung, wie man sich einem dreitausend Jahre alten Elbenfürsten gegenüber verhält? Wie man eine unverheiratete Elbin begrüsst? Welche Tischsitten bei den Elben herrschen? Wie man sich kleidet, wenn man zu einem Elbenrat gerufen wird?"
Bei jeder Frage war Tárion ein bisschen blasser geworden, während man dem Fürsten ansah, dass er vor Wut kochte. Anarya fuhr fort.
„Ich habe Vater von meinen Zweifeln erzählt. Er hat mir erlaubt, dich zu testen. Nun, Vater, ich denke es ist offensichtlich, dass Tiruial meine Hilfe braucht. Tárion wird uns sicher eine Hilfe sein, aber nur ich kann Tiruial bei den kommenden Verhandlungen über Krieg und Frieden eine Hilfe sein."
Der Fürst blickte den Elben an, und Tiruial nickte langsam.
„Ich muss zugeben, dass mich Eure Tochter überrascht hat, Fürst. Ich habe Tárion alles beigebracht, was in der kurzen Zeit möglich war, aber es ist einfach zu wenig. Anarya hat Recht. Euer Sohn wird ein guter Reisegefährte sein, aber im Gegensatz zu ihr wird er mich in Imladris nicht unterstützen können."
Fürst Bradwen schnaubte ärgerlich.
„Du hast gewonnen, Tochter. Ich hätte es wissen sollen, als du es mir heute Morgen gesagt hast, aber ich hielt Tárion für geschickt genug, nicht in die Falle zu tappen. Nun gut, geh mit ihnen. Aber pass auf dich auf, mein Kind. Ich hätte dich lieber in der Hauptstadt am Hof des Königs gesehen, aber wenn dies dein Wille ist, so will ich dich nicht zwingen."
Anarya sprang vom Pferd und lief zu ihrem Vater hin. Er beugte sich zu ihr herunter und liess sich umarmen, aber dann richtete er sich auf seinem Kamel auf und hob die Hand zu einem letzten Gruss.
„Lebt Wohl! Und möge die Sonne auf Eurem Weg scheinen!"
Nur Anarya und Tiruial wussten, dass dies die Worte des elbischen Grusses waren, den Anarya kurz zuvor ausgesprochen hatte.
